zum Inhalt springen

Klimaarchiv Antarktis

Was uns vergangene Eiszeiten über die Zukunft unseres Klimas sagen

 

Die Erforschung der Polargebiete ermöglicht einen Blick in das Klima vergangener Zeiten. Mit den Informationen, die auf dem Grund des antarktischen Ozeans gespeichert sind, lassen sich aber auch Modelle für die Zukunft unseres Planeten erstellen. Ein internationales Forschungsteam hat durch Bohrungen im Weddell-Meer bedeutende Erkenntnisse über das Ende der letzten Eiszeit gewonnen. Der führende Wissenschaftler ist der Kölner Paläoklimatologe Dr. Michael Weber.

 

November 1989. Während in Deutschland die Wende in vollem Gange ist, bricht auf der anderen Seite der Erde der deutsche Eisbrecher Polarstern zu einer Expedition in die Antarktis auf. Mit an Bord ist der junge Wissenschaftler Michael Weber. Sein Ziel: der südöstliche Teil des Weddell-Meeres. Für seine Doktorarbeit benötigt er Bohrkerne vom Meeresboden des antarktischen Ozeans. Einige der Sedimentproben bearbeitet Weber später im Labor, der Großteil aber landet für viele Jahre im Archiv.

Zwei Jahrzehnte später bilden diese Bohrkerne schließlich die Grundlage für einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Eiszeiten. Der mittlerweile habilitierte Weber hat zusammen mit seinen Kollegen herausgefunden, dass die Eisschilde der Arktis und Antarktis fast gleichzeitig ihre maximale Ausdehnung erreicht hatten und vor 19.000 Jahren zu schmelzen begannen: „Der Rückzug der Antarktischen Eisschilde begann somit fast 5.000 Jahre früher als bisher angenommen“, sagt Weber. Die Ergebnisse seiner Forschung erschienen letztes Jahr in der renommierten Fachzeitschrift „Science“.

 

Bohrkerne aus der Tiefsee bilden den Schlüssel zur Erforschung der Eiszeiten

 

Wer die Zukunft unseres Klimas verstehen will, muss einen Blick in die Vergangenheit werfen. Auf der Erde gibt es eine Vielzahl an natürlichen Archiven, die noch unerforscht sind. In den Polargebieten der Erde etwa sind Informationen gespeichert, die Millionen von Jahren zurückliegen. Informationen, die grundlegende Hinweise zur Veränderung unseres Klimas liefern.

Wenn Michael Weber mit der Polarstern oder anderen Forschungsschiffen in der Antarktis ist, interessiert er sich vor allem für Bohrkerne vom Meeresgrund der Ostantarktis. Die Polarstern ist eines der leistungsfähigsten Forschungsschiffe der Welt. Als Eisbrecher konstruiert eignet sie sich perfekt für den Einsatz in Arktis und Antarktis. Seit 1982 hat sie über 50 Expeditionen in den Polargebieten abgeschlossen. Auf dem deutschen Multifunktionsschiff arbeiten neben Geologen auch Wissenschaftler aus vielen anderen Naturwissenschaften: Biologen, Chemiker und Ozeanographen, um nur einige zu nennen. Das Schiff ist an über 300 Tagen im Jahr auf See. Dabei bereist es für gewöhnlich das Polargebiet, in dem gerade Sommer ist. Auf dem Schiff befindet sich ein Bohrgerät, mit dem sich Bohrkerne auch aus größeren Wassertiefen gewinnen lassen. Dazu lässt die Crew ein etwa 15 Meter langes Stahlrohr über eine Seilwinde langsam ins Wasser. Etwa eine Stunde später und 3000 Meter tiefer hat das Rohr den Meeresgrund erreicht. Ein Kopfgewicht von mehreren Tonnen sorgt für die entsprechende Beschleunigung auf den letzen Metern. „Im Optimalfall steckt das Rohr dann bis zu dem Kopfgewicht im Boden“, erklärt Weber. „Wenn es aber nicht richtig aufkommt, kann da auch schnell was kaputt gehen. Das ist eine Sache der Erfahrung, ein wenig Glück gehört aber auch dazu.“ Anschließend holen die Forscher das mit Sediment gefüllte Rohr zurück an Bord, wo es in Meterstücke zerteilt und beprobt wird.

 

Vor 19.000 Jahren zog sich das Schelfeis abrupt zurück

 

Jetzt beginnt die eigentliche Forschung. Jedes Meterstück wird noch einmal längs in zwei Hälften unterteilt. Eine ist für die Ewigkeit vorgesehen und wandert unberührt ins Archiv des Alfred-Wegener-Instituts. Mit der anderen Hälfte führen die Wissenschaftler eine Reihe von Untersuchungen zu Sedimenteigenschaften oder zur Altersbestimmung durch.

