Wie die Erde bewohnbar wurde
Welche Kräfte und Prozesse formten die junge Erde zu ihrer heutigen Gestalt und machten sie zu einem Planeten, auf dem sich Leben entwickeln konnte? Vieles davon ist noch ein Rätsel. Vier Kölner Geowissenschaftler liefern nun neue Erkenntnisse und Modelle zu dessen Entschlüsselung.
Von Dieter Dürand
Dr. Jonas Tusch und Professor Dr. Carsten Münker klopfen gerne Steine. Aber nicht irgendwelche, sondern solche, die sich vor drei bis vier Milliarden Jahren zur Urzeit unseres Planeten bildeten – während des sogenannten Archaikums. Denn die steinernen Zeitzeugen sind die einzigen, die den Kölner Wissenschaftlern vom Institut für Geologie und Mineralogie verraten können, was bisher noch vielfach im Dunkel liegt: Welche einzigartige Kombination von Prozessen formte die frühe Erde zum – soweit bekannt – einzigen bewohnten Planeten im unendlichen Universum?
Oben und unten, vom inneren Erdkern bis zur Atmosphäre – alles beeinflusst einander. Nur durch das komplexe Zusammenspiel wurde unsere Erde zu dem, was sie ist. Wie die junge Erde aussah und wie sie sich entwickelte, ist eine Frage, der sich Wissenschaftler:innen weltweit mit großem Elan annehmen. Der 55-jährige Münker ist Sprecher des DFG-Schwerpunktprogramms »Building a Habitable Earth«, über das die Deutsche Forschungsgemeinschaft Projekte zur Entschlüsselung des Rätsels finanziert. Er initiiert, fördert und koordiniert in dieser Rolle nicht bloß den Erkenntnisdrang. Münker und Tusch liefern selbst wesentliche Beiträge für die aufwendige Spurensuche.
Weg frei für die Hitze
Ihre jüngste Entdeckung, unlängst veröffentlicht im angesehenen Fachjournal PNAS, liefert erstmals eine in der Fachwelt viel beachtete Erklärung für einen bis dato ungelösten Widerspruch: Obwohl die junge Erde in ihrem Kern vor vier Milliarden Jahren Hunderte Grad Celsius heißer war als heute, mischten sich, so Münker, Mineralien und Gestein im 3.000 Kilometer tief reichenden Erdmantel über 100 Millionen Jahre hinweg »erstaunlich langsam«. Dessen Zusammensetzung blieb daher lange ziemlich heterogen.
Zu erwarten war der gegenläufige Prozess. Denn die enorme Hitze im Erdinneren drängt nach den Gesetzen der Physik zur kühleren Oberfläche und hätte bei ihrem Aufstieg den Mischer eigentlich viel schneller in Gang setzen müssen. Doch richtig Fahrt nahm der Mantelkonvektion genannte Vorgang erst vor rund drei Milliarden Jahren auf. Münker und Tusch haben eine Erklärung für den Spätstart gefunden. Lange war die Erde von einer weitgehend geschlossenen und starren Erdkruste umhüllt. Sie hielt die Hitze gewissermaßen unter dem Deckel. Erst als auf dem blauen Planeten die Plattentektonik Schwung aufnahm, sich also immer mehr Kontinente über und unter den Ozeanen bildeten, riss die Decke auf und machte den Weg frei für die Hitze. Als Folge legte die Konvektion rapide an Tempo zu, bis der Erdmantel schließlich vollständig homogen durchmischt war.
Womit wir wieder bei der Liebe der beiden Geologen für uralte Steine wären. Denn nur mit deren Hilfe konnten sie den wissenschaftlichen Nachweis für ihre These führen. Dafür begaben sie sich 2016 und 2017 auf eine weite Reise in den Nordwesten Australiens und suchten dort über mehrere Wochen nach geeigneten Gesteinsproben. Auf dem fünften Kontinent befindet sich eine der seltenen Gegenden, in der die Plattentektonik in ihrem ursprünglichen Zustand gut erhaltene Vulkangesteine, Basalte und sogenannte Komatiite an die Erdoberfläche geschoben hat. »Sie sind quasi unsere Asservatenkammer und ein äußerst zuverlässiges Archiv der Erdgeschichte«, sagt Tusch.
