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Chancen und Krisen

 

In Arbeit und Armut

Soziologen untersuchen Gründe und Lösungen für die Armut von Erwerbstätigen


Arbeit schafft Brot, so sagt man. Doch in den modernen Gesellschaften Europas ist dies nicht immer der Fall. Die Gruppe der Erwerbstätigen in Armut beschäftigt deshalb die empirischen Sozialwissenschaften: Welche Gründe gibt es für das Phänomen und wo lassen sich Ansätze zur Lösung ausmachen? Welche Rolle spielen die Wohlfahrtssysteme der verschiedenen Länder für die Ausprägung der Armut der Arbeitenden? Können Steuern und Transferleistungen das Problem beheben oder liegt es an der niedrigen Entlohnung der Erwerbstätigen? Diesen Fragen ging eine Gruppe europäischer Soziologen nach.


Von Robert Hahn

 Professor Hans-Jürgen Andreß vom Lehrstuhl für Empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung leitete zusammen mit seinem Kollegen Dr. Henning Lohmann vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (Berlin) die Untersuchung „Working Poor in Europe. Employment, Poverty and Globalization.“ Die Wissenschaftler untersuchten das Problem in acht europäischen Staaten. Es gibt in Europa Menschen, die zwar arbeiten, aber wesentliche Merkmale des Lebensstandards ihrer Gesellschaft nicht erreichen: Sie befinden sich in relativer Armut. In Deutschland etwa sind ungefähr sieben Prozent der Erwerbstätigen von dieser Armut betroffen. Sie verfügen über ein Einkommen, das unter sechzig Prozent des mittleren Einkommens ihres Landes, des so genannten Medians, liegt.

Dabei ist zu beachten, dass die Armut von Erwerbstätigen zwar stark mit niedrigen Löhnen zusammenhängt, aber nicht jede Niedriglohnbeschäftigung zu Armut führt, weil ein niedriges Individualeinkommen im Haushaltskontext durch ausreichende Einkommen der anderen Haushaltsmitglieder ausgeglichen werden kann. Wo liegen die Gründe und welche nationalen Muster gibt es für die Armutsrisiken von Erwerbstätigen? Für die Beantwortung dieser Frage nahmen die Wissenschaftler Haushalte in Finnland, Schweden, Großbritannien, Irland, Deutschland, Belgien, die Niederlande und Italien unter die Lupe.



Europäisches Netzwerk von Wissenschaftlern


Um die oft sehr unterschiedlichen Wohlfahrtssysteme und politischen Strukturen und Traditionen überhaupt vergleichen zu können, benötigten die Soziologen die Hilfe von Kollegen vor Ort. „Man muss eine gewisse Kenntnis des nationalen Kontexts haben“, so Andreß. „Wir haben ein Netzwerk von Mitarbeitern in den einzelnen Ländern gegründet, deren Aufgabe es war, eine eigene nationale Studie über ihre Länder zu erstellen.“ In Workshops wurde ein gemeinsames Raster von Fragestellungen und Gewichtungen von Daten erarbeitet, um die Ergebnisse vergleichbar zu machen. Nur dadurch konnten Unterschiede verglichen werden. „Wir wollten Einflüsse der nationalen Ausprägungen im Kontext sehen, ob es Einflüsse von bestimmten Politiken oder dem Arbeitsmarkt gibt, der doch in den europäischen Ländern sehr unterschiedlich ist.“

Die Wissenschaftler untersuchten verschiedene hmen des Wohlfahrtsstaates, von den Leistungen für Arbeitslose über Leistungen für Geringverdiener bis hin zu Leistungen für Familien. Weiterhin wurde die Konfiguration des jeweiligen Arbeitsmarktes untersucht, zum Beispiel, ob Tarifverhandlungen von großen oder kleinen Unternehmen auf der Ebene des Staates oder der Betriebe geführt werden. Eine wichtige Rolle spielte auch die soziale und demographische Zusammensetzung der Länder: Handelte es sich um ein Land, in dem die Familien lange in einem Haushalt zusammenleben oder wo jüngere Leute relativ schnell einen eigenen Hausstand gründen?



Typische Modelle europäischer Wohlfahrtsstaaten

Bei der Betrachtung der europäischen Wohlfahrtsstaaten greifen die Sozialwissenschaften häufig auf eine Typologie von so genannten Wohlfahrtsregimen zurück, die idealtypische Konfigurationen des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements beschreibt. So werden die skandinavischen Staaten oft als „sozialdemokratische“ Wohlfahrtsregime klassifiziert, der britische und irische Wohlfahrtsstaat dagegen als „liberale“ Wohlfahrtsregime, so Andreß: „Im liberalen Wohlfahrtsregime springt der Staat nur im Notfall ein und auch nur in dem Fall für die Personen, die sich wirklich gar nicht mehr selber helfen können.“ Der deutsche Sozialstaat wird hingegen dem so genannten „konservativen“ Wohlfahrtsregime zugerechnet: Es zielt auf den Statuserhalt der Transferempfänger ab. Aber Andreß warnt vor einem zu engen Festhalten an der Typologisierung: „Diese Typologie wird in der Wissenschaft sehr kontrovers diskutiert. Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen der Wirklichkeit und dem Denkmodell. Wir haben von dieser Typologie auch nur sehr vorsichtig Gebrauch gemacht.“ Der Unterschied zwischen den Ländern, die dem gleichem Wohlfahrtsregime zugeordnet werden, ist oft groß. Zudem kamen bei der Betrachtung des Zeitraums von etwa zehn Jahren weitere Entwicklungen hinzu, wie etwa die wirtschaftlichen Konjunkturzyklen, welche die europäischen Wohlfahrtsstaaten im unterschiedlichen Maße beeinflussten.



