Alexander Gerlach ist Professor am Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie. Dort erforscht er nicht nur Angststörungen, sondern bietet Betroffenen auch Hilfe an. Wir haben ihn gefragt, was passiert, wenn Angst unser Leben bestimmt, warum Menschen rot im Gesicht werden und was ein Sensor aus der Drucktechnik mit seiner Arbeit zu tun hat.
Jeder Mensch hat Angst. Ab wann spricht man von Angststörung?
Eine Angststörung beginnt, wo Angst auftritt, obwohl sie unangemessen ist. Außerdem ist das Angstgefühl dann so stark, dass die betroffene Person in ihrem Handeln beeinträchtigt ist und darunter leidet. Lassen Sie mich das an einem Beispiel deutlich machen: Viele Menschen fürchten die Blutabnahme bei einer medizinischen Untersuchung. Die meisten Menschen lassen sich trotzdem darauf ein, wenn es nötig ist. Bei manchen Personen kann die Angst davor jedoch so schlimm sein, dass sie sich nicht mehr in die Arztpraxis trauen. So eine Beeinträchtigung bezeichnen wir als Angststörung.
Menschen mit sozialer Angststörung haben teilweise mit noch viel alltäglicheren Situationen Schwierigkeiten, etwa wenn sie beim Bäcker Brötchen kaufen. Was löst in so einem Fall die Angst aus?
Sozialängstliche Menschen wollen ein bestimmtes Bild von sich projizieren. Sie befürchten jedoch, dass dies ihnen nicht gelingt und glauben, dass ihr Scheitern schwerwiegende negative Konsequenzen hat. Das Beispiel mit dem Bäcker ist zwar eher selten, aber durchaus denkbar. Stellen Sie sich vor, Sie gehen zum Bäcker und möchten dort als ganz normale Person wirken. Nun befürchten Sie aber, so aufgeregt zu sein, dass es den Verkäufern auffällt und die daraufhin einen sehr merkwürdigen Eindruck von Ihnen bekommen. Schließlich haben Sie die Sorge, sich dort nie mehr blicken lassen zu können. Hier tritt ganz klar eine Bewertungsangst auf.
Was genau geht in solchen Momenten in den Köpfen der Betroffenen vor?
Das ist von Person zu Person sehr unterschiedlich. In diesem Fall würde sich so ein Film vermutlich schon abspielen, bevor man die Bäckerei betritt. Den Weg dorthin nutzt eine sozialängstliche Person etwa, um sich soweit vorzubereiten, dass sie die Situation möglichst unauffällig durchlaufen kann: „Was genau werde ich sagen? Kann ich mit einem Geldschein zahlen, oder fällt mein Zittern dann stärker auf? Soll ich das Kleingeld schon passend in der Hand halten?“ Nachher durchläuft die Person den Brötchenkauf dann noch einmal und überlegt sich, was sie alles falsch gemacht hat. Dieses anschließende Grübeln führt in Zukunft oft zu einer noch größeren Erwartungsangst.
Wie lässt sich ein Gefühl wie Angst messen?
Wir untersuchen Angst auf verschiedenen Ebenen, die leider nicht immer direkt miteinander zusammenhängen. Zunächst einmal schauen wir uns an, wie sich Menschen mit Angststörungen verhalten und was sie über ihre Ängste berichten. Auf der anderen Seite untersuchen wir aber auch, wie ihre Körper auf Angst reagieren. Dazu messen wir unter anderem Herzaktivität, Schweiß, Atmung und Durchblutung. Das sind alles Parameter, die wir erfassen können, wenn sich der Körper in Angstsituationen umstellt.
Aktuell untersuchen Sie in einer Studie die Angst vorm Erröten. Warum werden wir in peinlichen Situationen überhaupt rot?
Darauf gibt es leider noch keine abschließende Antwort. Wir wissen allerdings, dass es die einzige bekannte Reaktion des Körpers ist, die ausschließlich in sozialen Situationen auftritt. Wenn ich alleine bin, kann ich nicht rot werden. Eine Theorie geht davon aus, dass sich das Rotwerden im Laufe der Evolution als Beschwichtigungssignal bei sozialen Regelverletzungen entwickelt hat. Das wäre etwa der Fall, wenn wir jemandem ein Glas Wein über die Hose schütten. Indem ich rot werde, erfährt mein Gegen- über, dass es mir peinlich ist und ich mir der Regelverletzung bewusst bin. Das führt dazu, dass ich anschließend positiver bewertet werde, als wenn ich keine Schamreaktion zeigen würde.
