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Der Weg von Afrika nach Europa

Von Robert Hahn

Herr Professor Richter, auf welchem Weg ist der moderne Mensch nach Europa gekommen?

Im Fokus der wissenschaftlichen Diskussionen und unserer Untersuchungen stehen zwei mögliche Wanderrouten unserer Vorfahren aus Afrika: eine östliche über das Niltal, den Vorderen Orient und den Balkan und eine westliche über Nordwestafrika, Gibraltar und die iberische Halbinsel. Diese Regionen werden wir im Sonderforschungsbereich 806 „Our way to Europe“ mit archäologischen, geographischen und geologischen Methoden untersuchen. Wir wollen dabei die menschliche Populationsdynamik im späten Quartär erforschen. Das heißt also die Ausbreitung des modernen Menschen – des Homo sapiens sapiens – von Afrika nach Europa in der Zeit zwischen 200.000 und 15.000 vor unserer Zeit.

Welche offenen Fragen wird der SFB beantworten?

Was uns völlig fehlt, ist die Kenntnis des gesamten Kontextes dieser Wanderungsbewegungen: Wie kommt es denn überhaupt zur Entwicklung des modernen Menschen in Ostafrika? Und wie kommt es dazu, dass diese sehr kleine Gruppe dann ein Populationswachstum erfährt und nach Norden wandert? Und wie soll so eine Migration zu verstehen sein? Ist das ein bewusster Aufbruch in neue Gebiete oder ist das ein ökologischer Vorgang, eine Populationsdynamik, die ein neues Habitat einnimmt? All diese Dinge sind völlig offen.

Ökologischer Vorgang, neues Habitat – die Zielrichtung des SFB ist also nicht primär, neue Fossilfunde zu machen?

Nein, denn der Forschungsstand steckt vor allem beim kulturellen und naturräumlichen Kontext der ganzen Entwicklung in Thema. Deswegen spielen in  Sonderforschungsbereich die physischen anthropologischen Forschungen mit Skelettbefunden eine untergeordnete Rolle. Unser Fokus liegt auf der Verbindung zwischen Kulturwissenschaften und Geowissenschaften. Und auf der Frage, Modelle zu entwickeln, wie es überhaupt zu dieser Ausbreitung des modernen Menschen gekommen ist. Wir wollen die zeitlichen Rhythmen bestimmen und die Wege klären, auf denen sie überhaupt stattgefunden hat. Das hat viel zu tun mit der Bewohnbarkeit verschiedener Naturräume zu unterschiedlichen Zeiten.

War die Besiedlung durch den Menschen ein kontinuierlicher Vorgang?

Nein. Diese Ausbreitung ist nicht in einem Zug passiert sondern da gab es zwischendurch vielleicht regionale Ausrottung, Kontraktionen wie zum Beispiel beim Kältemaximum der letzten Eiszeit hier in Europa zwischen 28.000 und 18.000 vor unserer Zeit. Da gab es hier in Mitteleuropa eine völlige Leere. Die Wiederbesiedlung erfolgte seit 18.000. Wenn man zum Beispiel die Siedlungsgeschichte des Rheinlandes betrachtet, dann kann man sagen: Menschen sind hier kontinuierlich erst seit 18.000 Jahren anwesend. Vorher war es 6.000 – 8.000 Jahre menschenleer. Und solche Aufsiedlungsprozesse und auch Rücksiedlungsprozesse menschlicher Populationen wollen wir über den gesamten Zeitraum der letzten 200.000 Jahre bis zum Beginn der Sesshaftigkeit untersuchen. Deswegen gibt es Grabungsprojekte, die in einzelnen Zeitscheiben angesiedelt sind. In Afrika, zum Beispiel in Äthiopien in der Zeitphase um 200.000, aber auch hier in Mitteleuropa in der Zeitum 10.000 oder 15.000. Das wäre die Zeit der Wiederaufsiedlung.

Wie sieht der Forschungsstand zurzeit aus?

Für mich als Archäologen ist die Frage nach der Herkunft des Menschen eines der ganz zentralen Themen, die mich faszinieren. Hier hat es einfach von Seiten der Lebenswissenschaften in den letzten 20 Jahren Fortschritte gegeben, demgegenüber war der archäologische Forschungsstand noch ganz am Anfang.

Welche Beiträge haben die Lebenswissenschaften geleistet?

