Wenn Wörter verloren gehen
Wissenschaftler*innen machen sich von Köln aus auf den Weg in entlegenste Gebiete der Erde, um dort bisher nicht beschriebene Sprachen zu erforschen. Wenn nicht mehr genügend Menschen die Sprachen sprechen, verschwindet der kulturelle und historische »Speicher« der Sprachgemeinschaft.
Von Mathias Martin
Der alte Mann ist im Dorf für seine Geschichten bekannt. Vor allem die Kinder kommen gerne zu ihm, um seinen Erzählungen zu lauschen. Diesmal sind besonders viele Dorfbewohner*innen erschienen, es wird immer voller in seinem Haus. Denn der Geschichtenerzähler ist nicht allein, ihm gegenüber sitzt Maria Bardají mit Videokamera und Mikrofon. Alle sind neugierig, was sie wohl vorhat in dem abgelegenen Dorf Gio im Norden der indonesischen Insel Sulawesi, wo sich sonst nie Fremde hin verirren. Dann beginnt der alte Mann zu erzählen, auf Totoli, der traditionellen Sprache im Bezirk Tolitoli. Dr. Maria Bardají drückt den Aufnahmeknopf.
Die Sprachwissenschaftlerin hat sich bereits in ihrer Doktorarbeit am Institut für Linguistik mit der Sprache Totoli, die zu den austronesischen Sprachen zählt, befasst. Mit etwa 1.200 überwiegend sehr kleinen Sprachgemeinschaften sind die austronesischen Sprachen in ihrer Gesamtheit eine der größten Sprachenfamilien der Welt. Sie erstrecken sich über ein Gebiet von Madagascar im Westen bis hin zu den Osterinseln im Osten.
Sprachen verschwinden
Als Feldforscherin macht Maria Bardají vor Ort bei verschiedenen Anlässen Ton- oder Videoaufnahmen, um die Sprache, die sie untersucht, im jeweiligen Kontext zu erfassen. Wenn eine Sprache wenig bekannt ist, versuchen Feldforscher*innen, zunächst Begriffe zu erfragen und eine Wortliste zu erstellen. Bardají kann aber bei ihrer Forschung an die Arbeit ihres ehemaligen Doktorvaters Professor Dr. Nikolaus P. Himmelmann, Direktor des Instituts für Linguistik, anknüpfen. Himmelmann hat schon 1988 als Postdoc den Regierungsbezirk Tolitoli besucht und die erste größere Datenerhebung zum Totoli durchgeführt. »Bei meinem ersten Besuch in Tolitoli gab es geschätzt noch 20.000 Bewohner*innen, die im Alltag Totoli gesprochen haben. Mittlerweile ist ihre Zahl auf weniger als 5.000 Personen gesunken. Heute wird Totoli fast nur noch von älteren Menschen gesprochen«, sagt Himmelmann. »Es wird immer schwieriger, Menschen zu finden, die mit guten Sprachkenntnissen unsere Forschungsarbeit unterstützen können.«
Maria Bardají hatte Glück. Bei einem ihrer Besuche in Tolitoli hat sie zufällig das kleine Dorf Gio entdeckt, in dem auch der Geschichtenerzähler lebt. Das Besondere: Es ist das einzige Dorf, in dem in den Familien im Alltag noch Totoli gesprochen wird. In den anderen Dörfern des Bezirks sprechen die Eltern mit ihren Kindern dagegen Indonesisch. »Wenn eine Sprache wie das Totoli nicht mehr weitergegeben wird, dann stirbt sie aus. Und mit dem Verlust der Sprache geht immer ein Stück Identität und Kultur verloren«, sagt Bardají.
Das kann auch Dr. Claudia Wegener bestätigen, die ebenfalls am Institut für Linguistik forscht: »Im Alltag ist es oftmals schwierig, Mehrsprachigkeit in der Familie zu leben. Es ist herausfordernd und braucht einiges an Selbstdisziplin.« Wegener forscht unter anderem zu Savosavo. Die Sprache zählt nicht zu den austronesischen Sprachen, sondern ist eine Papuasprache, die auf der kleinen Salomonen-Insel Savo verbreitet ist. Auf der Insel, die im Durchmesser nur sechs Kilometer groß ist, leben etwa 3.500 Einwohner*innen, von denen noch viele Savosavo sprechen. Savosavo gilt allerdings als für Nicht-Muttersprachler sehr schwer zu erlernende Sprache. Immer häufiger verwenden die Bewohner*innen daher im Alltag Solomon Islands Pijin, eine auf Englisch basierende Kreol-Sprache, die von den meisten Einwohnern der Salomonen gesprochen wird, oder benachbarte austronesische Sprachen, die als leichter erlernbar gelten.
