Wie Big Tech unsere Freiheit bedroht
Eine Handvoll US-Unternehmen hat das Internet fest im Griff. Der Kölner Medienwissenschaftler Martin Andree hat erstmals diese digitale Machtakkumulation vermessen. Ab 2029 werden in Deutschland mehr als 75% der Werbeausgaben auf digitale Medien entfallen. So können US-Plattformen die politische Meinungsbildung kontrollieren und Inhalte gezielt verstecken oder hervorheben.
Von Oskar Köppen
Welche Websites haben Sie heute besucht? Welche Online-Dienste genutzt? Wo suchen Sie nach Informationen, schauen Sie Videos, kaufen Sie digital ein, schreiben Sie Ihren Liebsten? Alphabet besitzt Google und YouTube. Zu Meta gehören Facebook, Instagram und WhatsApp. iPhone-User müssen Apples ›umzäunten Garten‹ kaum je verlassen. Und wer online kaufen und verkaufen will, dem kommen zuerst Amazon und eBay in den Sinn – und dann sehr lange nichts.
Eine Handvoll US-Unternehmen besitzt das Internet. Auf die genannten Big-Tech-Konzerne entfällt die Hälfte des gesamten deutschen Internetdatenverkehrs. Die Top 100 Websites und Apps vereinen 72 Prozent des Traffics auf sich. Der ganze Rest – Onlineauftritte von Zeitungen und Rundfunkanstalten, hunderttausende Institutionswebsites, Blogs und Enzyklopädien – liegt im Vergleich praktisch brach. Wie eine große Wüste mit einer Oase, an der nur die Stärksten Wasser kriegen.
Die Vermessung der digitalen Welt
Dass diese Daten bekannt sind, ist Dr. Martin Andree zu verdanken. Der habilitierte Medienwissenschaftler forscht und lehrt als Privatdozent für digitale Medien an der Universität zu Köln, war parallel zu seinem Forscherleben 19 Jahre lang fürs digitale Marketing bei Henkel zuständig und leitet seit 2019 sein eigenes Datenanalyse-Start-up. In dieser Zeit begann er auch, seine früheren Modelle zur digitalen Konzentration empirisch zu belegen: Er analysierte das reale Nutzungsverhalten von 16.000 Über-14-Jährigen in Deutschland, die über alle Endgeräte hinweg mehr als 130.000 Online-Angebote aufriefen. Die repräsentative Auswertung vieler Milliarden Impressions hat er in seinem Buch »Atlas der digitalen Welt« veröffentlicht. Laut Andree war das die weltweit erste ganzheitliche Vermessung der digitalen Welt auf der Grundlage von Realnutzung für ein Land: Bisherige Studien zeigten in der Regel die Ergebnisse von Befragungen, seine Daten ergaben sich aus der tatsächlichen Traffic-Messung auf den Endgeräten einer repräsentativen Stichprobe von Nutzer*innen.
Dass im scheinbar offenen, statistikgetriebenen Internet bis dato niemand wusste, wer sich wo wie lange aufhält, verwundert nur auf den ersten Blick. »Die Digitalkonzerne haben keinerlei Interesse daran, dass es eine wissenschaftlich fundierte, gerichtsfeste Beweisführung gibt, die darlegen kann, dass Wettbewerbsmechanismen auf den meisten Feldern der digitalen Medien vollständig abgeschafft worden sind«, so Andree. Was ursprünglich als periodische Untersuchung geplant war, wurde nach der Intervention der Digitalkonzerne zu einer einmaligen Publikation.
»Ich gehe nicht davon aus, dass eine solche Studie in den nächsten fünf bis zehn Jahren nochmal entstehen wird«, schildert Andree sein Erlebnis, über das er aus rechtlichen Gründen keine weiteren Details verliert. Von Journalist*innen, die zu digitaler Machtakkumulation recherchieren, hörte er aber ähnliche Erfahrungsberichte.
Andree will das Thema in die Öffentlichkeit tragen und veröffentlichte vor wenigen Wochen die politische Interpretation dieser Messungen in seinem neuen Buch »Big Tech muss weg«.Ein ganzes Kapitel dokumentiert ausführlich, dass Digitalkonzerne Wissenschaftler*innen und Redaktionen manipulieren, einschüchtern und erpressen, also zumindest in der westlichen Welt bereits »aktiv gegen Medien- und Wissenschaftsfreiheit « vorgehen. Martin Andree will im aktuellen Buch für die Gefahr sensibilisieren, auf die wir uns zubewegen: »Nur wenn die Öffentlichkeit versteht, was hier passiert, können wir als demokratische Gesellschaft dagegen vorgehen.« Die Autoren-Honorare des neuen Buchs stiftet er der »Stiftung Studium und Lehre« der Universität zu Köln.
