Seit Ausbruch der Coronapandemie sind wir gezwungen, zwischen ethischen Gütern wie etwa Gesundheit, Bildung und Bewegungs- sowie Berufs- und Religionsfreiheit abzuwägen. Keine leichte Aufgabe für Politik, Wissenschaft und Gesellschaft. Professorin Dr. Christiane Woopen, Medizinethikerin und Vorsitzende des Europäischen Ethikrates, ist überzeugt, dass noch Spielraum vorhanden ist, die Dilemmata zu entschärfen.
Das Interview führte Silke Gärtzen
Frau Woopen, seit Beginn der Pandemie sollen Beschränkungen die Infektionen eindämmen – Geschäfte schließen, Veranstaltungen und Treffen sind verboten. Die Folge: Menschen werden in ihrer Freiheit beschränkt, sie vereinsamen, viele kämpfen um ihre Existenz. Ist diese Situation überhaupt ein Dilemma, wenn es doch um den Schutz von Leben geht?
Ja, denn es geht um den Konflikt zwischen mehreren hochrangigen ethischen Gütern, die im rechtlichen Rahmen Verfassungsrang haben. In einer Pandemie können wir diesen Konflikt nicht »gut« lösen, sondern wir müssen das geringere Übel wählen. Das ist das Definitionsmerkmal von Dilemma und verlangt schwierige Abwägungsprozesse.
Eines halte ich aber für ein großes Problem: Nach einem Jahr Pandemie schöpfen wir immer noch nicht alle Möglichkeiten aus, um diese schwierigen Entscheidungen soweit zu entschärfen, wie nur eben möglich. Dazu sollte eine differenzierte Strategie mit einem regelmäßigen Einsatz von Schnelltests gehören, durch die die infektiösen Menschen möglichst früh gefunden werden; oder der Einsatz von Technologien, die die Infektionsketten umfassend und tagesgleich nachvollziehen können, um weitere Infektionsquellen aufzudecken, also etwa die Luca-App und die Kinexon SafeZone-Technologie. Wenn man schon eine dilemmatische Situation vor sich hat, gehört es zur politischen Verantwortung alles dafür zu tun, den Dilemma-Charakter des Konfliktes so weit abzuschwächen, wie eben möglich.
Nach einem belastenden Jahr laufen die lang ersehnten Coronaimpfungen an – doch jetzt treffen wir auf Impfskepsis. Wie können wir die Bereitschaft zur Impfung erhöhen?
Es wird immer Menschen geben, die Impfungen kritisch gegenüberstehen, und die man nie erreichen wird. Aber um diejenigen, die man erreichen kann, sollte man sich sehr bemühen. Die wirkungsvollsten Faktoren sind aus meiner Sicht die Kommunikation und der Erfolg. Es muss viel und ständig darüber aufgeklärt werden, wie zum Beispiel eine solche Impfung funktioniert und welche Kontrollmechanismen in dem Prozess von Entwicklung und Anwendung beteiligt sind. So können die Menschen darauf vertrauen, dass der Nutzen der Impfung höher ist als das Risiko, wenn eine Behörde die Zulassung ausspricht.
Es ist wichtig, transparent zu sein. Man muss ehrlich ansprechen, dass sich Risiken nie ausschließen lassen. Bisher beschränken sich diese auf die Symptome eines leichten grippalen Infekts und Schmerzen an der Einstichstelle. Es sind zwar auch Todesfälle nach Impfungen aufgetreten, die aber nach allem, was man bis heute weiß, an massiven Vorerkrankungen lagen und nicht an der Impfung selbst. Über all das muss aufgeklärt und ein Dialog geführt werden.
Die Politik lehnt es ab, Geimpften mehr Freiheiten zu gewähren. Vor allem sei noch nicht gesichert, dass Geimpfte das Virus nicht weiter übertragen. Wenn aber nachgewiesen wird, dass Geimpfte niemanden anstecken können, ist es dann vertretbar, ihre Grundrechte weiterhin einzuschränken?
