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Stunde Null

Schulen brauchen neue Unterrichtskonzepte für Kinder ohne Deutschkenntnisse

 

Immer mehr Kinder aus Einwandererfamilien kommen ohne oder mit nur geringen Deutschkenntnissen in die Schule. An vielen Schulen entstehen daher spezielle Förderklassen, in denen sie auf eine reguläre Schullaufbahn vorbereitet werden sollen. Bislang gibt es jedoch kaum Konzepte für den Unterrichtin solchen Klassen. Am Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache der Universität zu Köln untersuchen Wissenschaftler deshalb die Situation von Seiteneinsteigern in Deutschland und erarbeiten neue Methoden zur Sprachvermittlung.

Am Anfang des Schuljahres waren nur fünf Schüler in seiner Klasse. Lehrer Nils Grupe war sich aber schon damals im Klaren darüber, dass es nicht bei dieser Zahl bleiben würde. Mittlerweile sind es dreizehn. Die meisten Lehrer können von so einer Klassengröße nur träumen, für Grupe ist dagegen schon jetzt eine gewisse Grenze erreicht. Seine Schüler kommen aus Italien, Kamerun, Polen, Vietnam, Kroatien, Brasilien, Amerika, Iran, Spanien, Japan, Bulgarien und Kasachstan. Die jüngsten sind gerade einmal zehn Jahre alt, die ältesten schon vierzehn. Einen festen Lehrplan gibt es nicht.

Nils Grupe ist Deutsch- und Französischlehrer am Kölner Hildegard-von-Bingen- Gymnasium und betreut die Internationale Förderklasse der Schule. Hier bereitet er zugezogene Schülerinnen und Schüler mit geringen Deutschkenntnissen auf eine reguläre Schullaufbahn vor. Einige von ihnen verstehen noch so gut wie gar kein Deutsch. Trotzdem gilt für Kinder, die nach Deutschland kommen, vom ersten Tag an die Schulpflicht. Im Fachjargon nennt man diese Schüler Seiteneinsteiger.

Seit zwei Wochen hat die Internationale Förderklasse von Grupe einen Seiteneinsteiger aus Kasachstan. In den kommenden Monaten und Jahren wird er nicht nur die deutsche Alltagssprache lernen, sondern auch die Bildungssprache, Jugendsprache, Soziolekte und Englisch. Ein Frontalunterricht ist für Nils Grupe so gut wie unmöglich. Um der Heterogenität seiner Klasse gerecht zu werden, muss er vor allem eines können: improvisieren. Man glaubte, das Problem würde sich mit der Zeit erübrigen.

Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek von der Universität zu Köln kennt die Herausforderungen, vor denen Lehrer solcher Klassen stehen. Der Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache erforscht seit Jahren, wie man die deutsche Sprache vermittelt. Die Situation von Seiteneinsteigern stand zunächst nicht ganz oben auf der Agenda des Instituts, doch der Handlungsdruck ist groß: „Allein in der Stadt Köln gab es im letzten Schuljahr 1.100 Seiteneinsteiger, und es kommen ständig neue hinzu“, sagt Becker-Mrotzek. Damit sie Lehrern später konkrete Methoden vorschlagen können, nehmen die Wissenschaftler eine Bestandsaufnahme der heutigen Situation vor: „Wir schauen, welche Methoden heute in den Schulen umgesetzt werden und wie sie funktionieren“, so Becker-Mrotzek.

Zusammen mit Prof. Dr. Hans-Joachim Roth, Dekan der Humanwissenschaftlichen Fakultät, koordiniert er auch die Bund-Länder-Initiative „Bildung durch Sprache und Schrift“, kurz BISS. In den kommenden Jahren wollen die Initiatoren des Programms Angebote zur Sprachförderung, Sprachdiagnostik und Leseförderung für Kinder und Jugendliche prüfen und verbessern. Mehr als 600 Bildungseinrichtungen aus allen Bundesländern beteiligen sich an der Initiative. Das Phänomen der Seiteneinsteiger ist nicht neu. Mit den Gastarbeitern aus Südeuropa kamen in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts auch deren schulpflichtige Kinder nach Deutschland. Ein zweiter Schub folgte in den 90er Jahren mit den großen Flüchtlingswellen.

