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Foto: Maya Claussen

Alles unter Kontrolle?

Psychiatrische Krankenakten geben Aufschluss über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft

Wie entscheiden Staat und Gesellschaft, was psychisch „normal“ ist? Wie spiegeln sich die Vorstellungen von Normalität in amtlichen Handlungsweisen wider? Die Historikerin Stefanie Coché hat anhand von mehr als 1400 Patientenakten die psychiatrische Einweisungspraxis im „Dritten Reich“, in der DDR und in der Bundesrepublik untersucht. Staatlicher Machtmissbrauch gestaltet sich dabei anders als man annehmen könnte.

von Silke Feuchtinger

Unter Zwang wird ein junger Mann in eine psychiatrische Klinik gebracht, entmündigt und durch Medikamente und Operationen willenlos gemacht. Fortan ist er einem quälerischen System aus Willkür, Demütigung und Freiheitsentzug ausgesetzt. Ein Entrinnen gibt es nicht – zu eng scheinen Gesellschaft, Staat und Medizin miteinander verwoben. Was in Filmen wie „Einer flog übers Kuckucksnest“ mit Jack Nicholson von 1975 gezeigt wird, hat unser Bild von Psychiatrien maßgeblich geprägt. Gerade für die Zeit vor 1970 gehen viele auch für Deutschland von einem übergriffig und autoritär agierenden System aus, in dem Psychiatrie und Staatsmacht Hand in Hand arbeiten – nicht nur, aber vor allem auch bezogen auf den Unrechtsstaat des Nationalsozialismus. Die Historikerin Dr. Stefanie Coché ist dieser Annahme anhand einer Untersuchung zur Einweisungspraxis in den drei deutschen Staaten zwischen 1941 und 1963 auf den Grund gegangen. Dabei hat sie mehr als 1400 Patientenakten in insgesamt sechs psychiatrischen Einrichtungen untersucht. „Aus Sicht einer Historikerin sind Psychiatrien vor allem deshalb interessant, weil sie uns etwas über die Vorstellungen von Normalität erzählen“, so Coché. „Verbunden mit einem Blick auf die Einweisungspraxis lassen sich so Rückschlüsse ziehen über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft.“


Einweisungen sind kein Top-Down-Prozess

Die verschiedenen Krankengeschichten hat Coché unter Aspekten wie Alter, Geschlecht, soziales Umfeld, Wohnort und Krankheitsverlauf genau unter die Lupe genommen. Auch persönliche Zeugnisse wie Briefe oder Tagebuchaufzeichnungen konnte sie hinzuziehen. In beinahe allen Fällen beobachtet die Wissenschaftlerin einen komplexen Aushandlungsprozess, der jeder Einweisung vorausgeht. „Psychiatrie wird schnell mit Zwang assoziiert“, erklärt sie. „Das ist allerdings nur ein kleiner Teil des Bildes. Der Weg bis zur tatsächlichen Einweisung war meistens vielschichtig – unabhängig davon, ob es sich um das ‚Dritte Reich‘, die DDR oder die Bundesrepublik Deutschland handelt.“
Familienangehörige, Freunde und Nachbarn, Ärzte, Polizisten, Lehrer und Juristen – sie alle konnten in das Vorgehen eingebunden sein – bei erzwungenen genauso wie bei Selbsteinweisungen. „Bei Zwangseinweisungen tritt die Rolle des Staates etwas deutlicher zu Tage. Doch auch diese geschahen äußerst selten ohne eingehende Vorgespräche“, erklärt Coché. Auch in den beiden untersuchten Diktaturen ist dies der Fall: „In den Fokus gerieten die Menschen bis auf wenige Ausnahmen nicht etwa aufgrund von staatlicher Eigeninitiative, sondern fast immer durch Meldungen aus ihrem direkten sozialen Umfeld.“ Von einem Top-Down-Prozess kann daher keine Rede sein.


Foto: Maya Claussen

Frauen mit Geschlechtskrankheiten wurden zwangsinterniert

In diesen wechselseitigen Gesprächen sieht Coché die wesentliche Grundlage für die Entstehung von Normalitätsvorstellungen, selbst in derart repressiven Systemen wie dem des Nationalsozialismus: „Die Auffassungen auf beiden Seiten bedingten einander. Die Ideologie der NS-Diktatur sickerte ja nicht vollkommen passiv nach unten in die Basis der Bevölkerung. Die Zustimmung war da.“ Staatliche Übergriffe und Machtmissbrauch im Zusammenhang mit Psychiatrien waren daher selten. Zur Zementierung des Unrechtsstaats hat das NS-Regime diese gar nicht erst benötigt: „Das System der Konzentrationslager ließ sich viel zielgerichteter zur ‚Beseitigung von Störfaktoren‘ nutzen“, so die Historikerin. „Hier war der Machtmissbrauch bekanntermaßen völlig grenzenlos.“ Psychiatrieplätze hingegen wurden selbst zwischen 1941 und 1945 in fast allen Fällen direkt aus der Bevölkerung heraus angefragt – und das, obwohl das brutale Vorgehen innerhalb dieser Anstalten bis hin zur Ermordung psychisch Kranker durchaus bekannt war.

Eine wichtige Ausnahme bildet dabei eine bestimmte Gruppe von Bürgerinnen: „Frauen mit Geschlechtskrankheiten wurden von den Nationalsozialisten als enorme Gefahr für die Kriegskraft gesehen. Auch ohne vorangegangene Gespräche konnten sie polizeilich aufgegriffen und kurzerhand zwangsinterniert werden. Hier findet ein erheblicher Machtbissbrauch durch den Staat statt.“ Geschlechtskranke Männer wurden übrigens nicht belangt – die Vorstellung von Schuld oder Unschuld bei der Verbreitung von sexuellen Krankheiten war im „Dritten Reich“ eindeutig geschlechterspezifisch motiviert.