Minderheitensprachen wie Totoli und Savosavo sind besonders häufig vom Aussterben bedroht. Derzeit gibt es auf der Welt insgesamt etwa 7.000 Sprachen, von denen laut der Gesellschaft für bedrohte Sprachen e.V. ein Drittel in den nächsten Jahrzehnten aussterben wird. Die Wissenschaftler*innen vom Institut für Linguistik wollen durch ihre Forschung dazu beitragen, dass kleine Sprachgemeinschaften ihre Sprachen erhalten können. Dabei ist der Erhalt bedrohter Sprachen kein Selbstzweck. Beim Verschwinden einer Sprache gehen nicht nur die Worte verloren, sondern der gesamte kulturelle und historische »Speicher« der Sprachgemeinschaft. Denn jede Sprache beinhaltet eine eigene Art zu denken und die Welt zu verstehen. Und nicht nur entlegene Orte wie Sulawesi oder die Salomonen-Inseln sind betroffen. Auch in Europa sind viele Sprachen bedroht, darunter Bretonisch, Sorbisch oder Irisch.
Vertrauen schaffen
Auf den Salomonen-Inseln gibt es siebzig austronesische, aber nur vier Papuasprachen, darunter Savosavo. Diese Vielfalt ist das Ergebnis von verschiedenen Bevölkerungswanderungen über einen Zeitraum von mehreren Jahrtausenden. Vor etwa 18.000 bis 25.000 Jahren waren als erstes die Papuasprecher in die Region gelangt, vor 4.000 bis 5.000 Jahren sind dann aus zwei Richtungen – vom Südosten und Nordwesten her – Austronesisch sprechende Seefahrer auf die Salomonen gekommen. Im Ergebnis sind nur noch vier Papuasprachen übriggeblieben, die zudem sehr unterschiedlich sind.
Darin liegt eine besondere Herausforderung für Claudia Wegener, denn Sprachforscher*innen gewinnen oft neue Erkenntnisse, indem sie verschiedene, häufig räumlich beieinander liegende Sprachen miteinander vergleichen. Die vier Papuasprachen haben aber, anders als austronesische Sprachen, so wenig Gemeinsamkeiten, dass man nicht von einer Sprache auf die andere schließen kann. »Ich habe keine nah verwandte Sprache, wo ich mir Material ansehen könnte, um gezieltere Hypothesen für die Sprache Savosavo abzuleiten. Ich muss ganz am Anfang beginnen: das Lautsystem erfassen, die Wortstruktur ermitteln und dann herausfinden, was die einzelnen bedeutungstragenden Einheiten sind«, erklärt die Linguistin.
Zunächst müssen Wegener und ihre Kolleg*innen überhaupt erstmal an ihren jeweiligen Zielort gelangen. Das kann bei den abgelegenen Orten eine Reise von mehreren Tagen sein. Anschließend versuchen sie, Kontakt zu Personen aus den kleinen Sprachgemeinschaften zu bekommen. »Wir sind in der Feldforschung in einem Prozess der Transformation weg von einem Modell ›weißer Forscher kommt, erhebt Daten und fährt nach Hause‹ hin zu einer partizipativen Gestaltung der Feldforschung«, erläutert Institutsleiter Himmelmann. »Man verhandelt mit den Sprachgemeinschaften darüber, was ihre Interessen sind, ob sie überhaupt wollen, dass jemand ihre Sprachen erforscht, und wie sie das Ergebnis für sich nutzen möchten.« Himmelmann hat sich schon früh dafür eingesetzt, dass Sprachforscher*innen möglichst eng mit lokalen Kontaktpersonen zusammenarbeiten. Die Kontaktleute stellen das Vertrauen zu den Sprecher*innen her, begleiten die Forschenden bei ihren Besuchen, unterstützen sie bei der Aufnahme und oftmals sogar bei der Dokumentation und Auswertung der Daten.
Ohne diese Unterstützung durch die lokalen Begleiter*innen wäre linguistische Feldforschung kaum machbar. Denn für die Menschen vor Ort ist es häufig schwer zu verstehen, was die Forschenden vorhaben, und dass Sprachforschung etwas anderes ist als Sprachenlernen. »Wir müssen bei unseren Besuchen in den Familien besonders auf Hierarchien und Höflichkeitsregeln achten. Mit wem rede ich zuerst? Ist es für die Person in Ordnung, dass ich sie jetzt besuche? Oder hat sie eigentlich gar keine Zeit und hat das Gespräch mit mir nur aus Höflichkeit gemacht?« Solche Fragen stellt sich auch Maria Bardají. Bei ihrer Feldforschung auf Sulawesi kann sie sie mit den Totoli-Sprechern Winarno und Datra, die vor Ort schon in verschiedenen Uni-Projekten mitgearbeitet haben, besprechen.
