zum Inhalt springen

 

Mittel für den Frieden finden

Kölner Ethonolgen erforschen Möglichkeiten der Konflikttransformation in Nord-Uganda


Von Robert Hahn


Über zwanzig Jahre tobte im Norden Ugandas ein grausamer Bürgerkrieg. Zehntausende von Menschen wurden im Laufe des Konflikts getötet, verstümmelt oder entführt. Landstriche sind entvölkert und die Dörfer verlassen. Über eine Million Vertriebene aus der Ethnie der Acholi leben seit mehr als einem Jahrzehnt in den Flüchtlingslagern der Regierung. Ein Waffenstillstandsabkommen aus dem Jahr 2006 und ein Abkommen zur Gerechtigkeit und Versöhnung zwischen der ugandischen Regierung und den Rebellen der Lord‘s Resistance Army (LRA), das 2007 geschlossen wurde, könnte nun die Gelegenheit bieten, die Menschen zurück in ihre heimatlichen Dörfer zu führen.

Doch die Probleme, die dabei anstehen, sind enorm: Wie soll man die entführten Kindersoldaten der Rebellen wieder in die Gesellschaft integrieren? Wie kann man wieder zu einem friedlichen Zusammenleben finden, wenn die junge Generation in den Lagern bereits alle kulturellen Mechanismen vergessen hat, die die Acholi- Kultur einst am Leben hielten? In der komplexen Gemengelage von historischen, ethnischen und soziokulturellen Faktoren untersuchen Martin Rössler, Lioba Lenhart und Ulrike Wesch vom Institut für Ethnologie die Möglichkeiten der Konflikttransformation und des Friedensprozesses in der Region.

Martin Rössler weiß, dass es keinen einfachen Weg zum Frieden in der Region geben wird. Zusammen mit seinen Mitarbeiterinnen Lioba Lenhart und Ulrike Wesch erforschte der Direktor des Kölner Instituts für Ethnologie in seiner von der DFG geförderten Studie „Ethnologische Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung: der Konflikt im Norden Ugandas“ zwei Jahre lang die Mittel, um einen stabilen Frieden zu erreichen. Die Ausgangslage dafür ist denkbar ungünstig: Zwanzig Jahre Krieg haben die Gesellschaft im Norden Ugandas zutiefst verändert. Terror, Tod und Zerstörung haben die Menschen und ihre Kultur entwurzelt. Insbesondere durch die von der Regierung seit den neunziger Jahren betriebene Umsiedlung der Landbewohner in die großen Flüchtlingslager wurden die traditionellen Regeln außer Kraft gesetzt. Als Resultat des Krieges ist ein vollkommener Zusammenbruch der kulturellen und sozialen Infrastruktur einer Ethnie eingetreten. „Da kann man auch nicht sagen: Es ist jetzt wieder Frieden und wir kehren wieder zu unserer traditionellen Lebensweise zurück“, erklärt Rössler. „Das funktioniert nicht.“

Neue Kriege ohne Fronten

Die Lage in dem kriegsgeplagten Land ist alles andere als übersichtlich. Der Konflikt im Norden Ugandas ist ein Musterbeispiel für Kriege“, denen oft mit Unverständnis und Hilflosigkeit gegenüber steht. Kennzeichnend für solche Kriege ist eine oft untrennbare Vermischung von historischen und sozialen Fronten, von ethnischen Feindschaften und soziokulturellen Besonderheiten,  eine klare Definition der beteiligten Parteien und ihrer Ziele unmöglich macht. „Das ist sehr häufig eine Verschachtelung von Interessen, die jenseits jeglichen Schwarz- Weiß-Denkens steht“, so Martin Rössler. Partikulare Interessen kleiner Gruppen oder einzelner Individuen spielen in dem Konflikt eine ebenso wichtige Rolle, sodass von einer breit angelegten Rebellion der Acholi gegen die Zentralregierung keine Rede sein kann. „Da gibt es große Teile der Bevölkerung, die nichts damit zu tun haben wollen.“ Die nicht identifizierbaren Grenzen zwischen den Konfliktparteien, wechselnde Loyalitäten der Kombattanten, die je nach Opportunität das Lager wechseln, machen ein wissenschaftliches Herangehen schwierig. In diesem Fall muss die Ethnologie zu den Stärken ihrer Methodik greifen: Historische Gründe offen legen, soziale Zusammenhänge beschreiben und die kulturellen Ressourcen vor Ort ermitteln. In der komplizierten Lage in der Region sieht der Wissenschaftler insbesondere seine Disziplin in der Pflicht: „Der Ethnologe ist darauf trainiert, solche Grundlagen von Konflikten zu erkennen. Wir sind die Spezialisten.“

