Thui Thao und Ui Kxunta vom Volk der San in Namibia gehören zu den besten Spurenlesern der Welt. Konzentriert blicken sie auf den Boden. Aber nicht im Norden Namibias, sondern in Köln-Ehrenfeld. Vor wenigen Minuten haben hier zwei Menschen ihre Fußabdrücke im weichen Sand hinterlassen. Deutlich zeichnen sich Ferse, Mittelfuß und Zehen ab. Aber wer hat die Spuren im Sand hinterlassen? Ein Mann oder eine Frau? Wie alt? War er oder sie verletzt oder krank? Hat er oder sie etwas Schweres getragen?
Die Jäger besprechen sich leise in der klickenden und schnalzenden Sprache der San-Völker, die als Jäger und Sammler leben, worauf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes San (»jene, die etwas vom Boden auflesen«) hinweist. Gut zwei Dutzend Augenpaare beobachten ihre Diskussion im Hof der Forschungsstelle Afrika - hauptsächlich Archäologen und Anthropologen aus aller Welt, die gekommen sind, um von der Erfahrung indigener (»eingeborener«) Jäger zu lernen.
Schon nach wenigen Minuten sind sich die beiden Spurenleser einig: Die eine Fährte stammt von einer Frau, die andere von einem Mann. Was Anthropologen oft nur mit aufwändigen Messungen herausbekommen, schöpfen die Jäger aus ihrem Reservoir praktischen Wissens. »Das war ein Mann«, stellt Thui Tao schließlich fest und zeigt auf eine Spur. »Er ist zügig über den Sand gelaufen«, fügt er hinzu und sagt den Wissenschaftlern, wie er darauf kommt. Mit seinen Fingern zeigt er auf Ferse und Vorderfuß. »Tief eingedrückt.« Dann zeigt er auf die andere Spur. »Eine Frau. Die Spuren sind sehr tief für eine Frau dieser Größe. Sie hat etwas getragen. Aber langsam.« Während der San intuitiv männliche und weibliche Spuren auseinanderhält, hört sich das beim Wissenschaftler so an: »Die Breite bestimmter Teile des Fußes vorne und hinten ist bei Männern proportional größer als bei Frauen. Es gibt auch einen anderen Winkel zwischen dem Vorderballen und dem Mittelfuß.«
Menschliche Fußspuren als Wissensquelle
Die Archäologen Tilman Lenssen-Erz von der Universität zu Köln und Andreas Pastoors, ehemals vom Neanderthal Museum in Mettmann (jetzt Friedrich- Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg), haben den Workshop »Prehistoric Human Tracks« im Frühling organisiert, weil sie die Fähigkeiten der Spurenleser für die Archäologie nutzbar machen wollen. »Wir finden immer wieder menschliche Fußspuren aus der Steinzeit«, sagt Andreas Pastoors. Die stammen aus allen Kontinenten und aus einem Zeitraum von vor 3,7 Millionen Jahren, beispielsweise aus Laetoli im Norden von Tansania, bis vor gut 2.000 Jahren in Acahualinca in Nicaragua.
Dass er sich mit Fußabdrücken beschäftigen würde, ahnte Pastoors einst nicht. Denn eigentlich sind die Malereien in den Höhlen von Tuc d’Audoubert und Les Trois-Frères in den Pyrenäen sein Forschungsgebiet. Dort finden sich fantastische Höhlenbilder, die Eiszeit- Jäger vor 17.000 Jahren hinterlassen haben: Bisons, Mammuts und Pferde leuchten an den Wänden der Höhlen. Weil es dort keinen Wind und keine Erosion gab, sind nicht nur die Malereien extrem gut erhalten, sondern auch die Fußspuren, bei denen manchmal sogar die Fußnägel identifizierbar sind. »Die Fußspuren wurden von Wissenschaftlern zwar untersucht und dokumentiert«, so Pastoors, »aber die Forscher konnten den Zusammenhang, in dem sie entstanden sind, nicht erklären.« Alter, Geschlecht, Anzahl und Gesundheitszustand der paläolithischen »Künstler« interessieren ihn aber sehr.
Deshalb führte Pastoors Wissensdurst ihn zu seinem Kollegen Tilman Lenssen-Erz an die Uni Köln. Lenssen-Erz ist durch ist durch seine Arbeit an den Felsbildern des Brandbergs in Namibia bekannt geworden. Dabei lernte er die Spurensucher der San kennen. Die San gehören wohl zu den ältesten indigenen Völkern im Südwesten Afrikas und leben noch heute teilweise als Jäger und Sammler. Manche verdienen heute ihr Geld als sogenannte Tracker, Fährtenleser für Touristen bei der Großwildjagd. Die San geben die Kunst eine Fährte zu lesen und zu interpretieren von Generation zu Generation weiter und üben sie täglich.
