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Die Philosophie und ihre Rolle in der Corona-Krise

Thomas Grundmann ist Professor für Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und Logik an der Universität zu Köln. Im Interview erklärt er, wie der Beitrag der Philosophie zum Umgang mit der Corona-Krise aussehen kann  – und warum die Philosophie von Politik und Medien mehr gehört werden sollte.

Thomas Grundmann im Interview

Foto: Philosophisches Seminar der Universität zu Köln

Welche Rolle kommt der Philosophie in der Corona-Krise zu?

Auf den ersten Blick sitzen die Philosophen in der jetzigen Krise auf den hinteren Bänken. Die empirischen Wissenschaften, wie die Virologie oder die Epidemologie, liefern die relevanten Fakten; die Politiker müssen vor diesem Hintergrund gravierende Entscheidungen treffen, die die wissenschaftlichen Fakten respektieren, wenn sie auch nicht einfach aus ihnen ableitbar sind. Doch wie soll sich die Politik auf wissenschaftliche Fakten stützen, wenn sich beständig ändert, was als wissenschaftliche Tatsache gilt, und wenn der eine Wissenschaftler so, der andere so sagt? Und wie genau sollen Politiker Abwägungen zwischen verschiedenen Gütern treffen, wenn es um Leben, Tod, Grundrechte und unsere gemeinsame Zukunft geht? Wie die Politik rational und evidenzbasiert in der Krise agieren kann, dazu hat die Philosophie einiges zu sagen.

Kann die Philosophie in der Krise Orientierung bieten? Und wie kann das gegebenenfalls konkret aussehen?

Zunächst kann die Philosophie deutlich machen, dass es auch in der jetzigen Krise immer mehrere Handlungsoptionen gibt. Nur im Extremfall, wenn die Infektionskurve exponentiell stark ansteigt und der Tod von Zigtausenden droht, hat man keine vernünftigen Alternativen mehr zum Lockdown. In der Regel müssen bei einer solchen Entscheidung auch andere Güter berücksichtigt werden als der Schutz des Lebens und der Gesundheit. Der Schutz des individuellen Lebens ist ein sehr hohes, aber kein absolutes Gut, das um jeden Preis bewahrt werden muss. Sonst müsste auch der Autoverkehr sofort vollständig eingestellt werden, denn durch ihn nehmen wir jährlich einige tausend Tote in Kauf. Darauf haben neben Bundestagspräsident Schäuble die Philosophen seit Beginn der Pandemie hingewiesen.

Was muss bei Entscheidungen, die Bürgerrechte einschränken, aus Ihrer Sicht bedacht werden, damit gerecht entschieden wird? 

Harte Einschnitte in die Bewegungsfreiheit der Bürger müssen auch auf ihre Konsequenzen für das psychosoziale Wohlbefinden, die Bildung, den ökonomischen Wohlstand und die Grundrechte der Bevölkerung hin abgewogen werden. Solche Güterabwägungen sowie Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen sollten nicht nach politischen Stimmungen, Ideologien oder Interessen, sondern rational und nach ethischen Kriterien entschieden werden.

Nehmen wir zum Beispiel die hochaktuelle Frage, ob Geimpfte, wenn sie tatsächlich nicht mehr ansteckend sind, das Privileg genießen sollten, ungehindert in Restaurants, zum Einkaufen oder in die Theater gehen zu dürfen, während alle anderen in Warteposition ausharren müssen. Viele empfinden das als ungerecht, weil ja schließlich bislang noch nicht jeder, der will, geimpft werden kann. Doch aus der Sicht der Ethik ist es nicht ungerecht. Gerechtigkeit verlangt keine absolute Gleichbehandlung, sondern erlaubt auch gerechtfertigte Ungleichbehandlungen. Die Impfreihenfolge folgt dem berechtigten Kriterium der Vulnerabilität und wenn die Vulnerablen dann nicht mehr ansteckend sind, ist das ein hinreichender Sachgrund für eine Ungleichbehandlung. Außerdem nützt die schrittweise Aufhebung von Freiheitsbeschränkungen den Geschäften, unserer Wirtschaft und damit indirekt allen. Auf ähnliche Weise lassen sich auch andere normative Fragen mit Hilfe der philosophischen Ethik rational beantworten. Das sage ich, auch wenn ich selbst kein Ethiker bin.

Gerechtigkeit verlangt keine absolute Gleichbehandlung, sondern erlaubt auch gerechtfertigte Ungleichbehandlungen.

Ihr Spezialgebiet ist die Erkenntnistheorie. Wie kann diese in der Corona-Krise genutzt werden?