Befragung vor Ort

Um die Daten für ihre Untersuchung zu gewinnen, reisten Lioba Lenhart und Ulrike Wesch in die Krisenregion im Norden Ugandas und zu den politisch aktiven Acholi in der Diaspora in London. Mit ihrer inzwischen wieder aufgelösten Organisation Kacoke Madit (Große Zusammenkunft) Exil-Acholi seit 1996 für eine friedliche Lösung des Konfliktes und Gespräche zwischen der ugandischen Regierung, der LRA sowie Vertretern lokaler Friedensorganisationen eingesetzt. Auch durch finanzielle und organisatorische Hilfestellungen unterstützen die ausgewanderten Nord-Ugander ihre Landsleute. „Das ist ein recht häufiges Muster“, erklärt Martin Rössler. „Es sind in der Regel relativ gebildete, zum Teil studierte Leute, die mit ihrem Ursprungsland eng verbunden sind. Sie wirken manchmal konfliktverschärfend, manchmal auch friedensfördernd.“ In Gulu, dem regionalen Zentrum des Gebiets, in Flüchtlingscamps und Dörfern interviewten die Wissenschaftlerinnen Angehörige aus ausgewählten Bevölkerungsgruppen. Landbewohner, Flüchtlinge, Stadtbewohner und Mitarbeiter der nationalen und internationalen Hilfsorganisationen wurden zu den Friedensprozessen und dem Einfluss der Exil-Acholi befragt. Dabei führten die Wissenschaftlerinnen qualitative und biographische Interviews und verteilten Fragebögen an die verschiedensten Bevölkerungsgruppen von Marktfrauen bis zu Lehrern und Studierenden.

Historische Gründe und kulturelle Muster

Um das Knäuel der Beziehungen der Akteure entwirren zu können, müssen die Ethnologen einzeln den verschiedenen Fäden nachgehen, die zu den Ursachen der Probleme führen. Eine solche Ursache liegt in der Geschichte Ugandas als Kolonie des britischen Weltreiches. Einer Politik des „divide et impera“ folgend, bevorzugten die Kolonialherren die bantusprachigen Ethnien im Süden des heutigen ugandischen Staatsgebietes, während der Norden wirtschaftlich und strukturell benachteiligt blieb. Die daraus entstehende Situation trug sich auch nach der Unabhängigkeit Bevölkerungsmehrheit der Bantu-Völker galt der
Norden als unzivilisiert, Maßnahmen dies zu ändern, unterblieben. So wird die Rolle der Zentralregierung in Kampala auch heute noch zwiespältig von den Acholi beurteilt. Ein weiterer Faden sind die soziale Organisation der betroffenen Gesellschaften und die kulturellen Ressourcen, die daraus entstehen. Bei den Acholi handelt es sich wie in weiten Bereichen Ostafrikas um eine sogenannte segmentäre Gesellschaft, das heißt um eine Gesellschaft ohne zentrale politische Machtinstanz. Die politische Organisationsform basiert auf der Abstammungsgemeinschaft, dem Clan.

Strafen oder verhandeln?

Gesellschaften, die auf diese Weise organisiert sind, verfügen über eine Vielfalt von kulturellen Ressourcen, um im Konfliktfall wieder die gesellschaftliche Balance herzustellen. Diese spezifischen Muster der Konfliktaustragung und -beilegung innerhalb der Clans werden von den Ethnologen als traditionelle restorative Mechanismen bezeichnet und unterscheiden sich deutlich vom westlichen auf Bestrafung ausgelegten Konfliktdenken. „Das verlief im traditionellen Kontext so, dass Konfliktparteien dazu bewogen wurden, Reue zu zeigen, Kompensationsleistungen zu liefern und vor allen Dingen einen friedlichen Status Quo in der Gemeinschaft wiederherzustellen“, erklärt Martin Rössler. Doch dem Ethnologen ist klar, dass die Acholi im Kontext des jahrzehntelangen gewaltsamen und äußerst grauenvollen Konflikts diese kulturellen Werkzeuge nicht mehr anwenden können. Denn die Gewalt während des Krieges hat eine neue Qualität und eine neue Quantität angenommen. „So zu verfahren mit einem Individuum, das aus Motiven, die es vorher nicht gegeben hatte, die eigenen Verwandten abgeschlachtet hat, wird als nicht mehr möglich erachtet. Dann sagen die Leute selbst: ‚Wir sehen nicht, wie unsere traditionellen Wege der Konfliktschlichtung hier greifen können.‘ Das ist nicht vorgesehen, das ist nicht bekannt.“

