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Ende der Ära Merkel – Bilanz und Ausblick

Seit 2005 ist Angela Merkel Deutschlands erste Bundeskanzlerin. Jetzt steht die Bundestageswahl 2021 vor der Tür, in der Merkel nicht mehr zur Wahl steht und eine Ära neigt sich dem Ende zu. Was waren ihre größten Erfolge und welche Fehler hat Merkel in den 16 Jahren ihrer Kanzlerschaft gemacht? Professor Dr. Thomas Jäger vom Lehrstuhl für Internationale Politik und Außenpolitik ordnet ihre Zeit als Kanzlerin ein und gibt auch einen Ausblick auf wichtige Aufgaben einer neuen Regierung.

Interview mit Professor Dr. Thomas Jäger

Ein Ende der Ära Merkel steht bevor. Wie würden Sie die Kanzlerinnenschaft von Angela Merkel im Rückblick charakterisieren?

Die größte Leistung von Angela Merkel war, sechzehn Jahre Kanzlerin zu sein und die Unionsparteien dabei auch zu wenig präferierten Entscheidungen zu bewegen. Von Beginn an war Merkels Amtsführung davon geprägt, dass kein Fehltritt ihr Verbleiben im Amt gefährden sollte. Das war nach ihren Erfahrungen der ersten Jahre als CDU-Vorsitzende, als sie noch inhaltliche Positionen bezog, die wichtigste strategische Anlage ihrer Kanzlerschaft. Vorsicht walten lassen, sich spät festlegen, Ruhe bewahren. Ihre politischen Positionen wurden daraufhin bis zur Beliebigkeit flexibel. Deswegen wird man im Rückblick zwar die Herausforderungen während ihrer Kanzlerschaft erkennen – die Finanz- und Eurokrise, den Konflikt in der Ukraine und Russlands militärischer Ausgriff, die Migrations- und Asylpolitik, den Abzug aus dem langen Krieg in Afghanistan, die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und die strategische Autonomie der Europäischen Union -, aber die Historiker werden über keine effektiven Leistungen der Kanzlerin berichten können. Von ihrer Kanzlerschaft bleibt nichts, was dauert. Das liegt daran, dass sie weder eine Idee hatte, wohin sich Deutschland und die EU bewegen sollten, noch versucht hat, im Rahmen  ihrer Handlungsmöglichkeiten ordnungspolitische Ziele strategisch umzusetzen. Sie wurde sie die Kanzlerin der vorsichtigen, kleinen, tastenden Handlungsschritte, immer darauf bedacht, nichts grundlegend falsch zu machen, was ihr angerechnet werden kann und alles was unglücklich lief, von der öffentlichen Aufmerksamkeit abzuschirmen.
 

vergrößern: Francois Hollande, BKin Angela Merkel in Berlin
Foto: 360b / shutterstock.com

In den Medien sah das freilich ganz anders aus, da wurde sie zur mächtigsten Frau der Welt und Anführerin des Westens stilisiert (und vom Spiegel sogar zu „Mutter Theresa“). Aber das sind weitgehend substanzlose Spiegelungen einer hochprofessionellen Medienarbeit aus dem Bundeskanzleramt. Es begann mit der „Klimakanzlerin“ – rote Jacke vor steinig weißer Landschaft -, setzte sich mit der Raute fort, die zum Symbol ihrer Kanzlerschaft wurde, und zeigte sich vor allem auch im Verschwinden, also darin, dass sie zu bestimmten Ereignissen schlicht nicht zu sehen war – etwa als der lange Einsatz in Afghanistan beendet wurde oder Terroranschläge in Dresden und Würzburg das Land erschütterten. In der Medienarbeit war ihre Kanzlerschaft wirklich professionell.

Welche Erfolge und welche Fehlschläge waren in Merkels Zeit als Kanzlerin besonders bedeutend?

Das ist nicht leicht zu sagen, denn es kommt immer darauf an, für wen Entscheidungen Erfolg oder Misserfolg brachten. Der bedeutendste Erfolg gilt ihr selbst: Sie blieb 16 Jahre mit unterschiedlichen Koalitionen im Amt. Das war auch ihr wichtigstes Ziel. Ansonsten werden die Bewertungen weit auseinandergehen, je nachdem, welche Interessen vorherrschen. Für die Befürworter von Nord Stream 2 war es ein Erfolg, dass sie den Bau der Pipeline politisch absicherte. Die Gegner der Pipeline beurteilen das anders. Das ist mit den Corona-Bonds nicht anders, die aus europapolitischer oder ökonomischer Sicht unterschiedlich bewertet werden. Die Minsker Vereinbarungen fanden keinen tragfähigen Kompromiss für eine Lösung der Lage in der Ukraine und das wird in Russland anders bewertet als in der Ukraine. Die asylpolitischen Interessen in der EU liegen weiterhin weit auseinander und das bewerten die Regierungen gerade mit Blick auf eine zukünftig erwartete große Zahl an Asylsuchenden unterschiedlich.

