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Antidepressiva: Neue Daten zur Häufigkeit von Absetzsymptomen

Erwartungshaltung trägt zu Symptomen nach Antidepressiva-Stopp bei

Wie schwer ist es, von Antidepressiva loszukommen? Glaubt man zahlreichen Internetbeiträgen und einigen wissenschaftlichen Studien, ist das Absetzen sehr problematisch und wird von ärztlicher Seite oft unterschätzt. Wie häufig Absetzsymptome tatsächlich sind, war bisher unklar. Forschende der Charité – Universitätsmedizin Berlin und der Uniklinik Köln haben die Studienlage jetzt umfassend neu analysiert. In der in Lancet Psychiatry veröffentlichten Arbeit kommen sie zu dem Schluss, dass jede dritte Person nach der Beendigung einer Antidepressiva-Therapie von Symptomen berichtet, jedoch die Hälfte der Symptomatik auf eine negative Erwartungshaltung zurückzuführen ist.

Nach formaler Definition machen Antidepressiva nicht abhängig. Anders als bei „echten“ Suchtmitteln führt ihre Einnahme beispielsweise nicht dazu, dass der Körper für denselben Effekt eine immer höhere Dosis braucht. Trotzdem berichten einige Patientinnen und Patienten von Symptomen wie Schwindel, Kopfschmerzen oder Schlafstörungen, wenn sie die Stimmungsaufheller absetzen. Wurde das Phänomen über viele Jahre von der Wissenschaft wenig beachtet, gibt es heute eine vergleichsweise große Zahl an Studien, die das Ausmaß der Absetzsymptome zu beziffern sucht.

„Diese Studien kommen zu teils sehr unterschiedlichen Ergebnissen“, sagt Prof. Dr. Christopher Baethge, Wissenschaftler an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Uniklinik Köln und der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln. „Nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Öffentlichkeit diskutiert in den letzten Jahren sehr aktiv und manchmal auch emotional, wie häufig und schwer die Absetzsymptome nun eigentlich sind.“ Wie relevant das Thema ist, zeigt ein Blick auf die Verordnungszahlen. Laut dem aktuellen Arzneiverordnungs-Report wurden 2022 knapp 1,8 Milliarden Tagesdosen Antidepressiva in Deutschland verschrieben.

Umfassende Meta-Analyse schafft Klarheit

Um diese Frage verlässlicher als bisher zu beantworten, hat ein Team um Prof. Baethge und Dr. Jonathan Henssler, Leiter der Arbeitsgruppe Evidence-Based Mental Health an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité, die bestehende Studienlage systematisch durchforstet und neu ausgewertet, also eine sogenannte Meta-Analyse durchgeführt. Als erste Untersuchung dieser Art liefert sie die bisher am besten gesicherte Abschätzung der Folgen eines Antidepressiva-Stopps. „Unsere Auswertung zeigt, dass im Schnitt jede dritte Person nach Beendigung der Antidepressiva-Behandlung Symptome erlebt“, sagt Dr. Henssler. „Allerdings ist nur die Hälfte der Symptomatik tatsächlich auf die Arzneimittel zurückzuführen.“

Für die Untersuchung sichteten die Forschenden mehr als 6.000 Studien, von denen sie 79 Arbeiten auswählten und deren Ergebnisse statistisch neu analysierten. So kamen Daten zu rund 21.000 Personen zusammen, die entweder ein Antidepressivum oder ein Scheinpräparat (Placebo) erhalten hatten und anschließend zur Häufigkeit von Absetzerscheinungen befragt worden waren. Zwar berichteten rund 31 Prozent der mit einem wirksamen Medikament behandelten Patientinnen und Patienten von Absetzsymptomen, darüber klagten jedoch auch 17 Prozent derjenigen, die nur ein Placebo verabreicht bekommen hatten.

Jede sechste oder siebte Person erlebt Medikamenten-bedingte Absetzerscheinungen

„In der Placebo-Gruppe sind medikamentöse Effekte auszuschließen, die Symptome sind also entweder darauf zurückzuführen, dass sie zufällig unabhängig von der Therapie auftraten, oder sie sind eine Folge des Nocebo-Effekts“, erklärt Dr. Henssler. Der Nocebo-Effekt wird oft als „Bruder des Placebo-Effekts“ bezeichnet und beschreibt die Beobachtung, dass Scheinbehandlungen mit „Nebenwirkungen“ einhergehen können. Sie werden ausgelöst allein durch die Erwartung, dass die Therapie, die man zu erhalten glaubt, negative Folgen haben wird.

„Wenn wir unspezifische Symptome und den Effekt der Erwartungshaltung berücksichtigen, ist etwa jede sechste oder siebte Person von Absetzerscheinungen betroffen, die als eigentliche Folge der Antidepressiva-Medikation auftreten“, fasst Dr. Jonathan Henssler zusammen. „Diese sind größtenteils mild. Die überwiegende Mehrheit der Betroffenen wird Antidepressiva ohne relevante Symptome absetzen können. In den allermeisten Fällen ist daher kein langwieriges oder kleinschrittiges Ausschleichen der Medikation nötig.“

Schwere Symptome selten

Der Studie zufolge entwickelte eine von 35 Personen, also knapp drei Prozent der Betroffenen, Absetzsymptome schweren Ausmaßes. Gehäuft traten diese nach Beendigung der Therapie mit den Wirkstoffen Imipramin, Paroxetin, Venlafaxin und Desvenlafaxin auf. Für einige häufig verwendeten Stimmungsaufheller lagen noch nicht genügend Informationen vor, um für sie eine Einschätzung treffen zu können.

Deshalb betont Prof. Dr. Christopher Baethge: „Es ist wichtig, dass alle Menschen, die eine Behandlung mit Antidepressiva beenden wollen, ärztlich eng begleitet und im Falle von Entzugssymptomen individuell unterstützt werden. Eine gemeinsame Entscheidungsfindung zwischen Betroffenen und Behandelnden, schon vor Beginn einer Therapie, ist die Basis für eine gute Behandlung. Wir hoffen, dass unsere Daten diese unterstützen können und der aktuellen Verunsicherung entgegenwirken.“
 

Über die Studie

Die für die Meta-Analyse berücksichtigten 79 Studien beinhalteten sowohl randomisierte, Placebo-kontrollierte Untersuchungen als auch Beobachtungsstudien ohne Kontrollgruppe. Von den insgesamt 21.002 Patient:innen hatten 16.532 ein Antidepressivum, 4.470 ein Placebo erhalten. Zusätzlich zu den Forschenden der Charité und der Uniklinik Köln waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Uniklinika Freiburg und Dresden an der Meta-Analyse beteiligt.

Originalpublikation: Henssler J, Schmidt Y, Schmidt U, Schwarzer G, Bschor T, Baethge C. Incidence of Antidepressant Discontinuation Symptoms - A Systematic Review and Meta-Analysis. Lancet Psychiatry 2024 Jun 05. DOI: 10.1016/S2215-0366(24)00133-0 https://www.thelancet.com/journals/lanpsy/article/PIIS2215-0366(24)00133-0/fulltext

Quelle: Uniklinik Köln