Anhand der Bohrkerne konnte Weber mit seinen Kollegen den Vorgang rekonstruieren, der vor 19.000 Jahren zum Schmelzen der antarktischen Eisschilde führte. Stark vereinfacht lässt er sich folgendermaßen beschreiben: Während der letzten Eiszeit schob das Schelfeis kontinuierlich lockeres Gestein vor sich her, das schließlich über die Kante rutschte und im Ozean landete. In den Bohrkernen kann man sehen, dass dieses Material auf dem Meeresgrund so genannte Warven bildete. Das sind jahreszeitlich variierende Ablagerungen, die ähnlich wie Baumringe einzelne Schichten bilden. Je nach Strömungsstärke wurde mal feineres und mal gröberes Material abgelagert. Lange fand dadurch eine Sedimentierung von zwei bis vier Metern pro Jahrtausend statt, bis dann schließlich vor 19.000 Jahren dieser Prozess abrupt aufhörte. Von nun an betrug die Ablagerung nur noch wenige Zentimeter pro Jahrtausend. An Stelle der geschichteten Warven trat außerdem eine Sedimentschicht, in der Lebewesen ihre Spuren hinterlassen haben. „Daraus können wir die Schlussfolgerung ziehen, dass sich der antarktische Eisschild vor 19.000 Jahren zurückgezogen hat, die Meereisdecke aufriss und kein neues Sediment mehr in den tiefen Ozean geschoben wurde“, erklärt Weber.

 

Überlieferer der Eiszeiten

 

Für die Datierung dieser Prozesse entnahmen Weber und seine Kollegen den Bohrkernen Proben, in denen so genannte kalkschalige Foraminiferen vorkommen. Das sind einzellige Mikroorganismen, die einst an der Wasseroberfläche lebten und deren fossile Überreste hauptsächlich auf dem Meeresboden zu finden sind. Die isotopische Zusammensetzung ihrer Schalen weist auf Temperatur und Salzgehalt des Wassers hin. „Für unsere Forschung in der Antarktis sind Schwankungen des Salzgehalts im Wasser wichtig“, erklärt Weber. „Wenn ein Eisberg von der Schelfeiskante abbricht und zu schmelzen beginnt, dann kommt sehr viel Süßwasser in den Ozean. Durch die Kalkschaler können wir also rekonstruieren, wann es Phasen gegeben hat, in denen der Eisschild intensiv abgebrochen ist.“

Foraminiferen sind in der Antarktis allerdings sehr selten. Hier eine ausreichende Menge zu finden, ist mühsame Puzzelarbeit kombiniert mit einem Quäntchen Glück. Mittlerweile konnten Wissenschaftler jedoch das Analyseverfahren deutlich verbessern. Für die Auswertung benötigen sie heute viel weniger Foraminiferen als vor zwanzig Jahren. „Das zeigt, wie wichtig Tiefwasserarchive für die  Erforschung der Polargebiete sind“, betont Weber. „Mit neuen Forschungsmethoden und Erkenntnissen können wir uns heute einer Datenbank von archivierten Bohrkernen bedienen.“ Im Alfred-Wegener-Institut liegen nach wie vor viele Bohrkerne, die noch unberührt sind und darauf warten, erforscht zu werden. Für die Wissenschaftler ist es dabei egal, wer die Bohrkerne wann gezogen hat. Alle müssen bestimmte Standardparameter erfüllen, damit die Daten der Forschung zur Verfügung stehen.

 

Der Meeresspiegel steigt deutlicher als erwartet

 

Die Informationen aus den Bohrkernen benötigen Klimaforscher zur Optimierung ihrer Modelle. Klimamodelle werden mit Hilfe von komplexen Computersimulationen erstellt, um das Klima für einen bestimmten Zeitabschnitt zu berechnen. Dabei handelt es sich allerdings nicht um hundertprozentig sichere Prognosen, sondern lediglich um eine Annäherung an mögliche Szenarien.

Der Anstieg des Meeresspiegels ist neben der Temperaturentwicklung eine zentrale Komponente des Klimawandels. Durch das Schmelzen von Gletschern und Eisschilden gelangt zusätzliches Wasser in die Weltmeere. Mit einem Modell namens „Sea-Level Fingerprinting“ konnten Weber und seine Kollegen berechnen, was passiert, wenn der Eisschild in der Nordhemisphäre so weit abschmilzt, dass der Meeresspiegel weltweit um 10 Meter ansteigt. Arktis und Antarktis sind dabei keinesfalls so isoliert voneinander wie lange Zeit angenommen. „Wenn das Eis in der Arktis schmilzt, dann hat das einen unmittelbaren Effekt auf die Antarktis. Dadurch, dass der Meeresspiegel steigt, hebt er das Eis an der antarktischen Schelfkante. Die nachrückenden Eismassen des Inlandes schieben es schließlich ins Meer, wo es abbricht“, so Weber.