Keine jahrelangen Messreihen
»Die Grundlagen des Fährtenlesens haben einiges mit den Grundlagen von Wissenschaft gemein«, sagt der Kölner Archäologe Lenssen-Erz. »Man muss Daten sammeln, sich eine Hypothese bilden, schauen, ob die Hypothese anhand neuer Daten verifiziert werden kann oder nicht.« Insofern sind Ergebnisse der Spurenleser für die Wissenschaftler nachvollziehbar. »Wir bauen nicht auf Exotik. Auch unter den Wissenschaftlern gibt es gut ausgebildete Spurenleser, die die Fähigkeit für ihre Arbeit nutzen.«
Die indigenen Spurenleser können allerdings aus winzigen Details der Spuren sehr viel herauslesen. Hier stecken große Möglichkeiten für die Wissenschaft, meint der Kölner Frühgeschichtsforscher. »Man muss nicht jahrelange Messreihen machen, sondern man hat Experten, die diese Messreihen intuitiv in sich angelegt haben«, so Lenssen-Erz. »Wenn wir naturwissenschaftliche Analyseverfahren verwenden, dann müssen wir auch den Ergebnissen anderer Experten vertrauen«, ergänzt sein Kollege Andreas Pastoors. »Das ist bei den Trackern nicht anders.« Zusammen führten die beiden Wissenschaftler bereits 2013 ein vielbeachtetes Projekt durch: Sie flogen nach Namibia und brachten die drei San-Jäger Thui Thao, Ui Kxunta und Tsamkxao Ciqae nach Europa zu den Höhlen in die Pyrenäen.
Lehm statt Tanz
Die Ergebnisse der indigenen Fährtenleser führten zu einer Neubewertung der Fußspuren in einer der Höhlen. Die Forscher glaubten lange, dass es sich eventuell um einen rituellen Tanz handelt. Die San kamen zu einem anderen Schluss: Sie lasen aus den Fußspuren, dass ein etwa 38-jähriger Erwachsener mit einem etwa 14-jährigen Kind dort Lehm entnommen hatte.
Lenssen-Erz verfolgt nun zusammen mit den San- Jägern Tiere im Norden Namibias, um zu lernen. »Wenn man weiß, wie sich die San heute verhalten, hat man einen ganz guten Ansatz zu verstehen, was die Steinzeitjäger einst gemacht haben.« Vor allem die Jagdpfade der Steinzeitjäger will er so nach-modellieren und das Verhältnis von Mensch und Landschaft beschreiben.
Frage des Überlebens
Für Jäger und Sammler war die Kunst des Spurenlesens immer auch eine Frage des Überlebens. Die Aborigine Leah Umbagai, Malerin und Autorin, stammt vom Volk der Worrorra aus Mowanjum im Norden West-Australiens: »Das Wissen um das Spurenlesen ist gemeinschaftlich angesammelt. Wir lernen das von Kindesbeinen an. Es gehört zu den kulturellen Techniken, die uns helfen in unserer Umgebung zu überleben.«
Ums Überleben geht es für George Aklah bei der Spurensuche noch heute. Der Inuit aus dem Nunavut- Territorium im Norden Kanadas ist Polarjäger und weiß viel über die Jagd seines Volkes auf Eisbären. Denn egal ob Sand oder Schnee und Eis: Die Details der Fährtenlese ändern sich, die Art zu interpretieren ähnelt sich aber weltweit. »Die Jagd ist immer noch Teil unseres Lebens«, erklärt Aklah. Die Jagd helfe ihm, seine Familie zu versorgen. »Ich habe es von meiner Mutter gelernt«, sagt er. »Jagen liegt uns im Blut, es gehört zu unseren Traditionen.« Was hält der Jäger des hohen Nordens von seinen Kollegen aus dem südlichen Afrika? »Ihre Methode unterscheidet sich von meiner. Sie erzählen eine ganze Geschichte zu der Spur.«
Für Tsamkxao Ciqae, dem dritten San-Jäger, ist Jagen eine Selbstverständlichkeit: »Die Jagd ist Teil unseres Daseins, so wollen wir leben: im Feld sein und jagen.« Im Zentrum ihrer Kunst stehen deswegen natürlich Tierspuren. Doch auch menschliche Spuren sind wichtig: »Das ist so was wie eine Zeitung. Man liest auf dem Boden, wer da war und was er gemacht hat.« Denn an den Spuren erkennt man den Menschen: ob er hinkt, ob er etwas getragen hat, ob er es eilig hatte oder müde war. »Wir wissen immer ganz genau, wo unsere Frauen hingehen«, sagt er und lacht. »Und wen sie da getroffen haben natürlich auch.«
Die San gehören zur ärmsten Bevölkerungsgruppe in Namibia, die Jagd sichert ihnen ein Minimaleinkommen. Gleichzeitig benützen auch sie Handys, um zu telefonieren, sie kennen Fernsehen und das Internet. In ihren Gesprächen taucht aber eine Frage immer wieder auf: Wozu soll Spurenlesen heute noch gut sein? Ist das nicht eine hoffnungslos veraltete Kunst? Lenssen-Erz will mit seinen Projekten den San auch zeigen, dass ihr Wissen gebraucht wird. »Das Wissen, Spuren lesen zu können, ist sehr aktuell. Man muss sehr vernetzt denken: Welches Tier ist das? Wie reagiert es auf seine unmittelbare Umwelt? Zeigt es Verhaltensabweichungen? Und vieles mehr. Wir sollten Fährtenleser darin trainieren und ihnen Arbeitsmöglichkeiten eröffnen, subtile Umweltveränderungen zu protokollieren und zu berichten.
Erfahrungswissen zählt schließlich auch in den Wissenschaften und ein Argument spricht für dieses Wissen: »Die San haben bis heute überlebt«, so Pastoors.