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Umweltflüchtlinge: Fakt oder Fabel?

Der Begriff „Klimaflüchtling“ ist in Forschung und Rechtsprechung umstritten.

 

Kenternde Flüchtlingsboote und überfüllte Auffanglager prägen unser Bild von Flüchtlingen aus den ärmeren Regionen der Erde. Hinzu kommen Bilder von verdorrten Landschaften oder überschwemmten Gebieten – Klimawandel und Migration, da muss es eine enge Verbindung geben. Auch existieren Prognosen über Millionen von Umweltflüchtlingen in den nächsten Jahrzehnten. Doch ist der Zusammenhang zwischen Klimawandel und Migration tatsächlich so monokausal? Die Geografie-Professorin Felicitas Hillmann versucht diese Frage mit ihren Forschungen zu beantworten.

Im November 2013 steht fest: Ioane Teitiota darf nicht in Neuseeland bleiben. Weil der steigende Meeresspiegel seine Heimat, den Inselstaat Kiribati, bedroht, hatte der 37-Jährige gegen seine Abschiebung vor einem neuseeländischen Gericht geklagt. Einige Regionen von Kiribati seien bereits unbewohnbar, argumentieren die Anwälte des Mannes. Ernten würden zerstört und das Trinkwasser verseucht. Da sauberes Trinkwasser aber ein Menschenrecht sei, müsse Teitiota Anspruch auf den Flüchtlingsstatus haben. Wären die Richter des obersten Zivil- und Strafgerichts Neuseelands in Auckland dieser Argumentation gefolgt, Ioane Teitiota wäre nun der weltweit erste anerkannte Klimaflüchtling. Die Richter sahen jedoch keinen Anlass, den Mann aus Kiribati wie einen Flüchtling zu behandeln: Nur wer auf Grund von Rasse, Religion, Nationalität oder Überzeugung verfolgt würde, für den gelte die UN-Flüchtlingskonvention. „Jemand, der ein besseres Leben sucht, indem er den empfundenen Folgen des Klimawandels entflieht, ist keine Person, auf die die Konvention zutrifft“, heißt es im Urteil.

Das internationale Recht, das die Richter in Neuseeland anwandten, kennt keine Klimaflüchtlinge – der Begriff kombiniert also zwei Dinge, die bislang nicht zusammen gehören. Und auch wissenschaftlich ist der Begriff umstritten, impliziert er doch, dass Menschen allein aufgrund klima- und umweltbedingter Veränderungen ihre Heimat verlassen. Doch sind die klimatischen Veränderungen wirklich die einzige Begründung für die Migration? Ab welchem Grad der Umweltveränderungen kommt es zu Migrationen? Und spielen noch weitere Faktoren eine Rolle?

Parallele Welten in der Migrationsforschung

Für die überwiegend naturwissenschaftlich argumentierenden Klimaforscher ist die Sache eindeutig: Sie schließen von ihren Ergebnissen auf mehrere hundert Millionen Umweltflüchtlinge. Auch viele Nichtregierungsorganisationen (NGOs) warnen vor solchen „Flüchtlingsströmen“. Sie sind mit zahlreichen Hilfseinsätzen in vom Klimawandel stark betroffenen Regionen vor Ort und werden dort insbesondere nach Katastrophen wie Überflutungen oder Wirbelstürmen Zeuge von Migrationsbestrebungen. Dennoch: Für Migrationsforscher ist ein kausaler Zusammenhang zwischen den Folgen des Klimawandels und dem Migrationsverhalten von Menschen in betroffenen Gebieten nicht so einfach nachweisbar.

Von „parallelen Welten“ spricht deshalb Professorin Felicitas Hillmann vom Geographischen Institut der Universität zu Köln; Klimaforscher und insbesondere die vor Ort tätigen NGOs haben eine ganz andere Sicht auf die Zusammenhänge zwischen Klimawandel und Migration als sozialgeografische Migrationsforscher. Beide Welten waren Anfang Juli auch auf einer Konferenz vertreten, die von Hillmann organisiert wurde. Unter dem Titel „Parallel worlds – Environmental Change, Regional Adaptation and the Role of Migration“ diskutierten sowohl Vertreter der NGOs als auch Wissenschaftler aus Deutschland, den Niederlanden, Ghana, Bangladesch und den USA ihre Sichtweisen.