Unterrichtsmethoden für nicht-deutschsprachige Kinder wurden damals erprobt und auch dokumentiert. Doch vieles davon ist im Laufe der Zeit verloren gegangen. „Die Forschung wurde in diesem Bereich nicht mehr weitergeführt. Später rückten dann stattdessen in Deutschland geborene Kinder mit Migrationshintergrund in den Fokus der Wissenschaft“, sagt Becker-Mrotzek. Diese Kinder hatten zwar oft Probleme mit der Bildungssprache, selten aber mit der Alltagssprache. Man glaubte, das Problem würde sich mit der zweiten oder dritten Generation erübrigen. Zu spät kam die Erkenntnis, dass Deutschland auch in den folgenden Jahrzehnten ein Einwanderungsland bleiben würde.

Die Kinder kommen und gehen oft mitten im Schuljahr

Seit einigen Jahren nimmt die Einwanderung nach Deutschland wieder deutlich zu. Grund ist vor allem die Personenfreizügigkeit der EU. Laut einem Ranking der OECD ist Deutschland weltweit das zweitbeliebteste Zuwanderungsland – direkt hinter den USA. Aber auch die Zahl der Asylbewerber erreichte 2013 den höchsten Stand seit 14 Jahren. Das ist eine Entwicklung, die sich auf das Schulsystem auswirkt. Internationale Förderklassen spiegeln das gesamte Spektrum der Migration nach Deutschland wider.

Die Klasse von Nils Grupe kann man sich nicht als gewöhnlichen Lernverbund vorstellen: Kinder kommen und gehen mitten im Schuljahr, oft völlig unvorhergesehen von einem Tag auf den anderen. Wenn es um Entscheidungen über Asylanträge oder die Verlegung einer Asylbewerberfamilie in ein anderes Bundesland geht, warten die Behörden nicht bis zu den Sommerferien. „Es kann schon vorkommen, dass ich an einem Montagvormittag in die Schule komme und in meinem Fach einen Brief mit dem Namen eines neuen Schülers finde“, sagt Grupe. „Dann kann ich meine ganze Planung für die Woche über den Haufen werfen, weil ich mich natürlich erst einmal intensiv um ihn kümmern und die anderen Schüler derweil beschäftigen muss.“

Während der Lehrer rauszufinden versucht, auf welchem Sprachniveau sich der neue Schüler befindet, füllen die anderen Arbeitsblätter aus. Einige arbeiten auch an den Computern, die im hinteren Bereich des Klassenraums stehen. Die Rechner sind dem Engagement eines pensionierten Kollegen zu verdanken, der sie repariert und der Schule zur Verfügung gestellt hat. Über eine Lernplattform des Volkshochschulverbandes schauen die Schüler kurze Filme und bearbeiten anschließend kurze Aufgaben dazu. Die Plattform ist so aufgebaut, dass sie ihre Ergebnisse selbst kontrollieren können.

Mit Fünftklässlern kann man nicht das Gleiche machen wie mit Achtklässlern

Wenn Grupe den Unterricht vorbereitet, muss er nicht nur das unterschiedliche Sprachniveau seiner Schüler beachten, sondern auch den Stoff verschiedener Jahrgangsstufen berücksichtigen. Das lässt in vielen Fällen nur Gruppenarbeit zu. Während die einen Grammatik pauken, analysieren die anderen Gedichte. Für den Deutschunterricht könnte man noch argumentieren, dass der Spagat durch den hohen Umfang machbar ist. Bis zu 15 Stunden Deutsch pro Woche stehen auf dem Stundenplan der Seiteneinsteiger. Viel größer ist das Problem in den naturwissenschaftlichen Fächern. Mit Fünftklässlern kann man hier nicht das Gleiche machen wie mit Achtklässlern. Zu guter Letzt darf man auch nicht vergessen, dass sich das Alter der Schüler in ihrem Verhalten widerspiegelt: Eine vierzehnjährige Schülerin hat ihrem zehnjährigen Klassenkameraden normalerweise nicht viel zu sagen.

