Im Büro von Professor Dr. Peter W. Marx hängt ein etwa einen Meter langes, hölzernes Schiffsmodell an der Wand. Die Arche beherbergt Zentauren und andere fantastische Wesen – Geschichten, die mithilfe des Schiffs über Wasser gehalten werden. Auch Professor Marx steuert ein solches Schiff: Mehr als sieben Jahre lang leitet er schon die Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, eine der größten Sammlungen von Theatralia weltweit. Seit 1955 befindet sich die Sammlung auf Schloss Wahn in Köln-Porz.
Seit der Gründung des Archivs im Jahr 1919 hat sich viel getan. Marx zufolge gibt es nichts, was in der Sammlung seither unverändert geblieben ist. »Trotzdem sind wir unserem Auftrag und unserer Idee treu geblieben, eine Lehrsammlung und Forschungseinrichtung für alles zu sein, was mit Theater zu tun hat«, sagt er. Im Laufe der Jahre haben sich etwa 300.000 Theaterfotografien, 400 Bühnenbildmodelle, eine Vielzahl an Spielfiguren sowie viele weitere Objekte angesammelt, die auf Anfrage ausgelegt und erforscht werden können.
Auf Schloss Wahn gibt es einzelne Abteilungen für Gegenstände aus den verschiedensten Zeitepochen, die hier nur wenige Meter entfernt voneinander aufbewahrt werden. Beispielsweise befindet sich ein Schrank voller beweglicher Figuren des alten ägyptischen Schattenspiels gleich neben der Tür zum Dachboden, auf dem auch Rezensionen zu aktuellen Inszenierungen lagern. Gesammelt wird also tatsächlich alles, was sich zur Rekonstruktion von Theateraufführungen eignet; alles, was den Eindruck einer Inszenierung vermitteln könnte, von der sonst nichts mehr da ist. Denn das Theater ist durch seinen Live-Charakter stets an den flüchtigen Augenblick der Gegenwart gebunden, meint Marx: »Das Zentrum dessen, was uns interessiert, ist immer schon weg, wenn wir anfangen.«
Hundert Jahre lang auf See
Es ist ein ewiger Kampf gegen das Vergessen, dem sich die Sammlung verschrieben hat. Dabei steht das bloße Sammeln eigentlich nur an zweiter Stelle. Viel wichtiger sei es, die bereits gesammelten Gegenstände auch für die Gegenwart nutzbar zu machen. Zum Beispiel können Forscherinnen und Forscher die hier erzählten Geschichten in andere Kontexte bringen und so neu verstehen lernen: »Wir versuchen einen lebendigen Dialog zu führen«, erklärt Marx. »Das ist eigentlich der Charme, der Zauber und auch das Versprechen des Hauses: dass wir nicht nur Sachen lagern, sondern dass wir tatsächlich ein Ort sind, um miteinander nachzudenken und zu sprechen.«
Solche Gespräche werden insbesondere im Rahmen des hundertjährigen Jubiläums geführt. Zu Veranstaltungen sind unter anderem Theatermacherinnen, Bühnenbildner, Intendanten und ehemalige Leiter der Sammlung eingeladen. Sie werden in der ersten Dezemberwoche öffentlich über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Sammlung und des Theaters diskutieren. Darüber hinaus veranstaltet die Sammlung auch Theatervorführungen des türkischen Schattenspiels Karagöz und eine Papiertheateraufführung. »Ich hoffe, dass so diese abstrakte Zahl ›100 Jahre‹ irgendwie greifbar, erlebbar und auch erzählbar wird«, sagt Marx.
Besonders wertvoll für zukünftige theaterwissenschaftliche Forschungen ist die gemeinsame digitale Plattform und Datenbank, die die Theaterwissenschaftliche Sammlung derzeit mit der Freien Universität Berlin aufbaut. Beide Institutionen digitalisieren ihre Bestände für den Abschnitt zwischen 1920 und 1950 in der deutschen Theatergeschichte. »Wir versuchen dadurch, die lokale Begrenztheit von Theaterarchiven im deutschsprachigen Raum zu überwinden«, erläutert Marx. »Erst mal für eine bestimmte Thematik, aber eigentlich ist das der Ausgangspunkt und das Fundament für sehr viel größere Ambitionen.«
Die Reise geht weiter So ein hundertjähriges Schiff ist nicht immer leicht zu lenken: »Mit einem Schiff dieser Größe können Sie nicht ständig Slaloms fahren«, stellt Marx fest. »Man muss eine Mischung finden zwischen Innovation und Kurshalten.« Nur so werde man der Verantwortung gegenüber der Geschichte und den Menschen, die dem Archiv ihre persönlichen Geschichten anvertraut haben, gerecht. Dabei betont er auch die Rolle seiner kleinen, aber effektiven Mannschaft: »Ein großer Teil unseres Teams sind studentische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und da sind wir sehr stolz drauf. Denn das Heranführen des Nachwuchses an die Wissenschaft und an den Umgang mit diesen Objekten ist ein wichtiger Teil unseres Auftrags.«
Obwohl er als Leiter dieser hundertjährigen Institution viel mit der Vergangenheit konfrontiert wird, beschäftigt sich Professor Marx hauptsächlich mit der Zukunft. Nur wie gestaltet man die Zukunft für ein Archiv, dessen Aufgabe es ist, in die Vergangenheit zu blicken? Dazu hat Marx eine klare Haltung: »Wenn ein Archiv aufhört sich die Frage zu stellen ›Was heißt eigentlich Zukunft für uns?‹, dann wird es ein Mausoleum. Und das wollen wir unter keinen Umständen werden.«