Migration in die falsche Richtung

Eigentlich müssten die NGOs die Situationen in vom Klimawandel stark betroffenen Gebieten sehr gut einschätzen können – sie helfen nicht nur mit Nahrungsmitteln, technischem Support und gesundheitlicher Versorgung, sondern organisieren auch Umsiedlungsprogramme. „Wir beobachten aber gerade nach Umweltkatastrophen, wenn die NGOs vor Ort sind, ein interessantes Phänomen“, sagt Hillmann. „Die NGOs sorgen unfreiwillig für Migrationsprozesse hinein ins Katastrophengebiet. Denn auch die nicht unmittelbar von der Katastrophe betroffenen Menschen wollen von den Hilfsgütern profitieren. Wir als Migrationsforscher müssen also ganz genau hinschauen, über was wir eigentlich sprechen, was wir da beobachten.“

Hillmann spricht damit bereits das Grundproblem der Migrationsforschung an: Die auslösenden Faktoren für Migration sind nicht immer klar zu benennen. „Migration ist zunächst ein individuelles, biografisches Projekt. Sie findet nicht in einem abstrakten Raum statt, sondern ist an konkrete zeitliche und regionale Bedingungen gebunden“, erklärt Hillmann. Diese regionalen Bedingungen können ökonomischer, sozialer, politischer, religiöser oder eben ökologischer Natur sein. So können die einzelnen Gründe zwar kategorisiert werden – welche Faktoren aber letztlich den Entschluss eines Einzelnen zur Migration ausmachen, ist damit noch nicht geklärt. „Wir nehmen an, dass sich in der Praxis eine Vielfalt an verschiedenen Antriebsfaktoren, auch drivers genannt, miteinander verbinden und wir es mit einem Mix an Gründen zu tun haben“, erläutert die Geografin.

Migration bleibt oft unsichtbar Definiert man die Kleinbäuerin, die wegen des erodierten Bodens und daraus folgenden Ernterückgängen ihr Zuhause verlässt, als Umweltmigrantin? Oder wegen fehlender alternativer Beschäftigungsmöglichkeiten als Wirtschaftsmigrantin? „Die Unterscheidung zwischen freiwilliger und erzwungener Migration ist ab einem gewissen Punkt willkürlich“, so Professorin Hillmann. Sie spricht deshalb auch nicht von Klimaflüchtlingen, sondern vorsichtiger von „umwelt-induzierter Migration“.

Denn was ein „Flüchtling“ ist, wird durch die Genfer Flüchtlingskonvention festgelegt und damit gehen rechtliche Ansprüche einher. Und sie weist auf ein weiteres Problem hin: Die meisten durch die Umweltveränderungen (mit) ausgelösten Migrationen finden als Binnenwanderungen statt und verlaufen nicht über nationalstaatliche Grenzen hinweg. Damit bleibt der größte Teil der Wanderungen für die internationalen Statistiken unsichtbar. Doch auch wenn Forscher binnenmigrantische Prozesse in ihre Untersuchungen einbeziehen, so bleibt doch offen, wie viele dieser Bewegungen tatsächlich auf klimatische Veränderungen zurückzuführen sind und welche Wanderschaften bereits seit Jahrhunderten traditionell existieren, etwa in Form von mobiler Tierhaltung.

Es ist also nicht so einfach, die Rolle des Klimawandels für gewisse Migrationsbewegungen auszumachen. „Lineare Berechnungen im Sinne von ‚ein Meter Meeresspiegelanstieg ist gleich x Migranten’, ist nicht möglich“, sagt Hillmann, „auch wenn sich die großen Versicherungsunternehmen genau solche simplen Kausalitäten wünschen, um die absehbaren Umweltveränderungen in voraussichtliche Kosten umzurechnen.“ Doch welche Umweltveränderungen sind hier eigentlich gemeint? Und wen treffen sie besonders? Im aktuellen Bericht des Weltklimarates wird der Klimawandel vor allem auf anthropogene, also menschengemachte, Ursachen zurückgeführt.

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts finden im gesamten Klimasystem vielfältige Veränderungen statt, die so in den zurückliegenden Jahrtausenden noch nicht aufgetreten sind: Die Temperatur der unteren Atmosphäre steigt, die Ozeane erwärmen sich, Gletscher tauen, Permafrostböden werden wärmer, Eisschilde verlieren an Masse, der Meeresspiegel steigt weiter an. Dagegen haben natürliche Faktoren wie Schwankungen der Sonnenaktivität oder Vulkanausbrüche auf die langfristige Erwärmung nur einen geringfügigen Einfluss. „Insgesamt sind von 1750 bis 2011 durch menschliche Aktivitäten, hauptsächlich durch den Einsatz fossiler Brennstoffe und Landnutzungsänderungen, CO2-Mengen in Höhe von 545 Gigatonnen Kohlenstoff freigesetzt worden“, heißt es im Bericht des Weltklimarates von 2013. Diese gewaltige Menge ist für den menschengemachten Treibhauseffekt verantwortlich.