Vorbild Skandinavien – Großbritannien schneidet aber auch nicht schlecht ab

Die Vorzüge der einzelnen Sozialsysteme in Bezug auf die Bewältigung der Armutsfrage sieht der Wissenschaftler deswegen nicht in dem Idealbild. Es ist ein Bündel von Maßnahmen, das sich positiv auswirkt, wie zum Beispiel im Fall der skandinavischen Länder: „Schweden und Finnland sind Länder, denen es sehr viel besser gelingt, Risikogruppen in Erwerbstätigkeit zu bringen. Sie haben nicht in dem Ausmaß wie andere europäische Länder das Problem der armen Erwerbstätigen. Trotz Wirtschaftskrise und trotz Einschnitten in das Sozialsystem.“ Einen Grund dafür sieht der Soziologe in der sehr viel größeren Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen, die in erheblich stärkerem Maße als in anderen Ländern zum Haushaltseinkommen beitragen. Bei genauerer Betrachtung stellen auch Staaten, die in der Literatur dem residualen („liberalen“) Wohlfahrtsregime zugeordnet werden, wichtige Sozialleistungen zur Verfügung, die die Armutsrisiken von Erwerbstätigen verringern: „Die Armut in Großbritannien ist in dem von uns untersuchten Zeitraum nicht sehr viel höher als in den anderen Ländern. Eine Erklärung ist, dass die Familien durch spezifische Transferleistungen mit einem ausreichenden Einkommen ausgestattet werden.“



Haushalte und erwerbstätige Frauen

Das höchste Risiko, zu der Gruppe der erwerbstätigen Armen zu gehören, zeigten ganz offensichtlich die Einzelpersonenhaushalte, sowie die Haushalte, in denen nur eine einzige Person Geld verdiente. Eine gute Versicherung gegen die Armut, so fanden die Soziologen heraus, ist offenbar das gemeinschaftliche Einkommen aller Mitglieder des Haushalts. Dabei gab es jedoch typische Konstellationen, die mit unterschiedlichen Armutsrisiken verbunden sind: Eine Kombination aus einem Hauptverdiener und einer Person mit geringerem Einkommen war insbesondere für das alte Westdeutschland typisch. „Ein entscheidender Punkt ist, ob das Steuersystem einen Anreiz bietet, ein Haupteinkommen mit einem geringen Nebeneinkommen zu kombinieren“, erklärt Andreß.

Entsprechende Anreize gibt es in Deutschland durch das Ehegattensplitting, das eine Umverteilung im Haushalt fördert. Das andere Modell ist das der Individualbesteuerung, bei dem jeder Erwerbstätige so behandelt wird, als ob er alleine leben würde. „Wir vermuten, dass dieses System eher die Erwerbstätigkeit von Frauen fördert, damit die Einkommensmasse erhöht und das Armutsphänomen in Haushalten verringert.“



Wandel des Arbeitsmarktes

Auch die Struktur der Einkommen aus Arbeit hat sich im untersuchten Zeitraum geändert und nimmt Einfluss auf das Gesamteinkommen des Haushalts, stellten die Soziologen fest. „In Deutschland hatten wir lange Zeit eine niedrige Armutsquote von Erwerbstätigen, weil niedrige Löhne im Haushaltskontext kombiniert waren mit einem ausreichenden Haupteinkommen. Die Verdiener niedriger Löhne waren häufig die in Teilzeit arbeitenden Frauen“, so Andreß. Solange ein männlicher Vollzeiterwerbstätiger das geringe Einkommen ausglich, war das ein funktionierendes Modell. „In dem Maße in dem die Vollzeiterwerbstätigen aber auch selber in Jobs beschäftigt sind, die nur sehr geringe Löhne abwerfen, trägt das deutsche Modell des Familieneinkommens nicht mehr.“ Eine zunehmende Anzahl von Haushalten gerät durch die Entwicklung des deutschen Arbeitsmarktes in Risikopositionen, so der Soziologe. „Das ist für Deutschland eine ganz entscheidende Entwicklung gewesen.
Der Niedriglohnsektor ist ja zum Teil auch bewusst ausgeweitet worden.“ Ein Teil der Bemühungen, einen flexibleren Arbeitsmarkt zu schaffen und mehr Personen in die Erwerbstätigkeit zu bringen, hat zudem noch eine weitere Konsequenz: „Die Menschen, die aus dem Sicherungssystem kommen, also arbeitslos waren, werden jetzt erwerbstätig – aber eben in Niedriglohntätigkeiten“, erläutert Professor Andreß. Eine Verschiebung findet statt von Armut in Arbeitslosigkeit zu Armut in Erwerbstätigkeit. Die Aufnahme von sogenannten „schlechten Risiken“, also Menschen mit schlechten Aussichten ein ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften, in den Arbeitsmarkt bewirkten nur eine Verschiebung des Phänomens Armut aus den Sicherungssystemen in den Niedriglohnsektor.



