Fremde Pflanzen
Woher Pflanzen kommen und wie sie unsere Umwelt verändern
Seit jeher migrieren Pflanzen von einem Ort zum anderen. Lange waren sie dabei auf ihre natürlichen Ausbreitungsmechanismen angewiesen. Als aus Jägern und Sammlern in der Steinzeit Bauern wurden, brachten sie auch Samen aus weit entfernten Regionen mit. Doch erst mit dem weltweiten Handel und Verkehr der Frühen Neuzeit kam eine ungeahnte Einwanderungswelle der Pflanzen ins Rollen.
Sie gehören nicht hierher. Sie verdrängen die, die schon vorher da waren. Sie verbreiten sich in der Stadt und auf dem Land. Viele haben ihren Platz auf Brachflächen und entlang der Bahngleise gefunden. Einige klettern sogar Häuserwände hoch. Das Schlimmste aber ist: Sind sie erst einmal hier, wird man sie kaum mehr los. Die Rede ist hier von Pflanzen. Genauer gesagt von Pflanzen, die aus aller Welt in die hiesige Flora gelangt sind. Manche brachten unsere Vorfahren als Nutz- und Zierpflanzen mit, andere kamen bereits vor Jahrtausenden aufgrund veränderter klimatischer Bedingungen.
Der Kölner Biologe Dr. Karl-Heinz Linne von Berg beschäftigt sich schon lange mit den fremden Pflanzen. Noch heute stößt er ab und zu auf Überraschungen, denn das Ursprungsgebiet der Gewächse lässt sich häufig kaum mehr rekonstruieren: „Einige Pflanzen, die ich während meines Studiums als heimische Arten kennengelernt hatte, stellten sich später als Neophyten raus“, sagt Linne von Berg.
Als Neophyten bezeichnen Botaniker Pflanzen, die die Menschen nach 1492 in Regionen mitgebracht hatten, in denen sie natürlicherweise nicht vorkamen. Alle gebietsfremden Pflanzen, die sich schon vorher angesiedelt haben, nennt man dagegen Archäophyten. Als Wendepunkt gilt die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus, die in eine Zeit fällt, in der auch Handel und Verkehr nach Asien zunehmen. Ist die Zimmerpalme aus dem Baumarkt also ein Neophyt? „Nein“, betont Linne von Berg. Um als Neophyt anerkannt zu sein, müsse sich die eingewanderte Pflanze in ihrem neuen Terrain behaupten können und neu keimen.
Einst beliebte Zierpflanzen werden zur Plage
Nur einem Teil der nichtheimischen Pflanzen gelingt dies: Für Deutschland sind rund 400 Arten unter dem Begriff „eingebürgerter Neophyt“ verzeichnet. Das sind immerhin zehn Prozent der Flora. Um Neophyten zu finden, muss man also keine weiten Wege auf sich nehmen. Etliche von ihnen wachsen direkt vor der Haustür. Zum einen wäre da der Japanische Riesenknöterich, der scheinbar optimal mit dem mitteleuropäischen Klima klarkommt.
Bis zu vier Meter hoch kann die Pflanze werden und sie verbreitet sich rasend schnell – zum Nachteil der heimischen Pflanzen. „Unter ihren riesigen Stängeln haben andere Pflanzen kaum eine Chance zu wachsen“, betont Linne von Berg. „Die einst beliebte Zierpflanze ist mittlerweile zur Plage geworden.“ Noch problematischer sind Neophyten, die schädlich für Menschen sind. Die Pollen der aus Nordamerika stammenden Beifuß-Ambrosie etwa können schon in geringen Mengen heftige Allergien auslösen.
Zwar konnten viele Neophyten unbeabsichtigt nach Europa gelangen, wenn etwa Samen an der Kleidung von Reisenden haften blieben. Oft ging der Migration aber eine bewusste Entscheidung von Händlern und Gärtnern voraus. So auch bei der Scheinakazie, die unter dem Namen Robinie bekannt ist. Der französische Hofgärtner Jean Robin brachte sie im 16. Jahrhundert von Nordamerika nach Paris. An den europäischen Höfen wurde die Scheinakazie daraufhin der Alleebaum schlechthin. Doch auch sie wird heute als invasiver Neophyt betrachtet. So bezeichnen Botaniker Pflanzen, die heimische Arten verdrängen.
