Eine Reihe von Experimenten am ALTO-Teilchenbeschleuniger im französischen Orsay hat erwiesen, dass die bei der Kernspaltung entstehenden Fragmente ihren Eigendrehimpuls (oder Spin) nach der Spaltung erhalten und nicht vorher, wie bisher in den meisten Theorien angenommen. Ermöglicht wurde dieses Ergebnis durch die „nu-ball“ Kollaboration, in der eine internationale Gruppe von Kernphysikerinnen und -physikern ein breites Spektrum von Atomen und deren Struktur untersucht.
Die Gruppe umfasst Forschende aus 37 Instituten und 16 Ländern, darunter auch Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen des Instituts für Kernphysik (IKP) der Universität zu Köln. Das Irène-Joliot-Curie-Labor in Orsay hat die Leitung der Gruppe inne. Die Studie ist unter dem Titel „Angular momentum generation in nuclear fission“ in „Nature“ erschienen.
Die Kernspaltung, bei der sich ein schwerer Kern in zwei Teile spaltet und Energie freisetzt, wurde bereits Ende der 1930er Jahre von den Chemikern Otto Hahn und Fritz Straßmann, der Physikerin Lise Meitner und dem Physiker Otto Frisch entdeckt. Offene Fragen zu diesem Prozess bestehen jedoch bis heute. Die neue Studie hat untersucht, warum sich die bei der Spaltung eines schweren Atomkerns entstehenden Bruchstücke drehen, obwohl sich der ursprüngliche Kern nicht gedreht hat. Dazu gibt es konkurrierende Theorien. Die meisten gehen jedoch davon aus, dass der Spin der Spaltfragmente erzeugt wird, bevor sich der Kern spaltet, was zu einer klaren Korrelation der Spins der beiden Partnerfragmente führe.
Um den Mechanismus aufzudecken, der den Fragmentspin erzeugt, führte das Team in der ALTO-Anlage Kernspaltungsreaktionen herbei und maß die Gammastrahlung, die dabei emittiert wurde. Die Forschenden buchten von Februar bis Juni 2018 mehr als 1200 Stunden Strahlzeit in dem Teilchenbeschleuniger, um Proben des Uranisotops 238U und des Thoriumisotops 232Th mit einem gepulsten Neutronenstrahl zu beschießen. Aus Köln waren Rosa-Belle Gerst, Guillaume Häfner, Dr. Nigel Warr und Dr. Andrey Blazhev an der Vorbereitung und Durchführung des Experiments beteiligt. Zudem analysierten sie ausgewählte Daten und trugen zur wissenschaftlichen Diskussion bei.
Die umfassenden Daten zeigten, dass der Spin tatsächlich nach der Kernspaltung erzeugt wird. Das belegte die Analyse der gemessenen Gammastrahlen. Die Experimente zeigten auch, dass der durchschnittliche Spin von der Masse des Fragments abhängig ist und die Abhängigkeit der Form eines Sägezahns entspricht. Die beiden Fragmente, die sich in unterschiedlichen Massenverhältnissen aufteilen können, weisen jedoch durchschnittliche Spins auf, die nicht von der Masse ihres Partnerfragments abzuhängen scheinen.
Der Hauptautor der Studie, Dr. Jonathan Wilson vom IJC-Labor in Orsay, erklärt: „Was mich wirklich überraschte war das Fehlen einer signifikanten Abhängigkeit des in einem Fragment beobachteten durchschnittlichen Spins von dem im Partnerfragment geforderten minimalen Spin. Die meisten Theorien, die annehmen, dass Spin vor der Spaltung erzeugt wird, hätten eine starke Korrelation vorhergesagt. Unsere Ergebnisse zeigen, dass der Fragmentspin nach der Aufspaltung erzeugt wird. Man kann es sich vorstellen, als wären die Kernfragmente mit einem gedehnten Gummiband verbunden, das irgendwann reißt. Dies erzeugt eine Drehkraft, oder Drehmoment.“
Dr. Nigel Warr sagt: „Ein wichtiger Meilenstein für das aktuelle Experiment war ein früheres Experiment in der ALTO-Anlage, bei dem 24 hochauflösende MINIBALL-Gamma-Detektoren verwendet wurden, die wir in Köln entwickelt haben.“ Dr. Andrey Blazhev fügt hinzu: „Das ermöglichte uns die Entwicklung des Multi-Detektor-Spektrometers ‚nu-ball‘, das aus 164 Detektoren besteht. Mit diesem Instrument war es möglich, Gammastrahlung mit hoher Auflösung und höherer Effizienz als früher zu messen.“
Die neuen Erkenntnisse über die Rolle des Drehimpulses bei der Kernspaltung sind wichtig für das grundlegende Verständnis und die theoretische Beschreibung des Spaltungsprozesses. Sie beeinflussen aber auch andere Forschungsgebiete wie die Untersuchung der Struktur neutronenreicher Isotope und der Synthese und Stabilität superschwerer Elemente.
Darüber hinaus eröffnet die Studie neue Möglichkeiten für praktische Anwendungsbereiche, wie etwa das Problem der Erhitzung durch Gammastrahlen in Kernreaktoren. Die bei der Kernspaltung emittierte Gammastrahlung und speziell die Gammamultiplizität (Anzahl der emittierten Gammastrahlen pro Spaltung) ist ein wichtiger Parameter für die Berechnung der Erwärmung in Kernreaktoren. Das Forschungsteam konnte die Gammamultiplizität direkt messen, was in Zukunft genauere Berechnungen der Erwärmung in Kernreaktoren ermöglichen wird.
Das Institut für Kernphysik der Universität zu Köln blickt auf eine lange Kooperation mit verschieden Forschungsgruppen in Orsay zurück. Es bringt regelmäßig seine Expertise zu Gammadetektoren sowie zur Datenanalyse und Kernstrukturinterpretation in gemeinsame Forschungsprojekte ein.
Inhalticher Kontakt:
Dr. Andrey Blazhev
a.blazhevikp.uni-koeln.de
Dr. Nigel Warr
warrikp.uni-koeln.de
Presse und Kommunikation:
Eva Schissler
+49 221 470 4030
e.schisslerverw.uni-koeln.de
Publikation:
https://www.nature.com/articles/s41586-021-03304-w
DOI: 10.1038/s41586-021-03304-w
Weitere Informationen:
Institut für Kernphysik (UzK): www.ikp.uni-koeln.de/
IJC Labor: www.ijclab.in2p3.fr/en/home/