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Kompass für die Krise: die Philosophie

Philosophie kann einiges dazu sagen, wie Politik rational agieren kann.

Nicht nur Stimmen aus Virologie, Epidemiologie und Politik sind in der Coronapandemie wichtig. Auch die Philosophie kann einen Beitrag in der Krise leisten, sagt Philosophieprofessor Thomas Grundmann – und meint damit nicht nur die Ethik, sondern auch die Erkenntnistheorie. Denn wie die Politik rational und evidenzbasiert in der Krise agieren kann, dazu hat die Philosophie einiges zu sagen.

Sarah Brender

»Ich weiß, dass ich nichts weiß.« Corona hätte wohl auch Sokrates vor Herausforderungen gestellt.

Unser Alltag wird seit über einem Jahr von einem Virus bestimmt. Täglich der Blick aufs Smartphone: Wie haben sich die Inzidenzwerte verändert, welche Lockerungen oder Verschärfungen von Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen stehen bevor? Nachrichtensendungen, Zeitungen, Twitter und weitere Online-Medien bersten über vor neuen Entwicklungen zur Pandemie. Expert:innen aus den Natur- und Wirtschaftswissenschaften, die sich damit beschäftigen, sind gefragte Gäste in Talkshows und Podcasts.

Auf den ersten Blick sitzen die Philosoph:innen in der jetzigen Krise dagegen auf den hinteren Bänken, meint der Erkenntnistheoretiker Professor Dr. Thomas Grundmann. Die Erklärung scheint einfach. Die empirischen Wissenschaften wie die Virologie oder die Epidemiologie liefern relevante Fakten zum Pandemiegeschehen. Politiker:innen müssen vor diesem Hintergrund gravierende Entscheidungen treffen. Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Denn wie soll sich die Politik auf wissenschaftliche Fakten stützen, wenn sich beständig ändert, was als wissenschaftliche Tatsache gilt? An diesem Punkt kommt die Philosophie ins Spiel. Sie kann wichtige Erkenntnisse beisteuern, die helfen, in Krisenzeiten Orientierung zu geben. Thomas Grundmann ist überzeugt: »Wie die Politik rational und evidenzbasiert in der Krise agieren kann, dazu hat die Philosophie einiges zu sagen.«

Unterschätztes Potential: Handlungsoptionen aufzeigen

Mittlerweise gibt es zwar eine Fülle an philosophischen Beiträgen zur Coronakrise und auch in Talkshows und Radiosondersendungen werden vereinzelt Philosoph:innen eingeladen. Grundmann hat allerdings den Eindruck, dass die Politik das Potential der Philosophie in Krisenzeiten immer noch unterschätzt: »Ein klares Anzeichen der Taubheit der Politik für die Stimme der Philosophie ist die deutliche Unterrepräsentation von Philosophen in den Ethikräten des Bundes und der Länder.«

 

Wer die Gefahren des Coronavirus leugnet, überschätzt die eigene Fähigkeit zur Einschätzung der komplexen Pandemielage.

Dass Philosophie in grundsätzlichen Fragen Orientierung geben kann, leuchtet zunächst einmal ein. Aber was kann sie in Pandemiezeiten konkret beisteuern? Die Philosophie könne deutlich machen, dass es auch in der jetzigen Krise immer mehrere Handlungsoptionen gibt. Als Beispiel nennt er etwa die Frage, ob Geimpfte und Genesene, wenn sie tatsächlich nicht mehr ansteckend sind, ihr Grundrecht wieder wahrnehmen dürfen sollten, ungehindert in Restaurants, zum Einkaufen oder ins Theater zu gehen, während andere noch in Warteposition ausharren. »Aus Sicht der Ethik kann man sagen: Gerechtigkeit verlangt keine absolute Gleichbehandlung, sondern erlaubt auch gerechtfertigte Ungleichbehandlungen. Vor diesem Hintergrund sind schrittweise Aufhebungen der Bewegungsfreiheit gerechtfertigt, zumal sie auch der Wirtschaft und damit indirekt auch der ganzen Gesellschaft zugutekommen.«

Die Erkenntnistheorie als Leitfaden für gute Entscheidungen

Grundmanns Forschung konzentriert sich nicht auf ethische Fragen, sondern gilt seiner philosophischen Leidenschaft – der Erkenntnistheorie. Neben der Ethik bietet sie ihm zufolge ebenfalls wichtige Antworten: »Normalerweise denkt jeder, der sich in einer globalen Krise wie der jetzigen Orientierung von der Philosophie erhofft, sofort an die Ethik. Aber es gibt eben auch sehr gravierende Erkenntnisprobleme, die bislang noch nicht so viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen.«

Erkenntnistheorie – Die Erkenntnistheorie wird auch Epistemologie genannt und ist ein Hauptgebiet der Philosophie. Sie erklärt, was Wahrheit, Wissen, gute Gründe und unsere  epistemischen Ziele sind. In Form der angewandten Erkenntnistheorie bewertet sie aber auch konkrete Methoden und Verfahren auf Ihre Leistungsfähigkeit hin.