Linguistische Feldforschung braucht vor allem eins: viel Zeit. »Memere pika late«, wörtlich übersetzt: »Ein kleines bisschen Bauch (pika) halten (late)«, höre sie auf Savo häufig, berichtet Claudia Wegener. Gemeint ist, dass sie als Besucherin erstmal etwas trinken und eine Kleinigkeit essen, sich also Zeit nehmen solle. Es kann manchmal zwei, drei Stunden dauern, bevor Wegener mit ihren eigentlichen Aufnahmen der Savosavo-Sprache beginnen kann. Zuvor wird gegessen und viel auf Savosavo oder Solomon Islands Pijin erzählt. Claudia Wegener ist sich bewusst, dass sie bei ihren Besuchen in den Familien als westliche Forscherin in einer privilegierten Rolle ist. »Ich versuche, ihnen etwas zurückzugeben und bringe auch Lebensmittel mit, die bei den Leuten begehrt sind. Das ist oft kulturell angemessener als Geld zu zahlen, was leicht als Beleidigung empfunden werden kann.«
Sprachen schützen
Die kleinen Sprachgemeinschaften sollen von den Besuchen der Forscher*innen profitieren – das ist das erklärte Ziel der Kölner. »Wenn wir als Forschende aus Europa kleine Sprachgemeinschaften in anderen Teilen der Welt aufsuchen, dann kann dies eine Symbolwirkung entfalten und von den Einheimischen als besondere Wertschätzung ihrer Sprache empfunden werden«, sagt Bardají. »Durch unsere Anwesenheit vor Ort reden die Leute über ihre Sprache und denken darüber nach, warum wir Interesse daran haben.«
Von zentraler Bedeutung ist die Dokumentation der aufgenommenen Sprachen. Bereits vor Ort werden die Audio- und Videoaufnahmen von den Wissenschaftler*innen zusammen mit den Kontaktpersonen und anderen lokalen Mitarbeiter*innen verschriftlicht. In Deutschland angekommen, erfolgt die weitere, softwaregestützte Auswertung des Materials. Dabei werden, sofern vorhanden, digitale Sprachquellen wie Videos und Internetseiten mit hinzugezogen – alles in allem Stoff für viele Jahre künftiger Forschungsarbeit. Zuletzt stellen die Wissenschaftler*innen ihre Forschungsergebnisse und die gesammelten Daten in digitalen Spracharchiven zur Verfügung, zum Beispiel im Language Archive Cologne oder im Spracharchiv DOBES, das am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik im niederländischen Nijmegen angesiedelt ist. »Mit den Informationen in den Archiven lassen sich unter anderem Wörterbücher und Lehrmaterial erstellen «, erläutert Himmelmann. »Wenn die Sprecher*innen immer weniger werden, dann sind zumindest Vokabular und Sprachstruktur dort dokumentiert.« Die Spracharchive können auch von den Einheimischen genutzt werden. Für Nutzer*innen, die nicht viel Computererfahrung haben, ist die Hemmschwelle, mit den Spracharchiven zu arbeiten, allerdings hoch. An speziellen, niedrigschwelligeren Zugängen wird derzeit gearbeitet.
Seit Mitte August befindet sich Himmelmann wieder auf Feldforschung in Indonesien. Diesmal führte es ihn nach Westpapua, wo er zusammen mit Wissenschaftler*innen und Studierenden der dortigen Universitas Papua Sprachen erforschen und ein Ausbildungs- und Betreuungsangebot in Sprachdokumentation für Menschen vor Ort anbietet. Vor den Wissenschaftler*innen liegen insgesamt fast dreihundert Sprachen, die dokumentiert werden sollen – eine Arbeit von Jahrzehnten. Einige Sprachen werden es wohl nicht schaffen. Sie werden verschwunden sein, bevor sie aufgenommen, analysiert und dokumentiert werden können.
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Die Gesellschaft für bedrohte Sprachen e.V. ist als gemeinnütziger Verein an der Universität zu Köln angesiedelt
Das Language Archive Cologne befindet sich gerade im Aufbau
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Verleihung des Leo-Spitzer-Preises 2017 an Prof. Dr. Himmelmann