„Wenn man eine Traubenkirsche absägt, kommen an fünf Stellen neue hinzu“
Am besten wehrt man sich gegen invasive Neophyten, indem man sie erst gar nicht ins Land rein lässt. Aus diesem Grund ist der Pflanzenimport streng reguliert. Selbst wer lediglich eine Blume aus dem Urlaub für den heimischen Balkon mitbringen möchte, kann Probleme mit dem Zoll bekommen. Die Leidenschaft, etwas ganz Neues zu pflanzen, war und ist jedoch groß; die teils katastrophalen Folgen für die heimische Flora zeigen sich oft erst Jahre später. Vor allem in Naturschutzgebieten werden invasive Arten zum Problem, da hier eine möglichst natürliche Vegetation erhalten bleiben soll.
Linne von Berg sitzt im wissenschaftlichen Beirat des Nationalparks Eifel, wo man zurzeit über den Umgang mit der Spätblühenden Traubenkirsche debattiert. „Dieser problematische Neophyt aus Nordamerika ist äußerst schwer zu bekämpfen“, betont der Botaniker. „Wenn man eine Traubenkirsche absägt, kommen an fünf Stellen neue hinzu.“ Gift wäre zwar ein wirkungsvolles Mittel, für den Einsatz in einem Nationalpark jedoch undenkbar. Am Ende bleibt der Parkverwaltung nur die radikale Entfernung der kompletten Pflanzen – ein kostspieliges Unterfangen, dessen Erfolg zudem nicht sicher ist. Denn sollten die Förster dabei einzelne Wurzeln übersehen, könnte sich die Traubenkirsche in nur kurzer Zeit wieder verbreiten.
„In ungestörten, stabilen Ökosystemen können sich Neophyten nur schwer ausbreiten“, erklärt Linne von Berg. Dies treffe allerdings nur noch auf fünf Prozent der Fläche Deutschlands zu. Fast überall haben die Menschen in ihre Umwelt eingegriffen und fremden Pflanzen somit gute Voraussetzungen geschaffen.
Die ältesten Getreidearten kommen aus dem Vorderen Orient
Nicht nur Neophyten haben in der Vergangenheit die heimische Flora umgekrempelt. Viele Archäophyten, die uns heute keineswegs fremd erscheinen, kamen bereits lange vor den großen Entdeckungsreisen der Frühen Neuzeit hierher. Die Erforschung der ur- und frühgeschichtlichen Pflanzenmigration fällt in den Aufgabenbereich der Archäobotanik. Laut Dr. Jutta Meurers-Balke vom archäobotanischen Labor der Universität zu Köln lasse sich eine Verschiebung der Flora unter anderem nach jeder Eiszeit registrieren. „Waren die Eispanzer erst einmal geschmolzen, kamen auch die zuvor verdrängten Pflanzen zurück“, erklärt Meurers-Balke. Mit den Alpen entstand im Tertiär jedoch eine natürliche Barriere zwischen Herkunfts- und Rückzugsorten der Pflanzen, woraufhin die Vielfalt der Flora in Mitteleuropa deutlich abnahm.
Meurers- Balke sieht ihren Fachbereich als Teil der archäologischen Forschung, die sich nicht nur mit den unmittelbaren Hinterlassenschaften der Menschen beschäftigt. Im Gegensatz zu den Kollegen aus der Archäologie rekonstruiert sie die Vergangenheit nicht anhand von Steinen, Tonscherben und Münzen, sondern indem sie Pflanzenreste untersucht. Schon in urgeschichtlicher Zeit nahmen die Menschen schließlich einen erheblichen Einfluss auf die Flora. Vor ungefähr 7200 Jahren änderten unsere Vorfahren im Zuge der neolithischen Revolution ihre Lebensweise: Aus Jägern und Sammlern wurden Bauern. Ihre damaligen Nutzpflanzen stammen aus der Mittelmeerregion.