Eines dieser Probleme ist die Schwierigkeit einzuschätzen, welches der verschiedenen Angebote wissenschaftlicher Expertise dasjenige ist, dem man vertrauen sollte. Die Erkenntnistheorie könne durch eine relativ einfache Überlegung zeigen, wie sich die Politik an der Wissenschaft orientieren kann. »Unter den wirklich einschlägigen Wissenschaftlern gibt es fast immer eine deutliche Mehrheitsmeinung; und dass hoch kompetente Akteure unabhängig voneinander zur gleichen Auffassung kommen, ist ein klarer Indikator für deren Wahrheit. Die Politik sollte sich also auf die Mehrheitsmeinung in der Wissenschaft stützen«, meint Grundmann. Allerdings könne auch ein wissenschaftlicher Konsens natürlich die Wahrheit nicht garantieren – gerade in Zeiten, in denen schnelles Handeln nötig ist und gleichzeitig viele Informationen erst nach und nach gesammelt und interpretiert werden können.

Eigentlich wollte der 1960 in Kiel geborene Thomas Grundmann gar nicht Philosoph werden, sondern Schriftsteller. Die Philosophie sollte nur Begleitfach zu seinem literaturwissenschaftlichen Kernstudium sein. Aber der Kontakt mit der Philosophie und mit beeindruckenden Philosophielehrern hat ihn gefesselt.
Heute hat Grundmann eine Professur für Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und Logik an der Uni Köln inne und beschäftigt sich vor allem mit der angewandten Erkenntnistheorie: Wie verbreiten sich Täuschungen und Fake News über die sozialen Medien und wie kann man dem entgegenwirken? Inwieweit dürfen sich Laien noch auf ihr eigenes Urteilsvermögen verlassen, wenn sie von Experten informiert werden? Über diese letzte Frage schreibt er gerade ein Buch. Die VolkswagenStiftung finanziert für eineinhalb Jahre seine Freistellung für die Forschung im Rahmen ihres Opus Magnum Förderprogramms.

Zu Beginn der Pandemie gab es beispielsweise über die Wirksamkeit von Masken, die inzwischen als wichtiges Instrument anerkannt sind, zu wenig Daten. Deswegen musste so manches Urteil teilweise revidiert werden. Dennoch ist die Wissenschaft der beste uns verfügbare Weg zur Wahrheit. Grundmann betont: Politikerinnen und Politiker sollten stets damit rechnen, dass sich der Stand der Wissenschaft auch als falsch herausstellen könnte. Das dürfe aber ihr prinzipielles Vertrauen in die Wissenschaft nicht untergraben. Offenheit über die Entscheidungsgrundlagen und Mut zum Korrigieren von Entscheidungen bei neuen Erkenntnissen sei der Weg, um Glaubwürdigkeit zu bewahren.

Corona-Leugnung: ein Wunsch nach Normalität

Auch in einem weiteren Punkt kann die Erkenntnistheorie in der Pandemie ein Problem begreiflich machen: warum Corona- Leugner:innen Zulauf bekommen. Grundmann erklärt das mit der eigentlich ja positiv wahrgenommenen Eigenschaft des Menschen zum selbst Denken (oder zumindest zum Mitdenken). Diese Eigenschaft kann dann an Grenzen stoßen, wenn wir als Laien nicht in der Lage sind, eine komplexe Pandemielage angemessen zu beurteilen. Gerade in der Coronakrise, in der unsere eigenen Interessen massiv betroffen sind, kann dieses Problem des nicht gelingenden Nachvollziehens auch zu einer Zurückweisung von wissenschaftlich allgemein anerkannten Thesen führen. Wissenschaftsleugner:innen oder Pseudowissenschaftler:innen können dies nutzen. Sie präsentieren in ihren Büchern und Beiträgen Daten oft geschickt und so selektiv, dass alles gegen die Auslegung der »Mainstream«-Wissenschaften zu sprechen scheint.

Die Konsequenz, so Grundmann: »Folgen wir allein unseren Plausibilitätserwägungen, dann möchten wir ihnen hundertprozentig recht geben, weil alles, was sie vorbringen, so einleuchtend erscheint und zudem für einen entspannten Umgang mit der Pandemie spricht.« Denn wer sehnt sich nicht zurück zur Normalität vor Corona? Wir alle wünschen uns natürlich ein Leben ohne Angst vor Ansteckung.