Dennoch legt der Lehrer viel Wert darauf, dass die ganze Klasse so oft wie möglich etwas zusammen macht. „Nur so bleibt das Gemeinschaftsgefühl erhalten“, betont Grupe. Eine spezielle Ausbildung für Lehrer von Internationalen Förderklassen gibt es bisher nicht. Becker-Mrotzek sieht hier ganz klar Nachholbedarf: „Gerade was Seiteneinsteiger betrifft, werden Lehrer im Augenblick nicht ausreichend auf die Situation vorbereitet. Folglich werden in den Schulen teilweise Lehrer eingesetzt, die auf diesem Gebiet noch keine Erfahrung haben.“

Bei Nils Grupe ist das nicht der Fall. Er hat nach seinem Lehramtsstudium mit den Fächern Deutsch und Französisch noch ein Ergänzungsstudium in „Deutsch als Fremdsprache“ absolviert. Letzteres ist allerdings in der Regel auf die Erwachsenenbildung ausgerichtet. Ein Deutschkurs für eine Gruppe Erwachsener an einem Goethe-Institut etwa ist nicht zu vergleichen mit dem Alltag in internationalen Förderklassen.

Deutsches Sprachdiplom als Anreiz zum Lernen

Für Seiteneinsteiger geht es in den Förderklassen um mehr als Sprachvermittlung. Sie sollen nicht nur Deutsch lernen, sondern auch so schnell wie möglich in einen regulären Klassenverbund integriert werden. Becker-Mrotzek: „Wenn sie ohne Deutschkenntnisse starten, brauchen Seiteneinsteiger in der Regel zwei bis vier Jahre, bevor sie dem regulären Unterricht folgen können. So lange kann man sie aber nicht allein in den Förderklassen unterrichten, die Kinder würden dann isoliert aufwachsen.“ In Fächern, in denen die Sprache weniger wichtig ist, nehmen Seiteneinsteiger daher so früh wie möglich am regulären Unterricht teil. Im Sportoder Kunstunterricht zum Beispiel können die Schüler schon sehr früh Kontakte zu ihren späteren Klassen aufnehmen. In der internationalen Förderklasse sollen sie schließlich nicht länger als 16 Monate bleiben.

„Während dieser Zeit sind sehr viele individuelle Lösungen erforderlich, was vor allem kleine Lerngruppen voraussetzt“, sagt Becker-Mrotzek. Kooperatives Lernen wäre eine Möglichkeit, die Heterogenität der Klasse gezielt zu nutzen. In Lerntandems könnten sich die Schüler gegenseitig helfen: Wer schon etwas mehr Deutsch versteht, erklärt den Stoff einem Mitschüler noch einmal langsam in der Muttersprache. Eine andere Möglichkeit ist es, neue Anreize zum Deutschlernen zu schaffen. Im Rahmen der BISS-Initiative gibt es einige Schulen, die das Deutsche Sprachdiplom an zugezogene Schüler verleihen. Ursprünglich für Schulen im Ausland konzipiert ist es hierzulande für Seiteneinsteiger ebenfalls eine Motivation zum Deutschlernen. Schülern, die gut in Mathe und Naturwissenschaften sind, sollte man laut Becker-Mrotzek zudem gezielt bei sprachlichen Hürden in diesen Fächern helfen, etwa indem man ihnen den Stoff bildlich verdeutlicht. Dieser sogenannte sprachsensible Fachunterricht hat sich bereits in traditionellen Einwanderungsländern bewährt.

Seiteneinsteiger haben ein Grundrecht auf Bildung

Letztendlich kommt es bei der Entwicklung geeigneter Methoden aber auch immer darauf an, für welche Schulform sie gedacht sind. „Eine internationale Förderklasse an einer Grundschule funktioniert völlig anders als an einem Gymnasium oder einem Berufskolleg“, betont Becker-Mrotzek. Genau hier liegt auch ein weiteres Problem: Momentan sind internationale Förderklassen überwiegend an Haupt- und Gesamtschulen verankert. In manchen Regionen gibt es sogar gar keine speziellen Förderklassen. Für viele Seiteneinsteiger ist es dementsprechend schwer, später ein Gymnasium zu besuchen. Dabei haben sie genau so wie ihre deutschen Klassenkameraden ein Grundrecht auf Bildung.

Möglicherweise wird der Aufbau eines integrativen Schulsystems und damit einhergehend eine höhere Sensibilität für unterschiedliche Lernvoraussetzungen dazu beitragen, dass auch Seiteneinsteiger in Zukunft bessere Bildungschancen haben. Eine der größten Herausforderung wird aber auch dann noch bleiben, dass viele Seiteneinsteiger Flüchtlinge sind und hierzulande einen unsicheren Status haben. Internationale Konflikte, Flüchtlingsströme und Asylpolitik folgen eben anderen Gesetzmäßigkeiten als das deutsche Schulsystem.