Globaler Wandel, regionale und lokale Auswirkungen

Das Klima wandelt sich zwar global – dennoch sind einige Regionen der Erde weitaus stärker betroffen als andere. Diese Regionen, in denen sich die verschiedenen Risiken kumulieren, nennen Experten ‚Hotspots‘. Gefährdet sind vor allem Küstengebiete und Megadeltas, Landschaften entlang von Flüssen oder dürreanfällige Zonen. Flussdeltagebiete zum Beispiel sind nicht nur von dem Meeresspiegelanstieg sowie Überschwemmungen direkt betroffen, als indirekte Folge sind Wasserressourcen und Böden auch der Versalzung ausgesetzt, je mehr Meerwasser in ein Flussdelta eindringt. Darunter leidet dann die Landwirtschaft, etwa im Flussbecken des Nils, wo ein Großteil des Getreides 35 für Afrika produziert wird. Die genannten Hotspots machen deutlich: Entwicklungsund Schwellenländer sind besonders von Klimawandelprozessen betroffen – gleichzeitig haben sie die geringsten Anpassungskapazitäten.

Desertifikation, Wasserknappheit, Bodenversalzung und Abholzung: All diese Folgen von Klimawandel und Umweltzerstörung können für die Menschen in den betroffenen Regionen Gründe für Migration sein. Allerdings „ist der Klimawandel eben kein alleiniger Auslöser für Migrationsprozesse, sondern er verstärkt deren Multikausalität, wenn schon Umweltveränderungen und -konflikte vorliegen“, bilanziert Hillmann. „Deshalb betrachten wir längst nicht mehr allein die Faktoren, die Migration auslösen. Sondern wir untersuchen auch die sozialen Netzwerke von Migranten und die Migrationsmythen, also Geschichten, die erzählt werden von einem besseren Leben.“ Die wenigsten Migrationsvorhaben werden schließlich allein geplant, sondern die Migrationswilligen kontaktieren eine Reihe von weiteren Personen und Institutionen. „Wir sprechen deshalb von Migrant Industries, also den Migrationsprozess flankierende informelle und formelle Dienstleistungen. Diese Industrien verstetigen und verselbstständigen Migrationsbewegungen“, erklärt Hillmann.

Man könne als Migrationswissenschaftlerin kollektive Muster, bestimmte Pfade im Raum und biografische Übereinstimmungen identifizieren; dazu ließen sich auch genderspezifische Unterschiede feststellen, etwa wenn es um das Thema Rücküberweisungen geht. „Migrationen verlaufen insgesamt oft entlang bestimmter Korridore, sogenannten trajectories. Das sind kollektive soziale und räumliche Migrationsmuster, die in regionale und globale Regime eingebettet sind“, so Hillmann. In Ghana und Indonesien wird sie demnächst genau solche trajectories untersuchen und analysieren, eine wie große Rolle die Umweltveränderungen in den persönlichen Migrationsentscheidungen der Menschen spielen.

Und Ioane Teitiota, der beinahe erste anerkannte Klimaflüchtling? Seine Heimat Kiribati, die sich über eine Vielzahl an Inseln im Pazifik erstreckt, ist tatsächlich erheblich vom Anstieg des Meeresspiegels betroffen. Nur 810 Quadratkilometer Land ragen insgesamt aus dem Wasser, und dies selten mehr als zwei Meter. Der höchste Punkt von Tarawa, der Hauptinsel, liegt gerade mal drei Meter über dem Meer. Die Regierung des Inselstaates bereitet sich bereits auf den „Untergang“ seiner Landfläche vor und treibt Auswanderungsprogramme nach Australien, Neuseeland oder die benachbarten Fidschis voran. Vielleicht darf Teitiota also bald offiziell migrieren – und findet dauerhaft eine neue Heimat.

Info

Nach Redaktionsschluss wurde bekannt,
dass bei einem Antrag auf Bleiberecht in
Neuseeland zum ersten Mal Naturkatastrophen
als Folge des Klimawandels berücksichtigt
wurden. Das Einwanderungstribunal
Neuseelands urteilte zu Gunsten einer Familie
aus dem Inselstaat Tuvalu. Sie darf nun in
Neuseeland bleiben