»Es ist gut, viele Daten zu haben«
Immer mehr Menschen zeichnen ihre körperlichen Aktivitäten auf – tagsüber die gelaufenen Schritte und nachts den Schlafrhythmus. Wer hat am Ende die Kontrolle darüber: der Staat, Krankenkassen, Google oder doch wir selbst? Die Kölner Medizinethikerin Christiane Woopen spricht im Interview über Big Data im Gesundheitswesen.
von Sebastian Grote
In dem Roman Corpus Delicti skizziert die Schriftstellerin Juli Zeh den Staat als Gesundheitsdiktatur, deren Bürgerinnen und Bürger regelmäßig Berichte über ihre Gesundheit und sportlichen Leistungen einreichen. Sind wir noch sehr weit davon entfernt?
Ich kann mir kaum vorstellen, dass so ein Szenario unmittelbar bevorsteht. Trotzdem ist es gut, rechtzeitig zu überlegen, welche gesellschaftlichen Folgen sich bei bestimmten Entwicklungen ergeben können. Wir sollten dann lieber früher als später eingreifen. Immerhin sind wir, was die Möglichkeiten betrifft, auf dem Weg dorthin. Und wenn Sie schon Juli Zeh zitieren: „Totalitäre Strukturen kleiden sich heute in das Gewand von Serviceangeboten“, sagt sie.
Zum Beispiel Angebote von Krankenkassen, die ihren Versicherten Bonuszahlungen bieten, wenn diese per App ihre sportlichen Aktivitäten aufzeichnen. Ist damit eine rote Linie überschritten?
Zunächst einmal geht es dabei ja um Belohnungen und nicht um Nachteile oder Repressionen. Die Akzeptanz für die Datenweitergabe ist zudem noch lange nicht so groß, dass sich so ein Programm flächendeckend in der Bevölkerung verankern könnte. Es gibt immer noch viele Menschen, die solchen Angeboten sehr kritisch gegenüberstehen und auf die Hoheit über ihre Daten achten. Trotzdem: Die Vorteile für die einen werden auf lange Sicht Nachteile für die anderen sein.
Wer wären dann die Verlierer?
Das sind zum einen alle, die vorgegebene Gesundheitsstandards gar nicht erfüllen können, weil es etwa eine Krankheit oder die persönliche Lebenssituation nicht zulässt. Die zweite Gruppe bilden diejenigen, die die Standards nicht erfüllen wollen, weil sie andere Vorstellungen davon haben, was Gesundheit ausmacht. Und dann gibt es noch diejenigen, die vielleicht sogar an den Sinn der vorgegebenen Standards glauben und sie auch erfüllen könnten, die aber ihre Daten nicht teilen wollen. Das sind drei Konstellationen, die in einem Solidarsystem nicht zum Nachteil für Versicherte führen dürfen.
Viele Menschen brauchen gar keine finanziellen Anreize, um mit Fitnessbändern und Smartwatches ihre gelaufenen Schritte, den Schlafrhythmus oder Blutdruck zu messen. Was sind die Motive für das sogenannte Selftracking?
Ich glaube, dass es viele Menschen gibt, die eine große Vergewisserung daraus beziehen, wenn sie etwas in Zahlen, Kurven oder Grafiken sehen; die gerne über Tage und Wochen hinweg einen Verlauf beobachten; die gerne etwas dokumentieren und mit anderen teilen. Es ist eine Typfrage, ob man sich lieber auf seine eigenen Sinne verlässt, oder ob man eine Quantifizierung bevorzugt. Dagegen ist ja auch überhaupt nichts einzuwenden.