Im Zweifel bewusst für die Wissenschaft entscheiden

Dieses Problem der bei komplexen Zusammenhängen für Laien fehlenden Nachvollziehbarkeit ist nicht auflösbar. Grundmann empfiehlt, sich bewusst zu entscheiden, der Mehrheitsmeinung in der Wissenschaft auch dann zu folgen, wenn sie aus der eigenen Perspektive nicht gut nachvollziehbar ist – selbst wenn das eine gewisse Zumutung für den gesunden Menschenverstand ist.

Mehrheitsmeinungen in der Wissenschaft – und wie man sie als Laie erkennt
Wissenschaftliche Mehrheitsmeinungen sind für Nichtwissenschaftler:innen nicht immer klar erkennbar. Denn nur die Stimme fachlich einschlägiger Wissenschaftler:innen zählt und nicht jede Stimme zählt gleich viel, weil es auch hier deutliche Expertisedifferenzen gibt. Zudem ist es für Laien schwer, die Positionen wirklich klar zuzuordnen und angesichts von dynamischen Entwicklungen in einer Vielzahl von schwer verständlichen Publikationen den Überblick zu behalten. Schließlich versuchen manche interessengesteuerten Akteur:innen die öffentliche Wahrnehmung der Mehrheitsmeinung durch eine geschickte Aufmerksamkeitsökonomie zu manipulieren. Wissenschaftsjournalist:innen und Internet-Plattformen wie Wikipedia versuchen zwar die Entwicklung wissenschaftlicher Mehrheitsmeinungen nachzuzeichnen. Aber auch hier lässt sich der Verdacht von Einseitigkeiten und Manipulationen nicht ganz ausräumen. Aus Thomas Grundmanns Sicht wäre deswegen eine institutionelle Neuerung dringend erforderlich. Er plädiert für eine von den großen Wissenschaftsgesellschaften und der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) gemeinsam getragene öffentlich-rechtliche Plattform, die objektive Kriterien und Maßstäbe für aussagekräftige wissenschaftliche Mehrheitsmeinungen transparent erarbeitet und zu gesellschaftspolitisch wichtigen Fragen die Entwicklung der wissenschaftlichen Mehrheitsmeinung für die Öffentlichkeit und Politik klar erkennbar macht.

»In der Philosophie gab es ab dem Spätsommer 2020 eine gewisse Tendenz zum sorglosen Schwadronieren in punkto Coronapandemie «, sagt der Philosoph. So seien damals auch aus seiner Disziplin Stimmen laut geworden, dass der Lockdown letztlich eine Überreaktion dargestellt hätte, der nur durch die Ungewissheit in der frühen Phase der Pandemie entschuldbar sei. Doch extrem hohe Sterbezahlen und eine drohende Überlastung des Gesundheitssystems haben für Grundmann auch den zweiten Lockdown klar gerechtfertigt. Was ihn erschüttert: Auch in den Reihen der Philosoph:innen gibt es Wissenschaftsleugner:innen, die die Zuverlässigkeit wissenschaftlicher Methoden und Modelle generell angreifen. Grundmann meint: »Hier sollte sich die Philosophengemeinschaft nicht scheuen, auch gegenüber Kollegen und Kolleginnen auf die Beachtung von wissenschaftlichen Fakten als Minimalstandard für philosophische Glaubwürdigkeit nachdrücklich zu pochen.«

Rechtzeitiges Handeln ist gefragt – nicht nur in Pandemiezeiten

Grundmanns eigene Position ist eindeutig: »Wenn die Wissenschaft klare Evidenzen für bevorstehende Gefahren hat, dann sollten wir auf sie hören, auch wenn es für uns gar nicht so schlimm aussieht. Ansonsten fallen wir der Truthahn-Paradoxie zum Opfer, wonach der Truthahn sagt, dass doch bislang immer alles gut gegangen ist, auch kurz bevor er in den Ofen wandert.«

In gewisser Weise führe uns die Pandemie hier in punkto Prävention im Zeitraffer vor, was uns mit der Klimakatastrophe drohen wird, wenn wir jetzt nicht entschieden handeln. Auch dies ist natürlich ein Thema, wie gemacht für Erkenntnistheoretiker:innen. Zunächst jedoch beschäftigt uns auf absehbare Zeit weiter das Coronavirus – und in vielen Punkten könnten Politik und Öffentlichkeit dabei durch stärkere Beratung durch die Philosophie profitieren.

Das gesamte Interview mit Thomas Grundmann finden Sie hier:
Die Philosophie und ihre Rolle in der Corona-Krise.Thomas Grundmann im Interview