Untersuchungen von Allan Wilson und Rebecca Cann von der University of California haben gezeigt, dass die heutigen Menschen alle sehr eng verwandt sind und dass der älteste gemeinsame Vorfahre der heute lebenden Menschen erst vor sehr kurzer Zeit auftaucht – vor etwa 200.000 Jahren. Die Untersuchungen basierten auf der Mitochondrien-DNA, die nur über die weibliche Linie weitergegeben wird und deren DNA sich höchstens durch Mutationen verändert. Mutationsraten kann man anhand von aktualistischen Vergleichen schätzen, das sind Vergleiche mit den Mutationsraten, wie es sie heute gibt. So konnte man mit Hilfe der Mitochondrien- DNA einen Stammbaum der Menschheitsgeschichte rekonstruieren. Das ist der Grund, warum man das damals „Black Eve-Theorie“ nannte.

Beim SFB 806 „Our Way to Europe“ sind Wissenschaftler aus Bonn, Aachen und Köln mit dabei. Sie stammen aus verschiedenen Disziplinen, aus naturwissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Fächern. Wieso?

Unsere Zielsetzung ist zugleich eine umwelt- und klimageschichtliche wie eine menschheitsgeschichtliche. Es geht uns um den Kontext der Entstehung und Ausbreitung des modernen Menschen – undder ist nur durch interdiziplinäre Untersuchungenzu erschließen. Denn nur im Zusammenwirkenmehrerer Disziplinen kann man auf die ganzheitliche Beantwortungunserer Fragestellung hinarbeiten. Die Projektekommen dabei aus den drei großenDisziplinen: der Geologie, der Geographieund der Ur- und Frühgeschichte.

Wie sollen bei der Beantwortung IhrerFragen die verschiedenen Disziplinen zusammengreifen?

Die Archäologie wird sich mit Ausgrabungenbeschäftigen, also mit den Populationen.Man kann sagen, dass diearchäologischen Projekte sich dabei aufAusgrabungen in der Nähe bekannter Fossilfundstätten fokussieren. Der archäologische Kontext, welche Jagdbeute, welche Steinartefakte es gab, ist noch relativunbekannt. Dabei konzentrieren wir unsauf solche Regionen und Zeitphasen, in denen die Populationsdynamik bei prähistorischenGesellschaften überhaupt eineRolle spielt. Ich denke da zum Beispiel andas Kältemaximum bis vor etwa 18.000 Jahren.
Die Geographie beschäftigt sich mit der Rekonstruktion der Umwelt und der Erdoberfläche. Die geologischen Untersuchungen schließlich befassen sich hauptsächlich mit der Untersuchung von Süßwasserseebohrkernen. Dazu habenwir hier in den letzten Jahren spezielle Kompetenzen aufgebaut. Wir haben mit Martin Melles, Frank Schäbitz und Stefan Kröpelin hier in Köln Wissenschaftler, die darauf spezialisiert sind.

Im Zuge des SFB wird eine Reihe solcher Bohrungen unternommen. Was ist so besonderes an diesen Bohrkernen?

Diese Süßwasserseen haben sehr fein laminierte Sedimente, in denen die Klimaentwicklungen sehr gut archiviert sind. Dabei haben wir in diesem Bereich eine sehr ambitionierte Idee: Wir wollen eine ganze Kette von Bohrungen in Süßwasserseen unternehmen. Angefangen mit Seen in Äthiopien, über den Ounianga-See im Ost-Tschad, dann im Jordangraben den See Genezareth, bis zum Izniksee in Anatolien, und dem Balkan, wo im Moment am Prespa- und Ohridsee gearbeitet wird. So werden wir nach einigen Jahren eine ganze Kette von feinlaminierten Profilen aus Süßwasserseen haben, die die Klimageschichte eines möglichen Wanderweges unserer Vorfahren aufzeigen.

Neben den genannten Projekten gibt es noch weitere. Der Sonderforschungsbereich besteht insgesamt aus 20 einzelnen Forschungsvorhaben. Wie gliedern die sich?

Die Arbeitsgebiete ergeben sich aus den geographisch möglichen Ausbreitungsrouten. Da untersuchen wir eine westliche Route von der Entstehung in Ostafrika und der Ausbreitung nach Nordwestafrika über Gibraltar nach Spanien. Das ist eine Route, die nach dem momentanen Stand der Kenntnis der fossilen Funde für unwahrscheinlich gehalten wird. Nur ist der Forschungsstand so fragil, dass man das auf gar keinen Fall von vornherein ausschließen kann. Der zweite Korridor, der im Moment auch von den Fossilforschern favorisiert wird, das wäre Nordostafrika, Vorderer Orient, Balkan, Mitteleuropa. Da sind mehrere Projekte angesiedelt.

Kann man denn andere Wanderungsrouten ausschließen?

