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Insekten können Handlungen ähnlich wie Säugetiere steuern

Ein Kölner Forschungsteam identifiziert den Pilzkörper als Zentrum für Verhaltensentscheidungen im Insektengehirn / Studie im Fachblatt „Current Biology“ erschienen

Schabengehirn mit Pilzkörper Lichtmikroskopische Fluoreszenzaufnahme einer Ganzkörperfärbung des Schabengehirns, welche oben Teile des Pilzkörpers (grün) und unten Teile des sensorischen Pfades zur Warhnehmung von Düften (Antennalloben, magenta) darstellt. Foto: Claudia Groh

Der Pilzkörper – eine Schaltstelle im Zentralgehirn von Gliederfüßern – ist dafür verantwortlich, dass Insekten abstrakte Verhaltensentscheidungen treffen können, die dann durch nachgeschaltete motorische Zentren ausgeführt werden. Zu diesem Ergebnis kamen Professor Dr. Martin Paul Nawrot und Dr. Cansu Arican von der Arbeitsgruppe „Computational Systems Neuroscience“ am Institut für Zoologie der Universität zu Köln. Die Studie ist unter dem Titel „The mushroom body output encodes behavioral decision during sensory-motor transformation“ in Current Biology erschienen.

In der Forschung galt lange, dass Insekten roboterartig nach einfachen Reiz-Reaktionsschemata agieren, doch diese Sicht hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten stark gewandelt: „Insekten besitzen einfache kognitiven Fähigkeiten wie die Bildung und der Abruf von Gedächtnissen und die erfahrungsbasierte Entscheidungsfindung. Trotz ihrer vergleichsweise kleinen Gehirne zeigen sie komplexe Verhaltensmuster“, sagt Professor Dr. Nawrot.

Die dafür notwendigen Leistungen des Nervensystems laufen bei wirbellosen Insekten und Säugetieren – und somit auch Menschen – in vielerlei Hinsicht nach ähnlichen Grundprinzipien ab. Dazu gehören eine schnelle sensorische Verarbeitung von Umwelteindrücken und deren Bewertung, ein Abgleich mit erlernter Erfahrung (und daraus abgeleitet eine zuverlässige Entscheidung zwischen möglichen Verhaltensoptionen) sowie letztlich die motorische Durchführung einer Verhaltenssequenz.

15 Jahre Forschung an Gehirn-Schaltkreis

Ein wichtiges Schaltzentrum im Zentralgehirn des Insekts, das aufgrund seiner anatomischen Form als Pilzkörper bezeichnet wird, ist ausschlaggebend für die Bildung von Gedächtnissen. In den letzten 15 Jahren haben unterschiedliche Forschungsvorhaben gezeigt, dass die Gedächtnisinformation über den Wert eines sensorischen Reizes am Ausgang des Pilzkörpers kodiert wird. Im Rahmen der seit 2018 durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsgruppe 2705 „Entschlüsselung eines Gehirn-Schaltkreises: Struktur, Plastizität und Verhaltensfunktion des Pilzkörpers von Drosophila“ trägt auch das Kölner Team um Professor Nawrot zu dieser Forschung bei. So bestimmen Insekten, ob ein bestimmter Reiz zuvor als positiv abgespeichert wurde (etwa ein Duft, der Nahrung verspricht) oder als negativ (etwa ein Duft von krankmachenden Stoffen wie schädliche Bakterien im Futter). Jüngste Arbeiten haben zusätzlich gezeigt, dass die Ausgangsneurone des Pilzkörpers auch solche sensorischen Reize bewerten, die für angeborenes, das heißt nicht erfahrungsbasiertes Verhalten relevant sind.

Neue Funktion des Pilzkörpers beschrieben

Im nun vorliegenden Artikel hat Erstautorin Dr. Cansu Arican in ihren Experimenten die Aktivität der Ausgangsneurone im Pilzkörper in der Amerikanischen Schabe (Periplaneta americana) gemessen und gleichzeitig das Fressverhalten der Tiere gefilmt. Die Wahl fiel auf diese große Insektenart, da sie ein im Vergleich zur Fruchtfliege, die oft in der Grundlagenforschung als Modellorganismus dient, ein sehr viel größeres Gehirn besitzt. Das erlaubt die elektrische Messung neuronaler Signale, wodurch es möglich war, sowohl die Reizstimulation mit verschiedenen Düften als auch die neuronalen Antworten im Pilzkörper – und letztlich das Fressverhalten des Tieres – als mögliche Verhaltensreaktion auf den Reiz mit hoher zeitlicher Präzision simultan zu messen und zu interpretieren.

Das Forschungsteam beobachtete, dass die Neurone am Ausgang des Pilzkörpers nicht nur den Wert eines bestimmten Duftes kodieren, zum Beispiel einen Futterduft im Vergleich zu einem neutralen Duft, sondern sich auf der Grundlage dieser Information auch für oder gegen das jeweilige Fressverhalten entscheiden. Dabei treffen sie die Verhaltensentscheidung nicht nur auf der Grundlage der Information über den „Wert“ des Duftes, sondern es spielt auch der momentane Zustand des Tieres eine Rolle, zum Beispiel, ob es in dem Moment hungrig oder satt ist. Im jeweiligen Versuchsdurchgang und auf Basis des neuronalen Antwortmusters war es so möglich, präzise vorherzusagen, ob das Tier nur etwa ein Zehntel Millisekunden später das Fressverhalten zeigt oder nicht.

Ähnlich der motorischen Großhirnrinde im menschlichen Gehirn fällt der Pilzkörper somit eine erste Verhaltensentscheidung und sendet ein abstraktes motorisches Kommando an das nachgeschaltete motorische System – in der Analogie des Menschen ist dies das Rückenmark – welches das Verhalten dann durch die konkrete Ansteuerung von Muskeln ausführt. „Dieses Ergebnis ändert die Sichtweise auf den Pilzkörper, der nun als Zentrum für Gedächtnisbildung und Verhaltensentscheidung gesehen werden kann. Das ist wichtig, da die Erforschung von Insektengehirnen auch für das Verständnis der Funktion von komplexeren Gehirnen relevant ist“, resümiert Dr. Cansu Arican.

Die Studie wurde durch Fördermittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des NRW Netzwerks „iBehave“ unterstützt.

Inhaltlicher Kontakt:

Professor Dr. Martin Paul Nawrot

Institut für Zoologie der Universität zu Köln

+49 221 470 7307

mnawrot@uni-koeln.de

Presse und Kommunikation:

Eva Schissler

+49 221 470 4030

e.schissler@verw.uni-koeln.de

Publikation:

https://www.cell.com/current-biology/fulltext/S0960-9822(23)01059-X