Deutschland Ost und West

Einen Sonderfall stellt Ostdeutschland dar, wo von Anfang an Löhne sehr viel niedriger waren. „Das Lohnverhandlungssystem ist hier sehr viel dezentralisierter und die gewerkschaftliche Verhandlungsmacht sehr viel geringer. Man muss für Ostdeutschland eigentlich immer eine Sondergeschichte schreiben“, erklärt Andreß. Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit in Folge des wirtschaftlichen Umbruchs war es auch sehr viel schwieriger, dass zwei erwerbstätige Personen einen Haushalt versorgen konnten. Dennoch ist der Wunsch der Frauen, Vollzeit erwerbstätig zu sein, in Ostdeutschland sehr viel stärker ausgeprägt. Die Gründe dafür liegen in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Rollen von Männern und Frauen in der alten Bundesrepublik und der DDR. Während in der DDR beide Ehepartner, Frauen und Männer im Arbeitsmarkt integriert waren, ist die alte Bundesrepublik aufgebaut auf einem modernisierten „männlichen Ernährer“-Modell, so Andreß.

In einer Vielzahl der Paarhaushalte lebe ein meist männlicher Vollzeitbeschäftigter mit einem meist weiblichen Teilzeitbeschäftigten zusammen. Ein gesellschaftliches Muster, das sich auch bei der Kinderbetreuung zeige, die im Wesentlichen daraus bestehe, dass Kindergärten nur halbtags und vorwiegend für ältere Kinder zur Verfügung gestellt würden.


Problemfelder identifizieren

Es ist offensichtlich, dass Lösungen des Problems der Armut von Erwerbstätigen bei der Vielfältigkeit der europäischen Wohlfahrtssysteme, der demographischen Faktoren der verschiedenen Gesellschaften und ihrer politischen Grundausrichtung eben diese Unterschiede berücksichtigen müssen. Es gibt nicht die eine Lösung des Problems, nicht den einen Ratschlag an die Politik. Dafür bieten die Wissenschaftler eine Reihe von Lösungsansätzen, die sich auf drei Gebieten bewegen: erstens die Steigerung des Einkommens durch Arbeit, also zum Beispiel die Einrichtung eines Mindestlohns oder die Erhöhung der Niedriglöhne. Zweitens die Befähigung der Haushalte, das höchst mögliche Einkommen auch tatsächlich zu erreichen, was zumindest im Gebiet des alten Westdeutschlands auf die Förderung der Berufstätigkeit von Frauen hinausliefe. Schließlich drittens die Steigerung des Netto-Einkommens der Haushalte. Hier sind Maßnahmen im Bereich der Besteuerung und des Sozialtransfers, also der direkten finanziellen Hilfe für Familien gefragt.



Frauen in den Arbeitsmarkt integrieren

So sehen die Soziologen die Erhöhung der Mindestlöhne zwar als einen Weg an, die Armut der Erwerbstätigen zu dämpfen, allerdings nicht als einen sonderlich effektiven. Ein Großteil der erhöhten Löhne  nämlich Haushalten zugute, die gar nicht arm sind. Höhere Mindestlöhne können aber zusammen mit anderen Maßnahmen durchaus wirksam werden. Als besonders wichtigen Punkt, um das Risiko der Armut zu minimieren, sehen die Soziologen Haushalte mit doppeltem Einkommen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich dabei um hohe oder niedrige Einkommen handelt. Das bedeutet hauptsächlich, dass Anreize geschaffen werden müssten, Frauen verstärkt in den Arbeitsmarkt zu bringen, so Andreß.

„Für Familien gilt: Mindestens einer erwachsenen Person muss ein ausreichendes Einkommen durch Beschäftigung am Arbeitsmarkt geboten werden. Das impliziert entsprechende Bemühungen, Frauen und Jugendliche im Arbeitsmarkt zu integrieren.“ Schließlich können direkte Sozialtransfers für kinderreiche Familien der Armut von Erwerbstätigen entgegenwirken. In der Untersuchung der Soziologen stellte sich die Armut von Erwerbstätigen als vielfältiges Problem heraus, das sich mit dem Problem der klassischen Armutsforschung in vielen Bereichen überschneidet. Die wissenschaftliche Untersuchung der Soziologen förderte eine Vielzahl von Ansatzpunkten zu Tage, die bei der politischen Entscheidungsfindung helfen können. Spezielle politische Ratschläge hingegen geben die soziologischen Untersuchungen nicht, wie Andreß betont: „Die Analysen sind auf einem sehr hohen abstrakten Level angesiedelt, deswegen muss man vorsichtig mit konkreten politischen Empfehlungen sein.“