Digitaler Feudalismus
Wer die Vormachtstellung von Alphabet, Meta & Co. einmal zu Ende denkt, versteht, warum sie Andree so ein Anliegen ist. Seit einigen Jahren fließen mehr Werbeausgaben in digitale als in analoge Medien. Ab 2029 werden in Deutschland mehr als 75% der Werbeausgaben auf digitale Medien entfallen. Spätestens dann werden laut Andree klassische, redaktionelle Medien für Gegenwehr zu schwach sein: US-Plattformen würden bald kontrollieren, wen welche Informationen erreichen, die politische Meinungsbildung steuern und Inhalte gezielt verstecken oder hervorheben.
Das ist keine Science-Fiction-Dystopie: Schon heute tut Big Tech alles, um möglichst den gesamten Datenverkehr in seine Plattform-Silos umzulenken und dort zu behalten. Intransparente Algorithmen spielen personalisierte Weltbilder an Plattform-User aus, befeuern digitale Filterblasen und Echokammern. Im Ergebnis spalten sich Gesellschaften in Lager auf und »gefühlte Wahrheiten« tauchen gleichwertig neben seriösen Informationsquellen auf. Journalist*innen müssen auf Instagram, TikTok & Co. den Plattform-Regeln gehorchen, etwa Berichterstattung über sensible Themen wie Sexualität anpassen – und mitansehen, wie Big Tech immer weniger Interesse daran aufbringt, journalistische Inhalte zu präsentieren. Nicht zuletzt macht der reichste Mann der Welt, Elon Musk, eine dieser Plattformen zu seinem privaten Sprachrohr.
Eine weitere Verschärfung der Lage bedeute, so Andree, den Übergang von einer liberalen Mediendemokratie hin zum monopolistischen Digitalfeudalismus. Wie konnte es so weit kommen? Andree meint, wir hätten uns statt auf das Hauptproblem – Big Tech dringt immer weiter in unsere gesellschaftlichen Systeme vor – bisher zu sehr auf dessen Nebenwirkungen konzentriert: Desinformation, Hassrede, Datenschutz und Überwachungsgefahren.
Währenddessen ist den Digitalkonzernen unbemerkt ihr größter Coup gelungen: Sie, deren Produkte heute die Funktion von Zeitung und Fernsehen übernehmen, haben Gesetzgeber davon überzeugt, sie seien keine Medien, sondern lediglich Intermediäre – also Infrastruktur, wie etwa ein Telefonnetz, ohne Verantwortung für die Inhalte, die andere über sie verbreiten. Bloß machen die Plattformen, anders als die Telefonnetzbetreiber, diese Inhalte zu Geld.
Unumgängliche Gatekeeper
Nach außen pflegen die mächtigsten Big Tech-Unternehmer noch immer das Image des lässigen, T-Shirt tragenden Digitalmanagers, der mit visionären Vorstellungen aneckt. Nicht umsonst war Facebooks Firmenmotto bis 2014: »Move fast and break things«. Und im politischen Rampenlicht geben sich die Konzerne gern kooperativ, wie zuletzt etwa OpenAI-Gründer Sam Altman vor dem US-Kongress. Für Andree sind das Ablenkungsmanöver. Seiner Ansicht nach rennt die Gesetzgebung hinterher. Wenn die Industrie der digital überforderten Legislative »Reguliert uns!« zuruft, sei das, als fordere man einen Lahmen auf: »Fang mich doch!«
Hinter den Kulissen sitzt Big Tech längst auf jeder Konsumebene am Steuerpult: Die US-Konzerne leiten die Aufmerksamkeit ihrer Nutzer*innen (zum Beispiel via YouTube) in gerader Linie über Facebook, Instagram und Google hin zur finalen Kaufentscheidung (Amazon). Auf jedem Level dieses »Verkaufstrichters« bestimmt ein Monopolist als Gatekeeper, wer zu welchen Bedingungen den Zugang zum Markt erhält. Wer etwa im Internet für sein Produkt werben möchte, kommt an Google Ads nicht vorbei. Google nutzt das aus, indem es stillschweigend seine Auktionspreise anhebt, um die eigenen Quartalszahlen aufzuhübschen. Andree: »Monopole steuern den gesamten digitalen Weg hin zur Transaktion. Sie können die Konditionen beliebig bestimmen.«
Dass ein Konzern wie Alphabet in mittlerweile rund einem Dutzend Märkten Vormachtstellungen einnimmt, mit Suchmaschinen, On-Demand-Videos, Werbung, Office-Anwendungen und Kartendiensten, liege nicht in Innovationen begründet, sondern in Übernahmen und Aufkäufen. Hätten europäische und US-Kartellbehörden stärker in den Prozess eingegriffen – wie etwa die Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) ins deutsche Privatfernsehen –, gäbe es statt einer Handvoll dominierender Tech-Unternehmen heute vielleicht 50 oder 100. Und redaktionelle Medien befänden sich nicht im Dilemma, entweder mit eigenen Mediatheken und Websites in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden oder einen Pakt mit ihrem Henker einzugehen und Konten bei YouTube, Facebook & Co. zu eröffnen.