Das ist eine sehr gute Frage. Normalerweise denkt jeder, der sich in einer globalen Krise wie der jetzigen Orientierung von der Philosophie erhofft, sofort an die Ethik. Aber es gibt eben auch sehr gravierende Erkenntnisprobleme in dieser Krise, die bislang noch nicht so viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Welche Erkenntnisprobleme meinen Sie?

Ein zentrales Problem dieser Art stellt sich im Zusammenhang mit der Forderung nach einer evidenzbasierten Politik. Wenn Politiker der Pandemie vernünftig entgegentreten sollen, dann brauchen sie zuverlässige Prognosen darüber, wie sich das Pandemiegeschehen entwickeln wird und welche Effekte bestimmte Maßnahmen haben werden. Die Politik sollte sich dabei auf die zuständigen Wissenschaften verlassen. Doch hier kommt das Problem. Gerade bei so neuartigen Phänomenen wie der Corona-Infektion stellen sich wissenschaftliche Meinungen später manchmal als falsch heraus und die Wissenschaften sprechen keinesfalls mit einer Stimme. Wie soll sich also der Politiker an den Wissenschaften orientieren, wenn sich die Wissenschaftler täuschen können und sogar widersprechen? 

vergrößern: Kreidezeichnung Corona
Foto: Markus Spiske / unsplash.com

Die Erkenntnistheorie kann durch eine relativ einfache Überlegung zeigen, wie sich die Politik dennoch an der Wissenschaft orientieren kann. Unter den wirklich einschlägigen Wissenschaftlern gibt es nämlich fast immer eine deutliche Mehrheitsmeinung; und dass hoch kompetente Akteure unabhängig voneinander zur gleichen Auffassung kommen, ist ein klarer Indikator für deren Wahrheit. Die Politik sollte sich also auf die Mehrheitsmeinung in der Wissenschaft stützen. Allerdings kann wissenschaftlicher Konsens die Wahrheit nicht garantieren.

Zu Beginn der Pandemie gab es über viele Dinge, auch die Wirksamkeit von Masken, zu wenig Daten in den Wissenschaften. Deswegen mussten Wissenschaftler ihr Urteil teilweise revidieren. Dennoch ist die Wissenschaft der beste uns verfügbare Weg zur Wahrheit. Politikerinnen und Politiker sollten allerdings stets damit rechnen, dass sich der Stand der Wissenschaft auch als falsch herausstellen könnte. Das darf ihr prinzipielles Vertrauen in die Wissenschaft jedoch nicht untergraben.

Die Wissenschaft ist der beste uns verfügbare Weg zur Wahrheit. Politikerinnen und Politiker sollten allerdings stets damit rechnen, dass sich der Stand der Wissenschaft auch als falsch herausstellen könnte.

Welche weiteren erkenntnistheoretischen Probleme gibt es im Zusammenhang mit der Pandemie?

Ein erkenntnistheoretisches Problem hängt mit unserer Neigung zum Selbst- oder zumindest Mitdenken zusammen. In Fragen, die uns alle angehen, neigen wir dazu, uns nicht einfach auf das zu verlassen, was uns andere sagen, sondern uns die Gründe und Argumente selbst anzusehen. Das machen wir auch dann, wenn wir mit wissenschaftlichen Thesen konfrontiert sind. Allerdings sind wir als Laien oft gar nicht in der Lage, die Evidenzen angemessen zu beurteilen. Dazu fehlt uns schlicht die Kompetenz und Übung. Dennoch folgen wir in der Regel nur den Urteilen, die wir selbst plausibel und nachvollziehbar finden. Das kann aber in Krisen, in denen zudem unsere eigenen Interessen massiv betroffen sind, auch zu einer Zurückweisung wissenschaftlich allgemein anerkannter Thesen führen.

vergrößern: Coronaleugner
Foto: Markus Spiske / unsplash.com

Verschlimmert wird die Sache noch dadurch, dass geschickte Wissenschaftsleugner oder Pseudowissenschaftler die Daten so selektiv präsentiert, dass alles gegen die Wissenschaften und für sie selbst zu sprechen scheint. Genau das passiert in Beiträgen und Büchern von Corona-Leugnern. Folgen wir allein unseren Plausibilitätserwägungen, dann möchten wir ihnen 100% recht geben, weil alles, was sie vorbringen, so einleuchtend erscheint und zudem für einen entspannten Umgang mit der Pandemie spricht. Genau das ist dem Buch Corona Fehlalarm? aus dem Sommer letzten Jahres geglückt, in dem durch geschickt selektive Präsentation von Evidenzen der für den Laien plausibel erscheinende, wenn auch falsche Eindruck erweckt wird, dass die Corona-Infektionswelle ganz ähnlich wie eine saisonale Grippe verläuft und dass die Erkrankung viel weniger gefährlich und verbreitet ist, als offiziell behauptet wird. Dieses Problem kann der Laie nur dann vermeiden, wenn er der Mehrheitsmeinung der Wissenschaftler auch dann folgt, wenn sie aus der eigenen Perspektive nicht gut nachvollziehbar ist. Und das ist natürlich eine gewisse Zumutung für den gesunden Menschenverstand.