Wandel in der Konflikbewältigung

Doch auch das moderne westliche Modell des Bestrafens aller Beteiligten, das von der internationalen Gemeinschaft in Form des Internationalen Strafgerichtshofes, verfolgt wird, stößt bei den Acholi auf Ablehnung. Denn es widerspricht nicht nur ihren Traditionen, es lässt auch vollkommen die Frage offen, wie die Rebellen, die zum großen Teil als Kindersoldaten aus ihren Dörfern entführt wurden, wieder in die Gemeinschaft integriert werden sollen.

Einen in dieser Hinsicht interessanten Wandel in der Einstellung der Acholi zu dem Thema Versöhnung oder Bestrafung konnte Rösslers Kollegin Lioba Lenhart in ihrem Teilprojekt „Konfliktbearbeitung, Versöhnungsarbeit und Friedensentwicklung am Beispiel von Nord-Uganda und im interkulturellen Vergleich“ empirisch ermitteln. Ziel der Kölner Forscherin war es, aus konfliktethnologischer Perspektive die Friedensentwicklung in der Region zu beschreiben und im Vergleich mit anderen internationalen Konflikten, wie etwa auf Sri Lanka, im Kongo oder auf dem Balkan, fallübergreifende Aussagen zu den Ursachen und Verläufen von Konflikten sowie den Formen der Konflikttransformation zu treffen. Besonders die kulturellen Konfliktbewältigungsressourcen vor Ort interessierten die Ethnologin. Ihre Forschungen kamen dabei unter anderem zu einem wichtigen Ergebnis: Auch die Acholi selbst betrachten die Möglichkeiten zur Konfliktbeilegung zunehmend differenziert. So vertritt ein Großteil der Befragten die Meinung, dass die militärischen Köpfe der Rebellenbewegung nicht mehr nach traditionellem Recht behandelt werden können. Hier muss westliche internationale Bestrafung greifen. Die niedrigeren Ränge hingegen sollten nach Ansicht der Acholi nach traditionellen Mechanismen wieder eingegliedert werden. Ein schwieriges Unterfangen, von dem niemand weiß, ob es funktionieren wird.

Exilanten aus ugandischer Sicht

In dieser verfahrenen Situation kommt einer Gruppe der Acholi-Gesellschaft eine besondere Rolle zu: den Exil-Acholi, die in Großbritannien, Skandinavien und den USA große Gemeinschaften gebildet haben. So war ihre Friedensinitiative Kacoke Madit seit 1996 wesentlich an dem Zustandekommen von ersten Friedensgesprächen beteiligt und legte damit einen Grundstein für die Friedensverhandlungen, die von 2006 bis 2008 in Juba im Südsudan geführt wurden. Wie ist der Blick von außen auf die Lage in Uganda und wie werden die Initiativen der Exilanten von der Bevölkerung vor Ort beurteilt? Diesen Fragen ging Rösslers Doktorandin Ulrike Wesch in ihrem Teilprojekt „Transnationale Friedensarbeit: Die Bedeutung der Friedensinitiativen der Acholi-Diaspora Großbritanniens für die Prozesse des peacebuilding in Wissenschaftlerin sammelte im Zuge des Projekts Daten im Norden Ugandas und in der Londoner Gemeinschaft der Exil-Acholi. Dabei fand die Ethnologin zuerst einmal eine deutliche Teilung des Meinungsbildes in Uganda. „Es kommt drauf an, mit welchen Teilen der Bevölkerung man spricht“, weiß Wesch. „Die Mittel- und Oberschicht sieht definitiv einen großen Einfluss der Diaspora-Gemeinschaft auf den Friedensprozess.“ Die Gründung von Kacoke Madit, die Organisation von verschiedenen Friedenskongressen, wird von den daheim gebliebenen Acholi mit gehobenem wirtschaftlichem und Bildungshintergrund positiv beurteilt. Insbesondere ein Punkt wird hoch eingeschätzt, so Wesch: „Es wird den Exil-Acholi zugute gehalten, dass sie die ersten waren, die es wirklich geschafft haben, Vertreter der LRA und Vertreter der Regierung an einen Tisch zu bringen.“