Die Plattentektonik änderte die Zusammensetzung des Gesteins
Ein besonders unbestechlicher Zeitzeuge, den die Steine bergen, ist das Element Wolfram. Auf dieses hatten es Münker und Tusch damals abgesehen. Denn wie alle chemischen Elemente enthalten auch die Atomkerne des Wolframs zwar immer gleich viele Protonen. Die Zahl der Neutronen kann jedoch abweichen. Die Varianten bilden charakteristische, genau bestimmbare Isotope, die über winzige Unterschiede ihrer Masse eindeutige Signaturen hinterlassen.
Wolfram – Das Schwermetall hat eine hohe Dichte und den höchsten Schmelzund Siedepunkt unter den Elementen. Sein Vorkommen wurde erstmals im 16. Jahrhundert in sächsischen Zinnerzen beschrieben. Sein deutscher Name rührt daher, dass es das Zinnerz wie ein Wolf »aufzufressen« schien. Die englische Bezeichnung tungsten leitet sich von tung sten (schwedisch für »schwerer Stein«) ab.
Die Isolierung des Wolframs aus Gesteinen und die Bestimmung der Isotope per Massenspektrometrie ist allerdings ein hoch diffiziles Verfahren, das nur in Köln und von einer Handvoll Wissenschaftler:innen weltweit beherrscht wird. Zurück in der Heimat gingen die Forscher an die Auswertung. Für diese bietet das 2016 eröffnete und nach dem neusten Stand der Technik ausgestattete Reinraumlabor des Instituts für Geologie und Mineralogie an der Zülpicher Straße ausgezeichnete Voraussetzungen. »Die analytischen Verfahren in Köln ermöglichen zurzeit die weltweit präzisesten Messungen von relativen Isotopenhäufigkeiten des Elements Wolfram«, lobt Münker.
Die Auswertung der Messdaten stützte die Theorie des Kölner Geologen-Duos. Es fand in dem Uralt-Gestein wie vermutet kleinste Anreicherungen am Wolfram-Isotop 182. Erst vor drei Milliarden Jahren verschwindet dies aus jüngerem Gestein – genau zu dem Zeitpunkt, als die einsetzende Plattentektonik den Erdmantel zu einer homogenen Masse zu durchmischen begann und die Isotopenzusammensetzung des Wolframs änderte.
Als der Sauerstoff »explodierte«
Was die beiden herausgefunden haben, führt zu noch weitreichenderen Implikationen für das Verständnis der Erdgeschichte. Denn das Einsetzen der Plattentektonik war Voraussetzung dafür, dass sich in der Erdatmosphäre Sauerstoff zu bilden begann. Ohne ihn hätte sich niemals komplexes biologisches Leben entfalten können – von ersten Bakterien bis hin zum Menschen. »Die Erde«, sinniert Münker, »wäre nur ein weiterer fehlgeschlagener Planet in unserem Sonnensystem geworden.« Wie zum Beispiel der Mars, der es nie schaffte, Kontinente zu bilden.
An dieser Stelle kommt Dr. Florian Kurzweil ins Spiel, dessen Arbeitszimmer im vierten Stock des Institutsgebäudes liegt, zwei Etagen über den Büros von Münker und Tusch. Auch seine aktuellen Projekte werden aus dem DFG-Schwerpunktprogramm über die Evolution unseres Planeten finanziert. Und wie seine Kollegen interessiert sich Kurzweil ganz besonders für die Frage, wann und wie der Sauerstoff (O2) freigesetzt wurde, ohne den die Erde tot geblieben wäre und es weder uns noch Flora und Fauna gäbe. Die vorherrschende Theorie derzeit lautet: Irgendwann fingen erste Bakterien in den Ozeanen an, ihre Energie aus dem Licht der Sonne per Photosynthese zu beziehen. Als Abfallprodukt des Stoffwechsels setzten sie Sauerstoff frei. Das passierte zunächst in wenigen isolierten Becken – und in homöopathischen Dosen.