Nein, das ist nicht vertretbar. Wenn Einschränkungen dann aber nicht mehr für alle gelten würden, muss man dafür sorgen, dass alle Bürgerinnen und Bürger, die noch nicht geimpft werden konnten, trotzdem so schnell wie möglich wieder ihre Grundrechte wahrnehmen können. Für Menschen, die schon mit Corona infiziert waren, kann das über einen Immunitätsnachweis erreicht werden. Eine andere Möglichkeit sind Schnelltests: Diejenigen, die sich einem Schnelltest unterziehen konnten, sind zumindest für diesen Tag mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht infektiös. Eine reine Konzentration auf die Impfung würde mir nicht ausreichen.
Die Menge des zur Verfügung stehenden Impfstoffs ist knapp. Die ständige Impfkommission des Robert Koch-Instituts hat eine Prioritätenliste aufgestellt, nach der die Impfung unter anderem nach Alter und Risiko eines schweren Erkrankungsverlaufs gestaffelt verabreicht werden soll. Wie beurteilen Sie diese Strategie?
Aus ethischer Perspektive halte ich diese Strategie grundsätzlich für richtig. Es geht darum, die schweren und tödlichen Verläufe zu verhindern und das Leben von Menschen mit hohem Risiko dafür zu schützen. Es ist aber auch wichtig, die epidemiologische Perspektive zu berücksichtigen, also die Ausbreitung einzudämmen. Als dritten Aspekt würde ich die soziale Situation hinzufügen. Sozial benachteiligte Menschen leiden schwerer unter der Pandemie und ihren Folgen. Man könnte, ganz pragmatisch, Impfteams zu Schulen in Vierteln schicken, in denen Menschen unter prekären Umständen leben. So kann der Schulbetrieb schneller wieder losgehen, die Menschen sind geschützt und die die Schülerinnen und Schüler haben wieder Zugang zu Bildung. Problematisch fand ich, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen und mit schweren Vorerkrankungen, die auch ein besonders hohes Risiko für erhebliche Schäden oder einen schweren und tödlichen Verlauf haben, erst spät berücksichtigt wurden. Das ist ja inzwischen angepasst worden.
Familien stehen bei der erneuten Schließung von Kitas und Schulen vor der kaum lösbaren Aufgabe, Homeschooling und Beruf miteinander zu vereinbaren. Vor allem jüngere Kinder und solche aus sozial schwachem Umfeld kommen zu kurz. Welchen Stellenwert sollten Bildungseinrichtungen in Zeiten einer Pandemie haben?
Für mich haben sie nach der Gesundheitsversorgung und der Basisversorgung mit dem, was zum alltäglichen Überleben gehört, den höchsten Stellenwert. Die Bildung ist die Ressource für die Zukunft der jungen Menschen und für die Zukunft der Gesellschaft.
Wenn man sich Studien anschaut, sind selbst kurze Bildungseinschnitte oft mit lebenslangen Nachteilen verbunden. Nur wenige Wochen Unterbrechung können gerade für sozial schwächer Gestellte schwerwiegende Folgen nach sich ziehen. Man kann den Wert der Bildung schon deswegen nicht hoch genug ansetzen. In einer solchen Pandemie muss er umso höher gehalten werden, da sich die soziale Ungleichheit noch mal zu verschärfen droht.
Lassen Sie uns in die Zukunft schauen – wann werden wir wieder »normal« leben?
Wir werden nach meiner Einschätzung nicht so schnell zu einer Normalität zurückkehren können, wie wir sie aus der Zeit vor SARS-CoV-2 kennen. Die Pandemie wird uns in vielerlei Hinsicht noch so lange einschränken, bis die Kontrolle auf der ganzen Welt greift. Da die internationale Dimension politisch jedoch allzu sehr vernachlässigt wird, werden wir uns leider noch gedulden müssen.
Professorin Dr. Christiane Woopen ist Vorsitzende des Europäischen Ethikrates (EGE) und Mitglied im Expertenrat Corona NRW. An der Universität zu Köln ist sie geschäftsführende Direktorin des Cologne Center for Ethics, Rights, Economics, and Social Sciences of Health (ceres) sowie Professorin für Ethik und Theorie der Medizin und Leiterin der Forschungsstelle Ethik an der Medizinischen Fakultät.