Also eine Entschuldigung, die unser Körper für uns übernimmt?
Genau. Allerdings wissen wir nicht ob die Haut der Menschen überhaupt hell war, als sich die Körperreaktion der Errötung entwickelt hat. Eine helle Haut ist jedoch Voraussetzung dafür, dass man das Rotwerden sehen kann. Zwar tritt die gleiche Reaktion auch bei dunkelhäutigen Menschen auf, nur sieht man es ihnen nicht an. Sollte sich das Rotwerden wirklich als Beschwichtigungssignal entwickelt haben, ist die Sichtbarkeit allerdings besonders wichtig. Das ist unser Grundproblem mit dieser These. Abgesehen davon gibt es auch positive Situationen, in denen Personen rot werden. Eine zweite Theorie geht deshalb davon aus, dass es zu einer Errötungssituation kommt, wenn eine Person ungewollt im Mittelpunkt steht – etwa wenn man mir ein Geburtstagslied singt.
Richtet sich das Rotwerden vielleicht doch eher an uns und nicht an unsere Mitmenschen?
Es wäre in der Tat denkbar, dass der entscheidende Vorteil des Rotwerdens gar nicht die Sichtbarkeit ist, sondern die damit einhergehenden Gefühle vielmehr ein Signal an uns selber sind. So können wir lernen, soziale Regelverletzungen besser einzuschätzen. Übrigens gibt es bei keinem anderen Lebewesen eine vergleichbare Reaktion. Schon Mark Twain sagte treffend: „Man is the Only Animal that Blushes. Or needs to.“
Sie untersuchen Menschen mit Errötungsangst. Werden diese Personen denn wirklich häufiger rot?
Errötungsangst ist Teil der sozialen Angst. Menschen die rot werden, können auch genau davor Angst haben. Sie befürchten, dass andere Menschen sehen können, wie nervös und ängstlich sie sind. Man hat mittlerweile nachweisen können, dass Personen mit sozialer Angststörung eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, in unangenehmen Situationen rot zu werden. Wir wollen jetzt in unserer Studie messen, ob Personen mit Errötungsangst auch besonders sichtbar rot werden. Dazu haben wir einen Sensor entwickelt, der nicht die Durchblutung misst, sondern tatsächlich die sichtbare Veränderung im Rotbereich. Das ist eigentlich ein Messgerät aus der Drucktechnik. Dort stellt es sicher, dass Rotfärbungen auch immer den gleichen Farbton haben.
Lässt sich das Rotwerden denn irgendwie verhindern?
Nein. Erröten ist eine unwillkürliche Reaktion, die sehr schnell abläuft. Die Blutgefäße weiten sich innerhalb von fünf bis zehn Sekunden aus. In diesem Moment ist die Haut stärker durchblutet und es ergibt sich eine Rotfärbung. Das hält dann ungefähr zwei bis drei Minuten an. In dieser Situation können die Betroffenen nichts dagegen machen. Wir arbeiten in der Behandlung auch gar nicht an der eigentlichen Reaktion.
Wie helfen Sie den Betroffenen dann?
Es geht darum, dass unsere Patienten insgesamt gelassener in für sie schwierige Situationen reingehen. Ein großes Problem von Menschen mit Errötungsangst ist, dass sie ständig noch eine zusätzliche Aufgabe erledigen, weil sie darauf achten, ob sie rot werden. In der Therapie lernen sie, ihre Angst auszublenden und sich auf die eigentlichen Aufgaben zu konzentrieren – bei einer Party wären das etwa die Gespräche mit den anderen Gästen. In Rollenspielen können unsere Patienten das gezielt üben.
Sie feiern mit Ihren Patienten Partys, damit die sich dann auf richtigen Partys wohler fühlen?
In der Therapie probieren die Patienten verschiedene Verhaltensweisen aus und bekommen so eine ganz neue Erfahrungsbasis für zukünftige Situationen. Dafür stellen wir unter Umständen auch wirklich mal eine Partysituation her. Viele Betroffene haben ein ganz falsches Bild von dem, was passiert, wenn sie sich auffällig verhalten. Stellen sie sich einmal folgende Situation vor: Sie stehen mit geöffneten Armen an einer Rolltreppe auf der die Menschen nach unten direkt auf sie zu fahren. Sie würden erwarten, dass man Sie für verrückt hält. Die meisten Leute werden Sie jedoch ignorieren und an Ihnen vorbeigehen, da Sie mit ganz anderen Dingen beschäftigt sind. Solche Erfahrungen sollen unsere Patienten in der Therapie machen.