Doch das Aufkommen dieser ersten sauerstoffproduzierenden Bakterien änderte den Lauf der Erdgeschichte fundamental. Mehr und mehr Sauerstoffmoleküle belebten die bis dahin anoxischen – also sauerstofffreien – Weltmeere und reicherten sich nach und nach auch in der Atmosphäre an. Der anfangs zögerliche Prozess kulminierte vor etwa 2,4 Milliarden Jahren im »Great Oxidation Event«: Die Sauerstoff-Konzentration stieg unter wie über Wasser explosionsartig an – die Erde wurde bewohnbar. »Das war der absolute Wendepunkt für die Evolution des Lebens«, sagt Kurzweil.
Great Oxidation Event – Das GOE ist auf Deutsch als »Große Sauerstoffkatastrophe « bekannt, da der steigende Sauerstoffgehalt in den Ozeanen die anaeroben Organismen zurückdrängte, deren Stoffwechsel nur ohne Sauerstoff funktioniert. Der Sauerstoffgehalt von Wasser und Luft stieg in mehreren Schüben an der Grenze vom Archaikum zum Proterozoikum an. Dieser Prozess markiert den Übergang von der zweiten zur dritten Erdatmosphäre.
Doch was plausibel klingt, bedarf der wissenschaftlichen Bestätigung. Anders als Münker und Tusch fahndete der großgewachsene, schlanke 38-Jährige aber in der Gegenwart statt in der Vergangenheit nach der Erklärung für die zeitliche Entwicklung der Sauerstoffkonzentration in den urzeitlichen Ozeanen. Und wiederum sollte die Wolframisotopie der Schlüssel sein, diese präziser zu bestimmen.
Alte Gesteine – ein »genetischer Finderabdruck«
Als geeignete Quelle lokalisierte Kurzweil ein 460 Meter tiefes Meeresbecken in der Ostsee vor der Küste Gotlands. Die Wassersäule im Landsort Deep genannten Seegebiet trennt sauerstoffreiches Oberflächenwasser von sauerstoffarmem in der Tiefe. An der Grenze der beiden Schichten bilden sich Oxid-Minerale, an die sich bevorzugt isotopisch leichtes Wolfram heftet. Das schwere bleibt im Meerwasser zurück.
Diesen Zusammenhang nutzte Kurzweil für seine indirekte Beweisführung. Weil sich Oxid-Minerale nur unter Anwesenheit von O2 bilden, muss die Sauerstoffkonzentration der Ozeane letztlich mit der Wolframisotopie des Wassers korrelieren. »Je mehr Sauerstoff vorhanden ist, umso mehr schweres marines Wolfram muss vorhanden sein«, erläutert der Wissenschaftler vom Niederrhein. Ansteigende Sauerstoffkonzentrationen in den Ozeanen der frühen Erdgeschichte haben somit zur verstärkten Bildung der Oxid-Minerale und somit zu isotopisch schwererem marinen Wolfram geführt. Kurzweil vermutet, dass eine solche Entwicklung in marinen Sedimenten erhalten bleibt. Die Wolframisotopie der ältesten Sedimente der Erde könnte dann wie ein genetischer Fingerabdruck die Entwicklung der marinen Sauerstoffkonzentration im Laufe der Erdgeschichte abzeichnen.
