Wenn der Staat versagt
Failed States destabilisieren weltweit geopolitische Regionen
Libyen, Irak und Syrien; Sudan, Somalia oder die Zentralafrikanische Republik – die Liste der sogenannten Failed States, versagender Staaten, ist lang und wird immer länger. Seit gut zwanzig Jahren scheinen immer mehr ehemals stabile Staaten zu implodieren. Bürgerkrieg, internationaler Terrorismus und Flüchtlingsströme sind die Folgen. Weshalb zerfallen Staaten? Und gibt es einen Ausweg? Professor Dr. Thomas Jäger vom Institut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen ist Experte für internationale Beziehungen. Seine Antworten rücken die Sicht des Westens auf staatliches Gelingen in einen neuen Kontext.
von Robert Hahn
Was einem mitteleuropäischen Betrachter wie eine apokalyptische Version der Endzeit anmutet, ist für viele Menschen auf dem Globus bittere Wirklichkeit: Bürgerkrieg, Hunger, Seuchen, Korruption. Ob Somalia oder Syrien, Libyen oder der Irak, seit nunmehr gut zwanzig Jahren scheint sich das Phänomen des Failed State auf der Weltbühne zu etablieren. Flüchtlingsströme und Terrorismus resultieren daraus, die im Zeitalter der Globalisierung selbst die Staaten des stabilen Europa in Mitleidenschaft ziehen. Militärische Interventionen und politische Beschlüsse von Regional- und Weltmächten sollen dem blutigen Treiben ein Ende bereiten. Doch sie erreichen nichts, weil sich lokale Eliten bereits als Nutznießer des Chaos etabliert haben.
Erfüllt der Staat alle seine Funktionen?
Was ist das: ein Failed State? Was macht einen Staat schwach? Wie kommt man aus dieser Situation wieder heraus? Professor Dr. Thomas Jäger vom Institut für Politikwissenschaft forscht im Bereich der internationalen Beziehungen und der Sicherheitspolitik. Als Herausgeber der Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik steht er mitten in der Diskussion über aktuelle sicherheitspolitische Themen. Mit vielfältigen Buchveröffentlichungen hat er sich zu Fragen des Terrorismus und der Sicherheit geäußert. Für den Politikwissenschaftler sind schwache oder gescheiterte Staaten zuerst einmal ein Problem des eigenen Staatsverständnisses: „Es ist ein westliches Verständnis, dass ein Staat das legitime Gewaltmonopol hat und für seine Bevölkerung gewisse zentrale Funktionen wie das Gesundheitssystem, Sozialsystem oder die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu gewährleisten hat. Wenn das eingestellt wird, dann spricht man von einem schwachen Staat“, erklärt er. Von diesen schwachen Staaten, die einige Funktionen nicht mehr erfüllen, bis zu Staaten, die das Gewaltmonopol nicht mehr durchsetzen können und kollabieren, gibt es die verschiedensten Ausprägungen. Grundsätzlich unterscheidet die Politikwissenschaft dabei zwischen internationalen und innenpolitischen Ursachen.
Globalisierung beschleunigt wirtschaftlichen Verfall
Ein wichtiger Grund für das Versagen von Staaten ist ihre wirtschaftliche Organisation – international und national. Seit dem Kolonialismus bis zur heutigen Wirtschaftsordnung bestehen asymmetrische Ausbeutungsverhältnisse zwischen den hochentwickelten Ländern auf der einen Seite und den Entwicklungsstaaten, die ihnen als Rohstofflieferanten dienen, auf der anderen Seite. Einer Reihe von Staaten – vor allem im Süden des Globus – gelingt es dadurch nicht, Ökonomien auszubilden, die sich selber tragen können. Genauso gibt es innenpolitische Gründe, bei denen die Arbeit der Regierungen im Vordergrund steht: Korruption, inkompetente Bürokratie. Dadurch fehlt es diesen Staaten auch an Legitimität bei ihrer Bevölkerung.
Früher waren diese Staaten in sich geschlossen fragil, höchstens die direkten Nachbarn wurden durch interne Konflikte beeinflusst. Heutzutage sind sie an den Weltmarkt angeschlossen. „Selbst aus para-staatlichen Gebieten wie Syrien wird Erdöl exportiert“, so Jäger. „Es existiert ein ständiger Warenaustausch und damit auch die Möglichkeit der Bürgerkriegsparteien, sich ständig neu zu bewaffnen, neue Rekruten zu mobilisieren, neue Leistungen zu bieten und anderes mehr.“ Geschlossene Bürgerkriegsökonomien werden zu offenen Bürgerkriegsökonomien. „In dem Moment, wo es Bodenschätze gibt, die man gut abbauen, transportieren und verkaufen kann, ist so eine Situation auf Dauer gestellt. In Afghanistan ist es der Mohn, im Nahen Osten Öl.“
Ende des Ost-West-Konflikts
Wichtig ist auch die Frage, welche Interessen Großmächte an gewissen geopolitischen Räumen haben. Insbesondere im Ost-West-Konflikt gab es selbst an abgelegenen Regionen Interesse und eine Reihe von Staaten blieb dadurch lebensfähig, dass ihre Verbündeten – die Vereinigten Staaten oder die Sowjetunion – sie unterstützten. Mit dem Ende des Konfliktes wurden diese Regionen dann zum geopolitischen Niemandsland.