Foto: Maya Claussen

Missbrauch durch Unterlassung

Staatlichen Missbrauch hatte Coché zu Beginn ihrer Forschungsarbeit auch in der DDR vermutet. Dass im sozialistischen Bruderstaat ähnliche Einweisungspraktiken wie zum Beispiel im Rumänien der 70er und 80er Jahren praktiziert wurden, schien naheliegend. Um Regimekritiker und Andersdenkende mundtot zu machen, ließ Machthaber Nicolae Ceaușescu diese häufig in psychiatrischen Kliniken festhalten – unter katastrophalen hygienischen Bedingungen und ohne Chance auf ein faires Verfahren. Für die DDR konnte Coché allerdings kein einziges vergleichbares Beispiel ausfindig machen: „Nach meinen Erkenntnissen war die DDR an der Psychiatrie mehr oder weniger uninteressiert. Für das Regime war sie vor allem ein Kostenfaktor. Nachdem man sich von den Praktiken der NS-Zeit verabschiedet hatte, ergab sich ein regelrechtes Vakuum an Zuständigkeiten.“ Einen Machtmissbrauch sieht Coché deshalb vor allem im Faktor Unterlassung: „Auch durch fehlende Regularien kann eine Form von Entrechtung entstehen. In der DDR führte das dazu, dass manche psychiatrischen Aufenthalte nie bewilligt wurden, andere hingegen niemals endeten“, führt die Wissenschaftlerin aus. Erst 1968 wurden die gesetzlichen Regelungen neu gefasst.

Einweisungen direkt nach dem Zweiten Weltkrieg spiegeln gesellschaftlichen Extremzustand

Während unter den Nationalsozialisten ein Überhang an weiblichen Patienten in den Psychiatrien auffällig ist, sind die Patientenakten in der DDR und in der BRD sehr heterogen. „Besonders betroffene Personengruppen gibt es nicht. Ein zentrales Thema, das in beiden Staaten jedoch immer wieder auftaucht, ist das der Arbeitskraft. Sowohl seitens der Behörden als auch seitens des Patienten selbst wird es als zentrales Argument für einen psychiatrischen Aufenthalt genutzt.“

Die Einweisungen während der Besatzungszeit 1945 bis 1949 spiegeln einen gesellschaftlichen Extremzustand wider. Ob ehemalige KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene, Flüchtlinge oder Vertriebene – die verschiedenen Erfahrungen mit den Schrecken des Krieges wirken sich unmittelbar auf die Einweisungen in psychiatrische Anstalten und Kliniken aus: „Da es in jenen Jahren eine so hohe Nachfrage nach Psychiatrieplätzen gab, die medizinische Versorgung allgemein aber mit vergleichsweise wenigen personellen Ressourcen auskommen musste, sind die Vermerke in den Krankenakten in diesen Jahren nur knapp“, erklärt Coché. Rückschlüsse auf die persönlichen Schicksale sind deshalb kaum möglich.

Nach Gründung der Bundesrepublik entstehen dann wieder ausführlichere Aufzeichnungen. Bis zu den Psychiatriereformen der 70er Jahre waren viele Maßnahmen allerdings noch nicht an neue Standards angepasst. „Zum Beispiel war in der BRD zwar ein richterlicher Beschluss bei Zwangseinweisungen per Gesetz unerlässlich. Tatsächlich wurde dieser jedoch oft erst im Nachhinein ausgestellt – wenn der Patient längst schon in eine Psychiatrie gebracht worden war.“


Greift Foucaults Blick zu kurz?

Die Gruppe der in den Kriegsjahren zwangsinternierten geschlechtskranken Frauen und den Sonderfall der Unterlassung in der DDR einmal ausgenommen, ist Coché in keinem der Fälle, die sie erforscht hat, auf einen eindeutig staatlich forcierten Zwangsaspekt gestoßen. Auch in den schriftlichen Zeugnissen der Patienten lassen sich keine entsprechenden Hinweise finden. Dennoch gibt es, wie Coché festgestellt hat, Unterschiede im Grad der Verbundenheit von Staat und Psychiatrie. So waren Anweisungen der staatlich geführten Gesundheitsämter in der NS-Zeit für die Anstalten bindend. In der DDR hingegen setzte man verstärkt auf ambulante Behandlungen – und gab so einen großen Teil der Verantwortung an die Patienten und ihr Umfeld ab. In der BRD schließlich gewann zum Schutze beider Seiten der richterliche Beschluss eine besondere Bedeutung.
Insgesamt aber, davon ist Coché überzeugt, ist der Einfluss des Staates bei psychiatrischen Einweisungen weitaus geringer als gemeinhin angenommen. Der durch den französischen Philosophen Michel Foucault geprägte Blick auf Macht und Gesellschaft, wonach Individuen durch Institutionen der Herrschenden kontrolliert, geformt und vorsätzlich in ihrer Freiheit beschnitten werden, scheint ihr deshalb zu kurz gegriffen: „Die Rolle des Patienten und seines sozialen Umfeldes ist entschieden größer als die des Staates“, betont Coché. „Auch wenn ich schon zu Beginn meiner Forschung vermutet habe, dass die Ergebnisse in diese Richtung gehen könnten: Dass die Akten ein derart differenziertes Bild zeichnen, hat mich selbst überrascht.“ Ein bewusst etabliertes Kontrollsystem an der Schnittstelle von Staat und Gesundheitswesen kann die Historikerin jedenfalls in keinem der drei Systeme erkennen. „Normalität“ – das wird deutlich – lässt sich nicht allein von oben steuern.