Viele Versäumnisse ihrer Amtszeit sind struktureller Natur. Dass die europäischen Streitkräfte nicht in der Lage sind, ernsthafte Einsätze eigenständig durchzuführen, ist lange bekannt und wurde unter ihrer Kanzlerschaft nicht behoben. Die für die Europäische Union so wichtige Zusammenarbeit Deutschlands mit Frankreich blieb stets prekär, von unterschiedlichen Interessen geprägt und ist am Ende unergiebig geblieben. Die Beziehungen zu den USA leiden an mangelnder Handlungsfähigkeit der EU und die zu China am eng fokussierten Blick auf die Interessen deutscher Unternehmen. Für die Außenpolitik ist es nicht gelungen, eine nationale Sicherheitsstrategie zu entwickeln. Das Ende des Einsatzes in Afghanistan dokumentierte diese Defizite allesamt deutlich.

vergrößern: Flüchtlinge mit Schild "My Family is waiting for me"
Foto: Fishman64 / shutterstock.com

Was waren aus Ihrer Sicht die wichtigsten Themen, die sie gesetzt hat?

Bundeskanzlerin Merkel hat keine Themen gesetzt, sondern sie entweder aus wahlpolitischen Gründen abgeräumt (unter anderem das Laufzeitende für Atomkraftwerke und die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare) oder ist auf ihnen gesurft.

Sie hat die Gelegenheiten, die sich in den jeweiligen Entwicklungen öffneten, genutzt. Weniger hat sie diese hervorgebracht. Eine Ausnahme gab es davon: die Migrationskrise 2015, als sie die Entwicklung der öffentlichen Meinung für kurze Zeit nicht mitvollzog, dann aber ganz rasch nachjustierte. So wie es in der deutschen Außenpolitik kein Markenzeichen von Merkel gibt (anders bei Adenauer: Westintegration, Brandt: Ostpolitik, Schmidt: G7-Prozess, Kohl: Deutsche Einheit), so steht auch innenpolitisch wenig zu Buche außer der geschmeidigen Anpassung an die öffentliche Meinung. Die wohltemperierte Akzeptanz selbst der fernliegenden Entscheidungen in der Bundestagsfraktion – die Aussetzung der Wehrpflicht und das Laufzeitende für Atomkraftwerke, beides weit weg von traditionellen CDU/CSU-Positionen – gründete darin, dass Merkel Wahlerfolge garantierte. Wobei das Bild täuscht. Nur 2013, als die FDP aus dem Bundestag flog, brachte Merkel die Unionsparteien zu 41,5 Prozent. Die anderen Ergebnisse waren weit schwächer. 2005 waren es 35, 2009 dann 33 und 2017 noch 32 Prozent. Im veränderten Parteiensystem, mehr Parteien und zwei mit denen Koalitionen ausgeschlossen wurden, stellte der Amtsbonus das Regieren auf Dauer, auch ohne dass es zündende und dann auch umgesetzte Themen gab.

Welche Bedeutung sehen Sie darin, dass mit Angela Merkel erstmals eine Frau Kanzlerin war?

Für Deutschland war das eine wichtige Erfahrung. Sie hat das, was normal sein sollte, normalisiert. In der internationalen Politik gab es mit Golda Meir, Indira Gandhi und Magret Thatcher schon zuvor einflussreiche Regierungschefinnen und in den USA mit Madeleine Albright, Condoleezza Rice und Hillary Clinton bedeutende Außenministerinnen.
Bundeskanzlerin Merkel hat zwei Frauen besonders gefördert. Ursula von der Leyen und Annegret Kramp-Karrenbauer, die beide für ihre Nachfolge im Gespräch waren. Annette Schavan, die dritte Ministerin, war für höhere Aufgaben nicht vorgesehen, und musste wegen einer getäuschten Dissertation ausscheiden. Seitens der CDU waren in den vier Kabinetten außerdem noch Christina Schröder, Johanna Wanka, Julia Klöckner, Anja Karliczek vertreten. So richtig gefördert hat Merkel allerdings immer nur eine Person: sich.

vergrößern: Merkel bei Pressekonferenz vor US-Flagge und deutscher Flagge
Foto: Nicole Glass Photography / shutterstock.com

Gerade international, zum Beispiel in den USA, gilt Angela Merkel als besonders beliebt. Teilen Sie diese Einschätzung?