Unterschiede in der Beurteilung

Eine andere Einstellung zu dem Wirken der Diaspora fand Wesch bei der normalen Bevölkerung, vor allem der ländlichen. So schätzten die Menschen in den Flüchtlingslagern die Einflussnahme der außerhalb Ugandas lebenden Acholi als eher gering ein. Immerhin über neunzig Prozent der Menschen im Norden des Staates gehören zu dieser Gruppe. Sie sahen keinen oder nur geringen Einfluss der Exilanten auf den Friedensprozess und hatten zum großen Teil überhaupt keine Kenntnis über irgendwelche Organisationen aus der Diaspora. „Von 80 Leuten kannten zwei die Organisation Kacoke Madit“, so Wesch. Gemeinsam ist allen Bevölkerungsgruppen die positive Einschätzung der Öffentlichkeitsarbeit der Exilanten. So wurde zum Beispiel mit ihrer Hilfe die Website der regionalen Radiostation in Gulu aufgebaut. „Breite Teile der Bevölkerung sind der Meinung, dass die Exil-Acholi die Öffentlichkeit außerhalb Ugandas auf diesen Konflikt aufmerksam gemacht haben.“ Ein weiterer Punkt, der den in der Diaspora lebenden Acholi von allen angerechnet wird, ist die materielle Unterstützung ihrer Verwandten und Bekannten zu Hause. Diese Unterstützung findet privat auf verwandtschaftlicher Ebene aber auch über kleinere zumeist kirchliche Organisationen statt, die einzelne Projekte vor Ort fördern. „Es gibt in London groß angelegte Fundraisingveranstaltungen. Das gesammelte Geld wird dann zu den jeweiligen Projekten geschickt“, erklärt die Kölner Ethnologin. „Allerdings sieht die Bevölkerung in Norduganda den Einfluss auf den Friedensprozess eher auf einer individuell-familiären Ebene, nicht so sehr auf einer institutionellen oder Organisationsebene.“ Ihre Erfahrungen in Uganda öffneten der jungen Wissenschaftlerin die Türen in London. „Dadurch war eine Gesprächsbasis geschaffen. Die Leute selber waren oft schon seit zehn oder zwanzig Jahren nicht mehr in ihrem Dorf, so dass ich über aktuelle Themen dort berichten konnte.“ So konnte Wesch unter anderem mit dem ehemaligen Projektverantwortlichen von Kacoke Madit sowie weiteren Vertretern der inzwischen aufgelösten Organisation sprechen. Private Kontakte, die sie aus Nord-Uganda mitgenommen hatte, ergänzten ihr Forschungsmaterial. Insgesamt konnte Wesch in London einen deutlichen Unterschied in der Rezeption der Arbeit der Exilanten in Uganda ausmachen: „Die Mitglieder der Diaspora in Großbritannien sehen ihren Einfluss eher auf einer institutionellen oder Organisationsebene und klammern individuelle Austauschprozesse aus.“

Angewandte Ethnologie

 

Für Martin Rössler ist das Engagement für die kriegsgeplagte Region in Afrika mit dem Ende des Forschungsprojekts aber nicht abgeschlossen. Angewandte Ethnologie ist das Prinzip, dass das Kölner Institut in diesem Zusammenhang verfolgt. Denn nach der Grundlagenforschung stellt sich den Ethnologen immer wieder die Frage, was sie selber mit dem erworbenen Wissen positiv bewirken können. Das gilt umso mehr in einer Situation wie in Uganda, erklärt Rössler: „Man kann da nicht sagen: Jetzt habe ich alles in Erfahrung gebracht, jetzt gehe ich wieder an meinen Kölner Schreibtisch, gehabt Euch wohl.“ So pflegen die Kölner intensive Kontakte zum Institute of Peace and Strategic Studies (IPSS) an der Gulu University. Die Zusammenarbeit erstreckt sich auf den Austausch von Gaststudenten und -wissenschaftlern. „Hier ist auf mehreren Ebenen ein bleibender Kontakt und auch ein Anwendungsbezug da“, so Rössler. Ein besonderes Projekt hat sich außerdem seine Kollegin Lioba Lenhart vorgenommen. Um dem Vergessen der eigenen Kultur entgegen zu wirken, hat sich bei den Acholi ein Rat der traditionellen Führer zusammengefunden. Im Auftrag des Rates und mit dessen Hilfe wird die Ethnologin ein Buch über die Acholi zusammentragen, eine Ethnografie, die den Menschen in Zukunft eine Hilfe sein soll, wieder zu einem friedlichen normalen Alltagsleben zurückzukehren. „Man will nicht nur über die Menschen arbeiten, sondern mit den Menschen“, erklärt Martin Rössler. „Bei so einer Thematik geht das eigentlich gar nicht anders.“