Wird die Philosophie in der Krise genug gehört? 

Es ist klar, dass zunächst einmal alle relevanten wissenschaftlichen Fakten auf den Tisch müssen, wenn die Politik evidenzbasiert entscheiden soll. Deshalb haben empirische Wissenschaften wie Virologie, Epidemologie, Gesundheitswissenschaften, Ökonomie, Bildungswissenschaften, Sozialpsychologie eine gewisse Vorrangstellung. Diese Fächer erlauben Prognosen darüber, welche Konsequenzen Entwicklungen und unsere Handlungen haben. Aber um auf der Basis dieser Fakten vernünftige politische Entscheidungen treffen zu können, braucht es auch normative Orientierung darüber, welche Güter betroffen sind und wie sie gegeneinander gewichtet werden sollen. Hier ist die Philosophie unverzichtbar wie auch dafür, ein vernünftiges Vertrauen in die Wissenschaften zu erhalten.

Ein klares Anzeichen der Taubheit der Politik für die Stimme der Philosophie ist die deutliche Unterrepräsentation von Philosophen in den Ethikräten des Bundes und der Länder.

Es hat tatsächlich ein bisschen gedauert, bis die Medien und die Öffentlichkeit die Bedeutung der Philosophie in der Krise entdeckt haben. Mittlerweise gibt es Talkshows und Radiosondersendungen, zu denen auch Philosophen eingeladen werden. Die Tageszeitungen sind voll mit philosophischen Beiträgen zur Corona-Krise. Übrigens hat man inzwischen Zugang zu allen öffentlichen Beiträgen von Philosophen in den Medien über das Online-Portal PhilPublica. Es gab auch einige nennenswerte deutsche Buchpublikationen von Philosophen zur Corona-Krise, darunter das Buch Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit von Mukerij und Mannino und der Sammelband Nachdenken über Corona von Keil und Jaster. Allerdings habe ich den deutlichen Eindruck, dass die Bedeutung der Philosophie in Krisenzeiten von der Politik immer noch sehr stark unterschätzt wird. So war es übrigens bereits in der Flüchtlingskrise 2015/16. Ein klares Anzeichen der Taubheit der Politik für die Stimme der Philosophie ist die deutliche Unterrepräsentation von Philosophen in den Ethikräten des Bundes und der Länder. 

Welches sind aus Ihrer Sicht die zentralen moralischen Probleme und Dilemmata, die die Pandemie mit sich bringt? Und was sind die zentralen erkenntnistheoretischen Fragestellungen in der Krise? Und wie könnten Antworten aussehen?

Viele der philosophischen Fragen und Probleme, die die aktuelle Pandemie aufwirft, sind uns aus der Medizinethik, der politischen Philosophie und der Erkenntnis- und Wissenschaftsphilosophie bereits bekannt; sie stellen sich jetzt nur viel drängender und nachdrücklicher. Ich kann hier nur einige Fragen aufzählen: Wie sollen wir uns in sogenannten Triage-Situationen verhalten, also wenn aus Ressourcenknappheit nicht alle die lebensrettenden Maßnahmen erhalten können, die sie brauchen? Wer soll dann den Vorrang bekommen? Solche Fragen stellten sich bislang vor allem im Kontext von Kriegen und Katastrophen. In Städten wie Bergamo, New York oder Manaus muss nun in der Pandemie entschieden werden, wer an ein Beatmungsgerät angeschlossen wird und wer nicht. So grauenhaft solche Entscheidungen über Leben und Tod sind und so sehr wir uns bemühen sollten, solche Entscheidungen unnötig zu machen, wenn diese Entscheidungen anstehen, sollten sie auch ethisch rational erfolgen und nicht willkürlich. Dafür entwickelt die Medizinethik Vorrangregeln.

So grauenhaft Entscheidungen über Leben und Tod sind und so sehr wir uns bemühen sollten, solche Entscheidungen unnötig zu machen, wenn diese Entscheidungen anstehen, sollten sie auch ethisch rational erfolgen und nicht willkürlich.