Auch wenn das Rätsel noch nicht ganz gelöst ist: Der Startpunkt der Sauerstoffanreicherung auf der Erde kann nun klarer eingegrenzt und das Tempo präziser bestimmt werden. Das neue Puzzleteil erleichtert es Geolog:innen zudem, die Rolle anderer erdgeschichtlicher Entwicklungen für die O2- Bildung einzuordnen, zum Beispiel den Vulkanismus und die Plattentektonik. Kurzweil: »Wir erhellen das Dunkel mit immer mehr Scheinwerfern.«
Gigantische Mengen an Kohlendioxid hielten die Erde warm
Zu den bis heute nicht endgültig geklärten Mysterien gehört auch die Frage, warum auf der Erde vor drei bis vier Milliarden Jahren so hohe Temperaturen herrschten, dass es so gut wie keine Gletscher gab. Denn die Sonne wärmte die Erde damals allenfalls mit 70 bis 80 Prozent ihrer heutigen Strahlkraft. Was erklärt dieses in der Fachwelt als »Paradoxon der schwachen Sonne« titulierte Phänomen?
Treibhausgase müssen unseren Planeten davor bewahrt haben, zu einem Eisklumpen zu erstarren. In dieser Erklärung sind sich Geolog:innen weitgehend einig. Doch bewahrte Kohlendioxid (CO2), Methan oder ein anderes Gas ihn vor dem Auskühlen? Und in welcher Konzentration schwebten sie in der Schutzhülle? In diesen Punkten scheiden sich mangels bisher unbestreitbaren Nachweises die Geister.
Ein vierter Kölner Geologe, Dr. Daniel Herwartz, hat eine Erklärung gefunden, die den Disput auflösen könnte. Seine Untersuchungen, die er im Team mit Wissenschaftlern aus Göttingen und dem dänischen Aarhus vorantrieb, lassen ein neues Modell plausibel erscheinen: Ein extrem hoher CO2- Gehalt in der Atmosphäre – viel höher als bisher angenommen – verhinderte, dass die Erde zu viel Wärme an den Weltraum verlor.
Herwartz‘ Modell entschärft auch einen anderen Streit. Geowissenschaftler:innen versuchen die jeweiligen Wassertemperaturen in den Ozeanen im Verlauf der Erdgeschichte mit einer Art Geothermometer zu rekonstruieren. Die Fieberkurve lesen sie aus der Sauerstoff-Isotopen-Zusammensetzung an sehr alten Kalk- und Kieselgesteinen ab. Dabei taucht allerdings ein Problem auf: Das Wasser der frühen Ozeane müsste diesen Messungen zufolge 70 Grad Celsius und heißer gewesen sein. »Das halte ich für extrem unwahrscheinlich«, sagt Herwartz.
Enthielt die damalige Atmosphäre aber solche gigantischen Mengen CO2 wie der 42-jährige gebürtige Bonner vermutet, hätte sich auch das Sauerstoffverhältnis des Meerwassers verändert. Die hohe CO2-Konzentration war bislang jedoch noch nicht in die Berechnungen des Geothermometers eingeflossen, was das Ergebnis verfälschte. Einen solch heißen Ozean wie bisher vermutet hat es demnach wahrscheinlich nicht gegeben. »Meinen Berechnungen zufolge lag die Temperatur eher bei 40 Grad Celsius.«
»BUILDING A HABITABLE EARTH«
Das DFG-Schwerpunktprogramm wird von 2015 bis 2022 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Sprecher ist Professor Dr. Carsten Münker an der Universität zu Köln. Die Forschungen an insgesamt 12 beteiligten Universitäten und Forschungsinstitutionen helfen zu klären, wie die Erde zum einzig bekannten bewohnbaren Planeten im Universum wurde. Die drei wichtigsten Themen sind die Zusammensetzung und die Quellen der Baumaterialien der Erde, ihre frühe innere Differenzierung in Kruste, Mantel und Kern, und die Entwicklung des Ozean- Atmosphären-Systems. Zu den beteiligten geowissenschaftlichen Disziplinen gehören die Geologie, Geochemie, Planetologie, Kosmochemie, Geobiologie und die geophysikalische Modellierung. Die Mitglieder des Schwerpunktprogramms bearbeiten diese Themen mithilfe alter Gesteinsproben und extraterrestrischer Proben – Meteoriten oder Proben aus Weltraummissionen. Diese Untersuchungen werden durch Modellierung und Laborexperimente ergänzt.