Es antwortet Professorin Dr. Anja Schiemann, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminalpolitik der Universität zu Köln.
Wer kennt sie nicht oder hat nicht zumindest schon mal von ihnen gehört? Von den Einkaufsschlachten im Schlussverkauf, von Schnäppchenjägern, die nicht davor Halt machen, die begehrte, schnell ausverkaufte Ware aus dem Einkaufswagen eines anderen zu nehmen. Doch ist das schon Diebstahl?
Da der schuldrechtliche und dingliche Vertragsabschluss erst an der Kasse des Ladens entsteht, hat der Kunde zunächst kein Eigentum, sondern lediglich Besitz an den Waren im Einkaufswagen erlangt. Der Unterschied, juristisch formuliert: Derjenige, der den Einkaufswagen mit den Waren durch den Supermarkt schiebt, übt Sachherrschaft in Form des unmittelbaren Fremdbesitzes aus, während der Ladeninhaber mittelbarer Besitzer ist. Diese Stellung verliert der Ladeninhaber auch nicht dadurch, dass ein anderer die Ware an sich nimmt. Nun ist eben der dreiste Dritte unmittelbarer Fremdbesitzer, während der Ladeninhaber weiterhin mittelbarer Besitzer und Eigentümer ist.
Allerdings begeht der eingreifende Schnäppchenjäger eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung gegenüber dem Mitkunden, weil und soweit er dessen tatsächliche, hinreichend konkretisierte Erwerbsaussichten zerstört. Insoweit hat der Kunde einen Anspruch auf Ersatz des erlittenen Vermögensschadens. Auch ein bereicherungsrechtlicher Anspruch auf Wertersatz kommt in Betracht. Das wird dem Kunden aber nur dann helfen, wenn er seinen Schädiger kennt. Wird heimlich die Ware entnommen, so muss der enttäuschte Kunde mit dem Verlust seines Schnäppchens leben.
Strafbar macht sich der freche Schnäppchenjäger übrigens nicht. Ein Diebstahl kommt nicht in Betracht, da zwar eine fremde bewegliche Sache dem Einkaufswagen entnommen wurde, diese sich aber nicht als »Wegnahme« im Sinne des Deliktstatbestands qualifizieren lässt. Denn dann müsste ein »Gewahrsamsbruch« herbeigeführt worden sein. Dies ist aber gerade nicht der Fall, weil der Einkäufer noch gar keinen eigenen Gewahrsam begründet hat. Vielmehr hat in den Verkaufsräumen weiterhin der Ladeninhaber den Gewahrsam über die Waren – auch über die, die im Einkaufswagen liegen. Dieser Gewahrsam des Ladeninhabers bleibt auch bestehen, wenn jetzt ein anderer Kunde die Gegenstände an sich nimmt, um sie dann ordnungsgemäß an der Kasse zu bezahlen.
Muss sich der leer ausgehende Kunde also die Dreistigkeit gefallen lassen? Nein! Denn derjenige, der die Waren dem Einkaufswagen entnimmt, begeht eine sogenannte verbotene Eigenmacht gem. § 858 Abs. 2 BGB, wenn er gegen den Willen des anderen seine Besitzposition beeinträchtigt oder aufhebt. Und dies wirkt sich dann letztlich doch strafrechtlich aus, da demjenigen, dem die Ware entwendet wurde, ein Selbsthilferecht nach § 859 BGB zusteht. Eskaliert also im Kampf um das letzte Schnäppchen die Situation, so ist es dem Erstbesitzer erlaubt, den Gegenstand – gegebenenfalls auch mit Zwang – zurückzuholen. Er handelt nicht rechtswidrig. Der freche Schnäppchenjäger muss sich die Rückholaktion auch gefallen lassen, da derjenige, der den Gegenstand wiederhaben möchte, keinen rechtswidrigen Angriff begeht und somit dem Schnäppchenjäger gerade kein Notwehrrecht gem. § 32 StGB zusteht.
Der Tumult um das letzte Schnäppchen öffnet daher zwar keinen rechtsfreien Raum, allerdings muss man sich möglicherweise an seinen Vorhandlungen messen lassen. Eventuell ist es dann doch derjenige, der die Ware als erstes im Einkaufswagen liegen hatte, der sie zu guter Letzt mit nach Hause nehmen kann und darf.