Die Zustimmung zu Bundeskanzlerin Merkel hat in der amerikanischen Öffentlichkeit erst unter Präsident Trump stark zugenommen und ist dann auf über 60 Prozent gestiegen. Das spiegelte das Misstrauen der Amerikaner in den eigenen Präsidenten und zeichnete die tiefe Polarisierung der USA nach. Es hatte also weniger mit Merkel als dem inneren Zustand der USA zu tun, der hier projiziert wurde. Im Verlauf ihrer langen Kanzlerschaft lag die Zustimmung in den USA am Anfang um vierzig, in den späteren Jahren um fünfzig Prozent. Damit lag die Zustimmung in den USA höher als in Italien, aber deutlich tiefer als in den Niederlanden, Schweden und Frankreich. Das reflektiert die Rolle von Bundeskanzlerin Merkel in der Europäischen Union, da sie häufig die Interessen der nördlichen Länder anführte.

Was sind die wichtigsten Themen, denen sich die nächste Regierung und mit ihr der nächste Kanzler oder die nächste Kanzlerin gegenübersehen wird?

Das besondere Kennzeichen dieser Bundestagswahl ist ja, dass am Ende wohl drei oder vier Parteien eine Koalition bilden müssen und keine Partei sich vorher festlegen möchte. Die Parteiführungen sichern sich so größere Entscheidungsfreiheit. Von der Konstellation wird jedoch abhängen, welche Themen und vor allem welche Maßnahmen besonders in den Vordergrund gerückt werden.

Die Folgen der Pandemiepolitik, der Klimawandel, die Energieversorgung, die Steuergerechtigkeit angesichts der hohen Schulden, die Sicherung von Wirtschaftswachstum im globalen Wettbewerb, die Migrations-und Asylpolitik, die Fortentwicklung der Europäischen Union, die Gestaltung der transatlantischen Beziehungen, die Beziehungen zu Russland und China, die Stabilität des geographischen Umfelds der EU sind ja nur einige Stichworte, die ausmessen, vor welchen Herausforderungen die neue Bundesregierung stehen wird. Bundeskanzlerin Merkel hinterlässt ausreichend viele Aufgaben.

vergrößern: Nato-Flagge, dahinter Fahnen der Mitgliedstaaten
Foto: Alexandros Michailidis / shutterstock.com

Was werden die größten internationalen Aufgaben und „Baustellen“ einer neuen deutschen Regierung sein? Was sind zentrale alte und mögliche neue internationale Konflikte oder Kernthemen?

Die größte Herausforderung besteht außenpolitisch darin, die Position Deutschlands im Konflikt zwischen den USA und China neu zu bestimmen. Die Unbestimmtheit der wirtschaftlichen Schaukelpolitik, die Bundeskanzlerin Merkel vertrat, nachdem sie zu Beginn ihrer Amtszeit noch den Dalai Lama im Bundeskanzleramt empfangen hatte, was Außenminister Steinmeier aufbrachte, wird nicht durchzuhalten sein. Das hat Auswirkungen nicht nur auf die Sicherheitslage Deutschlands, sondern auch auf die wirtschaftliche Entwicklung. In diesem Kontext steht die Neuausrichtung der NATO an, die in den nächsten Jahren ihr strategisches Konzept 2030 verabschieden und mit Fähigkeiten unterlegen muss. Die Perspektive einer strategischen Autonomie der Europäischen Union – also der autonomen Handlungsfähigkeit in internationalen Krisen – kommt hier auf den Verhandlungstisch.

Aktuell werden die Auswirkungen der Pandemiepolitik, der ökologische Umbau der Wirtschaft und die Energiesicherheit zentrale Themen sein, die alle auch internationale Dimensionen aufweisen.

 

Die Fragen stellte Sarah Brender.

Über Thomas Jäger

Professor Dr. Thomas Jäger ist Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist unter anderem Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste sowie des Wissenschaftlichen Beirats der Bundeszentrale für politische Bildung. Jäger ist Herausgeber der „Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik“ und Gastkolumnist auf Focus Online.