Angesichts bislang knappen Impfstoffs stellt sich sodann die Frage nach einer gerechtfertigten Impfreihenfolge. Das jetzt (zum Zeitpunkt des Interviews im Mai 2021, Anmerkung der Redaktion) in Deutschland geltende Vulnerabilitätskriterium, wonach zunächst Ältere, Personen mit Vorerkrankungen und Berufsgruppen mit einem besonders großen Infektionsrisiko geimpft werden, ist philosophisch gut begründet worden. In welchem Umfang dürfen wir von der Gesellschaft insgesamt erwarten, dass sie auf viele Freiheiten verzichtet, um die besonders vulnerablen Risikogruppen zu schützen? Weitere Fragen stellen sich im Umfeld der politischen Philosophie: Wie starke Eingriffe in individuelle Freiheitsrechte sind durch den Infektionsschutz gerechtfertigt? Krisenzeiten sind die Stunde der Exekutive, sagt man. Wird durch die gegenwärtige Machtverlagerung auf die Exekutive das Parlament in seinen Rechten unzulässig beschnitten? Inwieweit müssen wir aus der Perspektive der globalen Gerechtigkeit Impfstoffe auch stärker an Länder der Dritten Welt verteilen? Schließlich stellen sich philosophische Fragen zum Verhältnis Wissenschaft und Politik. Also: Wie soll sich die Politik an der Wissenschaft orientieren? Welchen Spielraum lässt die Wissenschaft für vernünftige politische Entscheidungen? Wie lassen sich Wissenschaftsleugner und Pseudowissenschaftler identifizieren? Wie sollte die Wissenschaft ihre Ergebnisse angesichts von Unsicherheit und Fehlbarkeit in die Öffentlichkeit kommunizieren?

Philosophische Fragen dieser Art drängen sich in der Pandemie unabweisbar auf. Ich kann sie hier nicht alle beantworten. Aber grundsätzlich kann die Philosophie helfen, sie mit rationalen Methoden zu beantworten.

Die Corona-Krise führt unter anderem auch zu mindestens zeitweisen Veränderungen für die Arbeitswelt und das Studium: Die Digitalisierung wurde beschleunigt und Home Office sowie digitales Studium sind an der Uni Köln aktuell die Regel. Wie stehen Sie zu diesen Veränderungen?

Dass Studienanfänger seit über einem Jahr die Universität nicht von innen gesehen haben, dass der lebendige Austausch zwischen Lehrenden und Studierenden auch über die Seminarstunden hinaus komplett abgebrochen ist, dass es keine Gelegenheiten mehr gibt, nach Vorträgen oder am Rande von Tagungen formlos bei einem Glas Wein miteinander ins Gespräch zu kommen und dass Studierende wie kaum eine andere Bevölkerungsgruppe durch den für sie bereits seit über einem Jahr geltenden Dauerlockdown zunehmend vereinsamen, ist eine wirklich große Tragödie, über die auch in der Öffentlichkeit immer noch viel zu wenig geredet wird.

vergrößern: Digitale Lehre
Foto: Julia M Cameron / pexels.com

Dennoch war nicht alles schlecht an der forcierten Digitalisierung des Unterrichts und dem Home Office. Manche Unterrichtsformate lassen sich sehr gut digital durchführen. Für manchen Studierenden fallen auch Schwellenängste bei der Beteiligung weg. Es ist eben doch einfacher, sich vor dem Bildschirm zu beteiligen, als in einem Hörsaal mit 300 Kommilitonen. Online organisierte Vorträge bekommen manchmal überraschend interessante Besucher aus dem hintersten Winkel der Welt, ganz ohne Aufwand oder Kosten. Für mich als Forschendem hatte die erzwungene Konzentration am Schreibtisch auch etwas Befreiendes, das ungeahnte Potenziale freisetze, so ganz ohne Meetings und Vortragsreisen. Mal ganz zu schweigen davon, dass so natürlich auch der ökologische Fußabdruck verkleinert wird. Mit den Erfahrungen aus der Pandemie im Gepäck sollten wir also nicht einfach weitermachen wie vorher, sondern die guten Aspekte des digitalen Austausches bewahren und optimieren, auch wenn mir ein Primat des Präsenzunterrichts und der Präsenztagungen nach wie vor unverzichtbar erscheint.

Zum Abschluss würde ich gerne noch eine eher persönliche Frage stellen. Gibt es etwas, das Sie in der Pandemie ganz besonders erschüttert hat?