Eine zweite Komponente, die zum Schmelzen des Antarktischen Eisschildes führen kann, ist die Erwärmung der Ozeane. Durch Tiefwasserzirkulationen gelangt Wärme an die Basis der Gletscher, dort wo sie einige hundert Meter unter der Wasseroberfläche auf dem Kontinent aufsitzen. Weber geht davon aus, dass Warmwasser aus dem Nordatlantik vor 19.000 Jahren durch ein Anspringen der Zirkulation im Weddell-Meer das Eis zum Schmelzen gebracht haben könnte.

Bisher sahen Wissenschaftler besonders die Abschmelzrate der Westantarktis als problematisch. Ihr Eisschild liegt fast auf Meeresniveau und verliert daher leicht Masse an den Ozean. Dagegen galt der Ostantarktische Eisschild bislang als vergleichsweise stabil.

Ein Rückzug der Eisschicht findet aber auch hier statt, wie die Auswertung der Tiefseebohrkerne zeigt. Weber geht zwar nicht davon aus, dass die Ostantarktis so instabil ist wie die Westantarktis, nur ist die Ostantarktis um ein Vielfaches größer. Ein kleiner Vergleich: Wenn die Westantarktis vollständig abschmilzt, steigt der Meeresspiegel um bis zu sieben Meter. Bei der Ostantarktis wären es dagegen 70 Meter. Das ist allerdings eine rein theoretische Überlegung, denn ein solches Szenario würde Jahrmillionen dauern.

„Wenn es tatsächlich so ist, dass der Ostantarktische Eisschild in der Vergangenheit stärker zum Anstieg des Meeresspiegels beigetragen hat, dann war er deutlich instabiler, als wir das bisher angenommen haben“, erklärt Weber. Diese Instabilität sollte demnach in zukünftigen Klimamodellen berücksichtigt werden. Die Abschmelzrate des antarktischen Eisschildes und daraus resultierende Prognosen für den Anstieg des Meeresspiegels müssen sehr wahrscheinlich nach oben korrigiert werden. Ob es sich dabei um einige Zentimeter oder gar um Meter handelt, ist allerdings unklar.

Momentan arbeitet Weber an einer Studie, die Aufschluss darüber geben soll, wo und wann genau das antarktische Eis geschmolzen ist während der Meeresspiegel seit Ende der letzten Eiszeit um 120 Meter angestiegen ist: „Für den bisher weitgehend unbekannten Anteil der Antarktis zum Meeresspiegelanstieg haben wir fundamental neue Erkenntnisse. Sie dürften für das Verständnis der Prozesse sowie für künftige Meeresspiegelprognosen von noch größerer Bedeutung sein als unsere zurückliegende Studie zur Ausdehnung der Eisschilde“, so Weber.

 

Wir leben in einer außergewöhnlich langen Warmzeit

 

Für den Wechsel zwischen Eiszeiten und Warmzeiten gibt es viele Ursachen, die noch nicht alle vollständig aufgeklärt sind. Wissenschaftler sind sich aber einig, dass der Strahlungshaushalt der Erde dabei eine wichtige Rolle spielt. Die theoretischen Überlegungen zu diesem Phänomen erbrachte der jugoslawische Geophysiker und Mathematiker Milutin Milankovi? bereits in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Eine internationale Anerkennung erfuhr seine Forschung zum Strahlungshaushalt der Erde allerdings erst viele Jahre später. Kurz gesagt, beinhaltet die Theorie Folgendes: Die Drehung der Erde um ihre eigene Achse und um die Sonne unterliegt regelmäßigen Veränderungen, die dazu führen, dass die Einstrahlung von Sonnenlicht zyklisch variiert. Das wiederum hat einen Einfluss auf das Klima zur Folge und führte in der Vergangenheit zum Wechsel zwischen Eiszeiten und Warmzeiten. Obwohl es noch einige unerklärte Abweichungen gibt, stützen Webers Forschungsergebnisse die Theorie von Milankovi? weitgehend.

Obwohl wir momentan in einer Warmzeit leben, sind die Polkappen unseres Planeten vergletschert. Das war nicht immer so. Zur Zeit der Dinosaurier etwa war die Erde komplett eisfrei. Erst vor 33 Millionen Jahren gab es in der Antarktis eine erste leichte Vereisung, in der Nordhemisphäre sogar erst vor drei Millionen Jahren. Auch wenn das wie eine Ewigkeit scheint, ist es in der Geschichte der Erde nur ein sehr kurzer Zeitraum. Während der Spitze der letzten Eiszeit reichte die Vereisung weit über die Pole hinaus. Das Münsterland beispielsweise war vor etwa 20.000 Jahren eine Eiswüste. Momentan hingegen leben wir in einer außergewöhnlich langen Warmzeit, in einem so genannten Interglazial.

Prognosen für zukünftige Eiszeiten lassen sich nur bedingt erstellen. „Eigentlich könnten wir jetzt erwarten, dass wir langsam wieder in eine Kaltzeit kommen“, sagt Weber, „allerdings sorgt der Mensch momentan für das Gegenteil, indem er das CO2-Niveau deutlich anhebt. Wie das Spiel ausgeht, das weiß niemand.“