Es gibt natürlich noch weitere Varianten, zum Beispiel eine Ausbreitung über das Horn von Afrika, Saudi-Arabien, Zentralasien und möglicherweise von dort nach Mittel-Europa. Das sind schon relativ komplexe Szenarien, die wir uns für spätere Forschungsphasen aufgehoben haben.

Welche Fragen sind denn bei der favorisierten Route über das Niltal, den Vorderen Orient, Anatolien und den Balkan besonders interessant?

Innerhalb des zentralen Korridors ist die Frage: Wie kommen die Menschen in den zentralen Orient und wieso verschwinden sie wieder nach einer Zeit? Oder stimmt das gar nicht? Und wie erfolgt die Ausbreitung nach 40.000, die durch viele fossile Funde nachgewiesen ist, über den Balkan. Im Vorderen Orient herrscht ja eine vollkommen andere Umwelt als auf dem Balkan. Irgendwo am unteren Donaulauf war damals der südliche Rand der Mammutsteppe, da waren Mammuts, Rentiere, Pferde und so weiter. Südlich davon ist eine mediterrane Umwelt mit ganz anderen Tierarten: Gazellen und ganz anderem Klimageschehen. Die Frage ist: Wie hat man sich überhaupt diese Ausbreitung in ein vollkommen anderes Ökotop vorzustellen?

Sie sprachen eben davon, dass der Forschungsstand für die Westroute noch fragil sei. Wie können sich unsere Leser das vorstellen?

Fragil ist der Forschungsstand deswegen, weil wir die früheste Zeitstufe des Jungpaläolithikums in Europa, das ist das sogenannte Aurignacien, zwar in Mitteleuropa haben, auf der iberischen Halbinsel aber die Befunde dafür nur bis zum Ebro reichen. Und südlich des Ebro, so stellen sich die iberischen Kollegen das vor, lebten noch Neandertaler. Um 40.000 endete dort das Besiedlungsgebiet des Homo sapiens sapiens, südlich davon sollen die Rückzugsgebiete des Neandertalers gewesen sein. Diese Annahme basiert allerdings auf ganz wenigen Fundstellen, etwa vier bis fünf, letztlich vielleicht sogar nur auf einer spektakulären Fundstelle, Zafaraya in Andalusien. Hier sind Neandertalerreste auf die Zeit um 27.000 vor heute datiert. Wir haben im SFB Projekte auf der iberischen Halbinsel und in Marokko, die solche Fragen untersuchen. 

Reicht denn die Evidenz eines einzigen Fundes für eine Bestimmung aus?

Im Falle von Zafaraya haben wir ein grundsätzliches methodisches Problem mit der Radiocarbondatierung am Knochen, wir können uns nicht auf sie verlassen. Es könnte leicht sein, dass man die Radiocarbondatierung noch mal so korrigiert, dass die Neandertaler dort dann plötzlich zeitlich noch 10.000 Jahre weiter zurück datiert werden können und man dann die ganze These vom Rückzugsgebiet des Neandertalers variieren muss. So ist das vor einigen Jahren im ehemaligen Jugoslawien passiert, wo man auch ganz späte Neandertaler hatte und später durch die Korrigierung der Radiocarbondatierung feststellen musste: Die sind auch nicht jünger als die in Mitteleuropa.

Sie erwähnten eben den Neandertaler. Gibt es da mögliche Einflüsse dieser zweiten intelligenten Menschenart auf die Wanderungen unserer Vorfahren?

Das ist auch eine der Fragen, die in Europa ganz stark diskutiert werden, die aber in weiten Bereichen völlig ungelöst sind. Wie wirkt sich das Vorhandensein enger Verwandter, der Neandertaler, auf die Ausbreitungstendenz des Homo sapiens sapiens aus? Das lässt sich nur klären, wenn man sich die kulturräumlichen Gegebenheiten anschaut und wenn man Genaueres über die Klimaentwicklung der letzten 100.000 Jahre im Vorderen Orient weiß. Im Moment geht man von der iberischen Halbinsel als spätem Rückzugsgebiet aus und von der Besiedlung Europas durch den Homo sapiens über die Ostroute, die ihn von Norden über die Pyrenäen führte. Das kann sich aber schon mit wenigen Funden in Marokko und in Spanien wieder ändern.

Da scheinen noch Unsicherheiten in der Datierung der Funde zu bestehen.
Welchen Beitrag kann der SFB zu diesem Problem leisten? 

Was wir dort im Moment tun müssen, ist vor allem die großen Stratigrafien, das heißt die chronologische Datierung anhand von Erdschichten, die es in Spanien gibt, noch einmal neuen naturwissenschaftlichen Untersuchungen auszusetzen. Das machen wir in der ersten Projektphase:bei vorhandenen Fundstellen, bei denen die bisherigen Datierungen überprüfungswürdig und verbesserungsfähig sind, den klimatischen und umweltgeschichtlichen Kontext erforschen.