Mit strafbaren Inhalten Geld verdienen
Auf den ersten Blick scheint die Weltpolitik aufgewacht zu sein und sich zu wehren: In den USA laufen Antitrust-Verfahren gegen Google, weil der Konzern konkurrierende Suchmaschinen unterdrücken und den Online-Werbemarkt illegal dominieren soll. Die EU zwang unlängst Apple dazu, standardisierte Ladekabel zu unterstützen, und verhängte eine Strafe über 345 Millionen Euro gegen die chinesische Videoplattform TikTok. Und mit einem neuen Regelungspaket – dem »Digital Markets Act« (DMA) und dem »Digital Services Act« (DSA) – will Europa die Macht digitaler Plattformen weiter einhegen.
Doch auch die neuen Gesetze rühren laut Andree nicht am Intermediär-Status. »Die Ansätze sind nicht fundamental genug gedacht«, ist sich der Medienwissenschaftler darum sicher. »An den Vormachtstellungen werden sie gar nichts ändern.« Und auch bei neuen technischen Trends wie künstlicher Intelligenz, Web3 und Metaverse sei im Vorteil, wer bereits heute Geld und Macht besitzt.
Auf Augenhöhe mitspielen
Ist also alles verloren? Mitnichten! Im Gegensatz zu anderen Menschheitskrisen ist es laut Andree »einfach, den aktuellen Zustand zu verändern. Wenn wir wollten, könnten wir in kürzester Zeit das Internet so gestalten, wie es eigentlich sein sollte: vielfältig und demokratisch.« Die einfachste Lösung würde darin bestehen, dass Plattformen Outlinks zulassen müssten: Hyperlinks, die die User auf Apps und Websites anderer Anbieter führen, heraus aus dem Plattform-Silo. So könnten auch kleine, neue Marktteilnehmer auf Augenhöhe mitspielen.
Eine nächste, rasch umsetzbare Maßnahme: radikale Interoperabilität. Inhalte auf allen Ebenen – Posts, Fotos, Videos, ganze Follower-Gemeinden – sollten nicht mehr an bestimmte Plattformen geknüpft, sondern zwischen ihnen austauschbar sein. Wenn jemand ein Video auf Instagram postet, sollte das eine TikTok-Nutzerin schauen und dem Urheber folgen können. Ein Positivbeispiel, wie gesundend sich solche offenen Standards auswirken, ist der E-Mail-Markt: Heute wäre es undenkbar, dass ein GMXKunde keine E-Mail einer Web.de-Kundin empfangen könnte. Und die Anzahl konkurrierender E-Mail-Provider ist riesig. Offene Standards könnten die Monopolstellungen schnell aufbrechen und Wettbewerb erzeugen.
Schließlich sollte der Intermediär-Status fallen: Momentan dürfen Plattformen sogar mit strafbaren Inhalten (Schmährede, Verleumdung, Holocaustleugnung etc.) Geld verdienen, solange die Inhalte nicht per Notice-and-take-down-Verfahren abgemahnt sind. Digitale Plattformen müssten hier mehr Verantwortung übernehmen – so wie andere Medien auch.
Wie so eine vollständige Kuration bei Milliarden Nutzer*innen und generativer künstlicher Intelligenz umsetzbar sein soll? Laut Andree nicht unser Bier: »Wir machen ständig die Probleme der Plattformen zu unseren Problemen.« Die Konzerne seien schließlich selbst dafür verantwortlich, wenn ihr Geschäftsmodell nicht funktioniert.
So einfach sich solche Maßnahmen auf dem Papier lesen, so weit sind sie derzeit von der Umsetzung entfernt. Denn bisher fehle, so Andree, das gesellschaftliche Gefahrenbewusstsein und damit der Handlungsauftrag an die Politik. Darum fängt die Lösung bei den Einzelnen an: »Wir müssen die Debatte fördern, mit Freund*innen darüber sprechen – auch in den sozialen Medien.«