Da möchte ich drei Dinge nennen. Erstens hatte man während der ersten Infektionswelle im Frühjahr 2020 zunächst den Eindruck, dass in Deutschland aus der Not eine neue Form von Solidarität erwuchs. Wildfremde Menschen unterstützten einander bei der Versorgung mit dem Nötigsten und dem medizinischen Krankenhauspersonal wurde öffentlich Applaus gespendet. Doch im Rückblick erscheint dieser Zusammenhalt als reine Angstgeburt. Heute bestimmen Neiddebatten die Öffentlichkeit, bei denen es darum geht, Impfreihenfolgen im eigenen Interesse umzudrehen oder vermeintliche Privilegien der Geimpften zu kritisieren. Am schlimmsten war aber die zu beobachtende Entsolidarisierung mit den Älteren, von denen es sogar hieß, dass man sich nicht in Geiselhaft zum Schutz von Menschen nehmen lasse, die ohnehin bald sterben würden. Solche öffentlichen Positionen haben mich doch einigermaßen bestürzt.

Zweitens lässt sich eine gewisse, ich möchte fast sagen: systematische, Zögerlichkeit der Politik beobachten, den wissenschaftlichen Empfehlungen zu folgen, und zwar auch dann, wenn es um rein medizinische Fragen geht. Zu Beginn der zweiten und dann der dritten Infektionswelle war das exponentielle Ansteigen der Infektionszahlen für die Wissenschaftler klar belegt. Die Dynamik erforderte ein sofortiges und entschiedenes Handeln. Dennoch hat sich die Politik es versäumt, entschieden zu reagieren. Was dann zu einer Beschleunigung des Anstiegs führte und unvermeidlich doch einen Lockdown nach sich zog, der früher eingesetzt sicher nachhaltigere Wirkungen erzielt hätte. Ich hätte mir gewünscht und für Deutschland eigentlich auch erwartet, dass die Politik stärker evidenzbasiert und wissenschaftsorientiert gehandelt hätte.

Drittens konnte man auch in der Philosophie ab dem Spätsommer eine gewisse Tendenz zum sorglosen Schwadronieren beobachten. Da wurden Stimmen laut, dass der Lockdown letztlich eine Überreaktion dargestellt hätte, der nur durch die Ungewissheit in der frühen Phase der Pandemie entschuldbar sei. Als ob extrem hohe Sterbezahlen und eine drohende Überlastung des Gesundheitssystems nicht auch den zweiten Lockdown klar gerechtfertigt haben. Schlimmer noch: Einige Philosophen haben jeglichen Kontakt zu den Fakten verloren, wenn sie immer noch fälschlicherweise behaupten, dass die Corona-Infektion wie eine Grippewelle sei. Dabei wissen wir, dass die Krankheit viel gefährlicher ist und die Pandemie sich im Unterschied zu den saisonalen Grippen immer noch weitgehend ungebremst durch eine Hintergrundimmunität verbreitet. In den Reihen der Philosophen gibt es sogar Wissenschaftsleugner, die die Zuverlässigkeit wissenschaftlicher Methoden und Modelle generell angreifen.

Vielen Dank für das Interview!

Die Fragen stellte Sarah Brender.

Über Thomas Grundmann:

Eigentlich wollte der 1960 in Kiel geborene Thomas Grundmann gar kein Philosoph werden, sondern Schriftsteller. Die Philosophie sollte nur Begleitfach zu seinem literaturwissenschaftlichen Kernstudium sein. Aber der Kontakt mit der Philosophie und mit beeindruckenden Philosophielehrern hat ihn gefesselt. „Die Ernsthaftigkeit der Philosophie und ihre Kraft, sich im Nachdenken über die wirklich wichtigen Fragen selbständig zu orientieren, besitzen eine Faszinationskraft, die man niemandem erklären kann, der das nicht selbst erlebt hat“, schwärmt Grundmann.

An der Erkenntnistheorie hat ihn zuerst der völlig losgelöste Blick auf die Welt interessiert: „Sich mit der Vorstellung zu beschäftigen, dass wir vielleicht dauernd unbemerkt von einem bösen Neurowissenschaftler getäuscht werden oder dass die Welt nicht ganz unabhängig von unserem Geist sein könnte, hat einen ganz eigenen Reiz.“

Heute hat Grundmann eine Professur für Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und Logik an der Uni Köln inne und beschäftigt sich vor allem mit der angewandten Erkenntnistheorie: Wie verbreiten sich Täuschungen und Fake News über die sozialen Medien und wie kann man dem entgegenwirken oder inwieweit dürfen sich Laien noch auf ihr eigenes Urteilsvermögen verlassen, wenn sie von Experten informiert werden?

Über diese letzte Frage schreibt er gerade ein Buch. Die Volkswagen Stiftung finanziert für eineinhalb Jahre seine Freistellung für die Forschung im Rahmen ihres Opus Magnum Förderprogramms.