Thomas Jäger sieht hier zwei parallele Prozesse wirken, die mit dem Ende des Ost-West-Konflikts zu tun haben: „Es sind einmal eine Reihe von lokalen Konflikten eingefroren gewesen, die wieder aufgetaut worden sind. Somalia, Äthiopien, die Gründung Eritreas zum Beispiel. Zum anderen haben manche Regierungen schlicht ihre Schutzmacht verloren. Das hat dazu geführt, dass die Staatsschwäche, die vorher schon da war, mit einem Mal offensichtlich wurde.“ Zu Zeiten des Ost-West-Konflikts konnte niemand die Legitimität dieser Regierungen erfolgreich anzweifeln, denn im Fall einer Revolte hätte die amerikanische oder sowjetische Armee interveniert. „Hinzu kommt, dass mit der Einstellung der Hilfszahlungen die Konkurrenz um das verbliebene Geld unter den lokalen Eliten zunimmt und staatliche Institutionen leer ausgehen.“
Was tun?
Die Politikwissenschaften beschäftigen sich nun seit gut zwanzig Jahren mit der Frage, wie man dem Verfall von Staaten entgegenwirken kann. Kann sie Antworten geben? „Eigentlich ist die Antwort: Man weiß es nicht“, gibt Professor Jäger zu. Im Modell ist das State-Building, der Wiederaufbau des Staates, denkbar: Man baut eine funktionale Bürokratie auf, die ihre Aufgaben erfüllt und für Akzeptanz des Staates in der Bevölkerung und unter den Eliten sorgt.
Doch das ist bisher immer an den lokalen Eliten gescheitert, die Teile des Staatsgebietes beherrschen. „Die regierenden Eliten haben nicht automatisch die Absicht, wieder Staat zu werden, weil das für viele von ihnen die Einkommen aus diesen unklaren Verhältnissen vermindern würde. In diesen fragilen Staaten werden auch große Profite gemacht“, so Jäger. Doch wie kann man die lokalen Eliten zur Kooperation bringen? Hilft es, Geld gegen Kooperation zu bieten? Auch das sieht der Politikwissenschaftler kritisch: „Mehr Geld für mehr Kooperation ist bei korrupten Verhältnissen der falsche Anreiz. Da versickern die Gelder nur im Korruptionssumpf.“
Die großen Projekte der letzten Jahre im Irak und in Libyen haben gezeigt, dass dieser Ansatz nicht funktioniert. Das State-Building-Projekt läuft dort bereits über zehn Jahre, hat enorme Ressourcen verschlungen und steht vor dem Scheitern.
Blick in eine unsichere Zukunft
Sind Staaten mit Gewaltmonopol also nicht das Maß aller Dinge? „Wir gehen davon aus, dass ein Staat eine Regierung mit Gewaltmonopol haben muss. Der empirische Befund ist allerdings, dass es mehrere Staaten gibt, in denen es legitime Gewalt-Oligopole gibt.“ Nicht nur für die Staaten selber sondern auch für ihre Nachbarn bleiben die Probleme, denn Flüchtlingsströme und Terrorismus ziehen auch sie in Mitleidenschaft. „Migration aus Räumen fragiler Staatlichkeit wird zunehmen. Früher war das schwer zu organisieren. Heute geht es über Facebook-Gruppen und Twitter“, ist sich Jäger sicher. Einen positiven Ausblick kann der Wissenschaftler nicht bieten. Stattdessen wendet er den Blick auf eine weitere Krisenregion: „Wenn man das mit der Perspektive verbindet, wie ungesichert und schwach viele Staaten in Afrika sind und die demographische Entwicklung in Afrika jetzt schon prognostizierbar ist, wo wir nicht mehr über Millionen sondern über Milliarden von Menschen sprechen, dann ist das die größte Herausforderung, die Europa jetzt vor sich sieht und für die es eine Antwort finden muss, die genau dahin führt, wo wir jetzt stehen: Wie bildet man stabile, staatlich organisierte Gesellschaften?“