Prof. Dr. Christiane Woopen
ist geschäftsführende Direktorin von ceres, dem Cologne Center for Ethics, Rights, Economics, and Social Sciences of Health. Sie hat die Professur für Ethik und Theorie der Medizin inne, leitet die Forschungsstelle Ethik und ist Prodekanin für Akademische Entwicklung und Gender der Medizinischen Fakultät. Christiane Woopen ist Vorsitzende des Deutschen Ethikrates und Präsidentin des 11. Global Summit der Nationalen Ethik/Bioethik-Komitees.
ceres bietet ein einzigartiges Forum für den interdisziplinären und internationalen Austausch rund um gesellschaftlich relevante Fragen im Bereich der Gesundheit. Aktuelle Themenschwerpunkte von ceres sind Altern und demographischer Wandel, die digitale Transformation der Gesellschaft und Gesundheitskompetenz in komplexen Umwelten. Durch gesellschaftliche und politische Information und Beratung gestaltet ceres die öffentliche Diskussion mit und entwickelt jenseits disziplinärer Grenzen Strategien zur gerechten und guten Gestaltung unserer Zukunft.
Und wie sieht es auf der anderen Seite mit den Gefahren aus?
Gefährlich wird es, wenn die Daten benutzt werden, um die Umgebung von Menschen so zu gestalten, dass sie letztlich kaum mehr freie individuelle Entscheidungen treffen können. Mit dem Internet der Dinge bewegen wir uns genau in diese Richtung. Natürlich geben die Hersteller vor, dass die Geräte auf das Personenprofil reagieren und dadurch alles bequemer wird. Es kann die Lebensqualität aber auf lange Sicht auch einschränken. Außerdem ist klar, dass fast alle sogenannten Wearables die Datenschutzanforderungen nicht ausreichend erfüllen. Daten bleiben nicht auf dem Gerät, sondern gehen in die Cloud und werden miteinander verbunden. Es ist eine massive Werbe-Maschinerie, die da im Hintergrund arbeitet. Insofern sollten wir genau darauf achten, dass wir unsere Lebensführung selbst bestimmen. Sonst werden wir zu Marionetten der Werbeindustrie.
Wie verändert die Flut an Vitaldaten unsere Weltanschauung? Ist der Mensch am Ende nur noch die Summe seiner Daten?
Wir sind faktisch viel mehr als die Summe unserer Daten. Es kann uns aber in unserer Wahrnehmung und Interaktion durchaus passieren, dass wir nur noch das Zählbare für relevant und wichtig halten. Das wäre eine bedauerliche Verarmung.
Selftracking ist dabei nur ein Teil des Ganzen. Google etwa investiert zunehmend in Unternehmen der Medizintechnologie, die sich auf die Zusammenführung von Patientendaten konzentrieren. Was bedeutet das für die Zukunft des Gesundheitswesens?
Von den Daten profitiert zunächst einmal die Wirtschaft. Die Entwicklung der großen IT-Konzerne zeigt, dass sie immer weiter in die verschiedensten gesellschaftlichen Bereiche vordringen, mit denen man vorher nur Gesundheitsunternehmen und Krankenkassen in Verbindung gebracht hat. Wenn man sich etwa einen Überblick über die Struktur des Google-Mutterkonzerns Alphabet verschafft, sieht man, dass wenige Unternehmen eine ganz enorme Machtposition im Gesundheitsbereich haben. Ich sehe auf der anderen Seite aber auch erhebliche Vorteile von Big Data im Gesundheitswesen. Die werden aber in Deutschland zu wenig genutzt, weil wir nicht innovativ und mutig genug in den Digitalisierungsprozess hineingehen.
Wo sehen Sie noch mehr Potenzial?
Ich sehe gerade in der personalisierten Medizin erhebliche Fortschrittsmöglichkeiten. Wenn man beispielsweise Daten von verschiedenen Ärzten und Versorgungsstrukturen miteinander vernetzen würde, müsste man diese nicht mehrfach erheben. Ebenfalls sinnvoll ist die Vernetzung von Patientendaten mit der wissenschaftlichen Literatur. So lässt sich etwa schneller das richtige Medikament in der richtigen Dosierung finden. Darüber hinaus können anhand unterschiedlicher Datenarten Profile erstellt werden, mit deren Hilfe sich das Risiko für bestimmte Erkrankungen berechnen lässt. Darauf kann man dann versuchen, mit präventiven Maßnahmen zu reagieren. Solange alles unter Wahrung der Privatheit und Selbstbestimmung läuft, würde das großartige Vorteile bringen.