Das sogenannte neolithische Set, also die ältesten Getreidearten wie Einkorn und Emmer sowie Linse und Erbse, kommt ursprünglich aus dem Vorderen Orient und ist über den Balkan hierhergekommen. „Es gibt nur eine Kulturpflanze in dieser Zeit, die aus dem westlichen Mittelmeerraum kommt“, betont Meurers-Balke, „und zwar der Mohn.“
Zentimeter für Zentimeter ein Bild der Vegetationsgeschichte
Im Labor können Archäobotaniker darüber Auskunft geben, was einst auf den Feldern der Bauern wuchs und den Menschen als Nahrung diente. Dazu untersuchen sie vor allem die widerstandsfähigsten Pflanzenteile: Holz, Samen und winzige, nur unter dem Mikroskop sichtbare Pollenkörner. Blätter sind dagegen nur sehr selten erhalten. „Dazu muss der mikrobielle Abbau unterbrochen sein“, erklärt Meurers-Balke. „Vor allem in den süddeutschen Seen und in den Mooren Norddeutschlands haben wir eine wunderbare Erhaltung von pflanzlicher Substanz.“
Trotzdem zählt auch das Rheinland zu den archäobotanisch am besten erschlossenen Regionen Deutschlands. Pollenanalytiker finden den Blütenstaub etwa in Flussschleifen oder Auen. Die Kölner Archäobotaniker profitieren hierbei von einer engen Kooperation mit den Bodendenkmalpflegeämtern. „Wir betreuen und beraten bei Ausgrabungen in ganz Nordrhein-Westfalen“, sagt Meurers-Balke. Durch die Sedimentproben feuchter Ablagerungen erhalten sie Zentimeter für Zentimeter ein Bild der Vegetationsgeschichte, denn jede Epoche weist eine bestimmte Zusammensetzung des Pollenspektrums auf.
Die Römer brachten Obst, Gemüse und Gewürze
Neben den natürlichen Fundstellen untersucht Meurers-Balke mit ihrem Team hauptsächlich pflanzliche Überreste, die vor langer Zeit in Brunnen oder ins Herdfeuer gelangt sind. „Wenn die Pflanzenteile nur verkohlt und nicht verascht sind, dann sind sie formbeständig erhalten – mit Ausnahme der Pollen. Die finden wir ausschließlich unter Wasser“, so Meurers-Balke. Die verkohlten Abfälle in den Siedlungen haben den Vorteil, dass sie exakt darüber Auskunft geben, wie sich der Speiseplan der Menschen im Laufe der Geschichte verändert hat.
Erst die Römer brachten im Zuge ihrer Expansion einen ganzen Schwung neuer Kulturpflanzen aus dem Mittelmeerraum in ihre nördlichen Kolonien. Mit der Besatzung kamen unter anderem Kirschen, Pflaumen, Wein und Petersilie, um nur einige wenige neue Lebensmittel zu nennen. Auf den römischen Gutshöfen sollte es an nichts fehlen, das es auch in Italien gab. „Bei einigen Gemüsearten diskutieren wir noch, ob es die hier schon vorher gab“, so Meurers- Balke. „Es war aber auf jeden Fall ein einzigartiger kulinarischer Aufschwung.“ Ein Aufschwung, der scheinbar nicht allen schmeckte. Die rechtsrheinischen Germanenstämme gelangten durch Handel und Raubzüge zwar an römische Viehbestände, an exotischen Pflanzen hatten sie jedoch – so scheint es – kein Interesse. „In den germanischen Siedlungen finden wir so gut wie keine Gewürze, kein Gemüse und kein Kulturobst“, sagt Meurers-Balke. Man wollte scheinbar keine fremden Lebensmittel. „Was der Westfale nicht kennt, das isst er nicht“, scherzt die Archäobotanikerin.
Pflanzenmigration findet nicht nur in eine Richtung statt
Die ganze Breite an Kulturpflanzen war demnach erst im 10. Jahrhundert vorhanden. Für diese Epoche lassen sich auch etwa Esskastanien, Birnen und verschiedene Kirschsorten nachweisen. Bei einigen Pflanzen ist bislang unklar, ob es seit der römischen Zeit einen kontinuierlichen Anbau gegeben hat, oder ob sie im Mittelalter ein zweites Mal importiert wurden. Meurers- Balke: „Uns fehlen entsprechende Funde aus der Völkerwanderungszeit, die uns darüber Auskunft geben. Jedes Mal wenn es Ausgrabungen an einer Siedlung aus dieser Zeit gibt, sind wir sofort da, um Proben zu nehmen.“
Fest steht, dass die Migration von Pflanzen eng mit der Kulturgeschichte verbunden ist. Von dem Urwald, der Deutschland einst nahezu vollständig bedeckt hat, bis hin zur heutigen Vegetation änderte sich das Aussehen der Landschaft durch den Eingriff der Menschen immer wieder. Doch wie bei allen Migrationsphänomenen ist auch dies kein einseitiger Prozess. So gab es auch den umgekehrten Weg, auf dem europäische Pflanzen etwa nach Amerika mitgebracht wurden. Eine der ersten europäischen Pflanzen in der Neuen Welt war der Breitwegerich. Schon nach kurzer Zeit konnte man ihn überall finden, wo sich die Siedler niedergelassen haben. Die Einheimischen haben die Pflanze deshalb „Fußtritt des weißen Mannes“ genannt.