Wie weit sind denn die einzelnen Projekte schon gediehen?

Die ersten Feldforschungen haben bereits stattgefunden: die Bohrungen im Izniksee in der Nordtürkei durch ein Bonner Team. Jetzt aktuell laufen Bohrungen im Prespaund Ohridsee zwischen Albanien und Makedonien. Ebenfalls aktuell sind archäologische Ausgrabungen im südlichen Banat, in Rumänien etwa 100 km südlich von Temesvar im Südwesten der Karpaten, die seit anderthalb Monaten laufen. Wir haben da ein Projekt definiert, das sich „Eastern Trajectory“ nennt, das ist mein Hauptund Heimatprojekt, das ich zusammen mit Thorsten Uthmeier von unserem Institut und Frank Lehmkuhl, einem Geographen aus Aachen, durchführe. Wir verfolgen dabei die möglichen Wanderungsrouten über den gesamten Bereich vom Vorderen Orient bis zum Balkan. Da werden wir uns in den nächsten Jahren rauf und runter bewegen. Ich selber habe in diesem Sommer in Jordanien gegraben, in demselben Projekt in dem auch in Rumänien die Grabung läuft.

Gab es schon Erkenntnisse bei diesen Ausgrabungen?

Wir haben uns im Vorderen Orient Bereiche rausgesucht, die archäologisch und
klimageschichtlich besonders schlecht erforscht sind. Zum Beispiel Jordanien, das sehr lückenhaft dokumentiert ist. Dort arbeiten wir in einem Talkessel südlich von Petra, Wadi Sabra. Das Tal ist mit bis zu 25 Meter tiefen Sedimenten gefüllt. Wir haben im Sommer dort eine Reihe von sehr interessanten Fundstellen ausgegraben, die die Zeit von 15.000 - 50.000 Jahren vor unserer Zeit repräsentieren. Wenn das richtig ist, dann hätten wir für diesen Zeitraum ein sehr wichtiges archäologisches und klimageschichtliches Archiv erschlossen.

Wie kann man das datieren?

Wir werden die Funde mit der Optical stimulated luminescence datieren. Bei diesem Verfahren ist die Universität zu Köln führend. Innerhalb der Kölner Geographie gibt es eines der weltweit besten Labore dafür. Man misst die in einem Sandkorn eingefangene Strahlung seit dem Zeitpunkt als es zuletzt dem Tageslicht ausgesetzt und gebleicht wurde. Das ist eine Methode, mit der man relativ zuverlässig 200.000 Jahre zurückdatieren kann. Das reicht weiter zurück als die Radiocarbondatierung, mit der man im Moment nur etwa 50.000 Jahre zurückdatieren kann. Die frühe Geschichte des Menschen ist ein faszinierendes Thema.

Was können wir heute aus diesen Erkenntnissen lernen?

Zuerst einmal: Alle modernen Menschen sind sehr eng miteinander verwandt. Und eigentlich sind sie in einem sehr kurzen Zeitraum entstanden. Wir haben uns in den möglichen geographischen Korridoren in sehr kurzer Zeit ausgebreitet. Unter dem Aspekt der Klimadebatte unserer Zeit ist interessant, dass es tatsächlich schon vorgekommen ist, dass unsere Spezies schon einmal regional ausgestorben ist.
Besiedlung und Wiederbesiedlung bis dahin unbesiedelter Räume ist eine ganze wichtige Fähigkeit unserer Spezies. Und dass wir natürlich auch nicht als Ubiquist, als Lebewesen, das wie heute in allen Teilen der Welt leben kann, begonnen haben. Wir mussten uns in den letzten 200.000 Jahren die unterschiedlichen Habitate, in denen wir leben, sehr mühsam und unter Katastrophen und Rückschlägen erarbeiten.

Die Arbeitsgebiete ergeben sich aus den geographisch möglichen Ausbreitungsrouten. Da untersuchen wir eine westliche Route von der Entstehung in Ostafrika und der Ausbreitung nach Nordwestafrika über Gibraltar nach Spanien. Das ist eine Route, die nach dem momentanen Stand der Kenntnis der fossilen Funde für unwahrscheinlich gehalten wird. Nur ist der Forschungsstand so fragil, dass man das auf gar keinen Fall von vornherein ausschließen kann. Der zweite Korridor, der im Moment auch von den Fossilforschern favorisiert wird, das wäre Nordostafrika, Vorderer Orient, Balkan, Mitteleuropa. Da sind mehrere Projekte angesiedelt.