Woran scheitern solche Möglichkeiten heute noch?
Zum einen brauchen wir deutlich mehr IT-Kompetenz. Wir brauchen aber auch eine höhere Qualität für die Systeme. Die Algorithmen heutiger Gesundheits-Apps sind größtenteils noch nicht so genau, dass sie medizinischen Standards entsprechen. Eine 80-prozentige Genauigkeit beispielsweise würde bei ganz vielen medizinischen Anwendungen nicht ausreichen. Dadurch könnte es zu gefährlichen Handlungsempfehlungen kommen. Zum Beispiel sind Apps, die Hautveränderungen diagnostizieren sollen, heute noch viel zu ungenau.
Wie erforschen Sie bei ceres den digitalen Wandel im Gesundheitswesen?
Wenn wir über digitale Transformation sprechen, kommen wir nur dann weiter, wenn wir einzelne Anwendungsbereiche in den Blick nehmen. Deswegen haben wir auf einer Tagung Anfang des Jahres vier Bereiche in den Fokus gestellt: Arbeit, Gesundheit, Konsum und Beziehungen. In einer Studie haben wir ein Konzept digitaler Selbstbestimmung erarbeitet. Auf dieser Grundlage haben wir in einer empirischen Erhebung über tausend Menschen zu ihren Vorstellungen zur digitalen Selbstbestimmung befragt. Dabei haben wir ein paar sehr interessante Dinge herausgefunden, auf deren Grundlage wir weitere Forschung durchführen möchten.
Ist die Politik auf diesen Paradigmenwechsel vorbereitet?
Bei der enormen Geschwindigkeit der Entwicklung ist es schwierig, einen politischen Rahmen zu gestalten, der im besten Fall sogar global verbindlich ist. Die Politik steht vor der Herausforderung, dass sie diese Entwicklungen zum einen regulieren muss, weil hochrangige Güter wie Selbstbestimmung, Privatheit und Gerechtigkeit auf dem Spiel stehen, gleichzeitig aber auch einen fördernden Rahmen schaffen soll. Die EU-Datenschutz-Grundverordnung zum Beispiel folgt einem überholten Paradigma – nämlich dem Grundsatz der Datensparsamkeit. Das ist aber angesichts unserer technologischen Möglichkeiten nicht immer der richtige Weg. Mir leuchtet auch nicht ein, warum das so vorrangig sein soll – es ist gut, viele Daten zu haben. Wir fordern doch seit Jahrhunderten aus ethischer Perspektive, dass man den Menschen ganzheitlich in den Blick nehmen soll. Aber dann muss man auch die unterschiedlichen Daten zusammenführen dürfen.
Wir brauchen Ihrer Meinung nach also keine stärkere Regulierung?
Regulierung heißt ja nicht nur verbieten oder einengen. Die EU sollte stärker den gesamten Prozess in den Blick nehmen, also neben der Datengewinnung auch deren Verarbeitung und Nutzung. Viel wichtiger als eine möglichst geringe Gewinnung von Daten ist es meiner Meinung nach zum Beispiel, den Missbrauch oder Diebstahl von Daten massiv unter Strafe zu stellen.
Wenn Sie einen Blick in die Zukunft wagen: Sehen Sie die Rolle von Big Data im Gesundheitswesen optimistisch oder pessimistisch?
Ich bin davon überzeugt, dass Menschen ein tief verankertes Bedürfnis haben, frei zu sein und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Selbst wenn man eine gewisse Zeit lang in die Bequemlichkeitsschiene hineinrutscht oder sich einmal von der Werbung über den Tisch ziehen lässt, wird es immer auch Menschen geben, die vieles hinterfragen und gegenreagieren. Solange wir alles dafür tun, unsere demokratische Ordnung aufrecht zu erhalten, bin ich optimistisch.