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Visitenkarten aus der Vergangenheit

Die byzantinische Geschichte, erforscht anhand besonderer Objekte

Hagia Sophia, Kirchenspaltung, die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen – es sind meist einzelne Bruchstücke, die wir mit Byzanz in Verbindung bringen. Doch die Geschichte des über tausendjährigen Reiches ist viel komplexer. Das offenbart Kölner Forschung anhand besonderer Objekte.

Von Eva Schissler

Istanbul um 1870: Bei Bauarbeiten in der Nähe des großen Basars graben sich die Arbeiter durch das Erdreich. Zwischendrin finden sich immer wieder kleine Bleischeiben, mal mit Bildern, mal mit griechischen Inschriften. Als wertlos betrachtet, wird dieser »Bauschutt« kurzerhand ins Marmarameer geschüttet. Was die Bauarbeiter nicht wissen: Sie waren auf einen großen Hort byzantinischer Siegel gestoßen, kleinen Bleischeiben mit Namen und Stellung ihres früheren Besitzers. Allein dieser Fund bildet den Ursprung einiger bis heute erhaltener Sammlungen, denn die Siegel blieben nicht auf dem Meeresgrund liegen. Günstige Winde trugen sie wieder an den Strand, wo auf solche Funde spezialisierte Kinder sie aufsammelten und auf dem Antikenmarkt verkauften.

Das Byzantinische Reich war im Mittelalter das mächtigste und größte Reich auf dem europäischen Kontinent. Es bestand vom 4. bis zum 15. Jahrhundert, und in seiner Blütezeit vom 9. bis 12. Jahrhundert umspannte es zeitweilig ein riesiges Gebiet von Südosteuropa bis in den vorderen Orient, mit Handelsbeziehung von Westeuropa bis nach China.

Byzantinisches Reich – Der Begriff wurde erst im Nachhinein eingeführt und leitet sich von der antiken griechischen Stadt Byzantion her, an deren Ort später Konstantinopel entstand. Als im 4. Jahrhundert das Römische Reich geographisch zu groß geworden war, wurde es in zwei administrative Bezirke aufgeteilt: Westrom und Ostrom. In der östlichen Reichshälfte wurde überwiegend griechisch gesprochen, doch die Byzantiner verstanden sich als Römer und ihren Staat als Römisches Reich.

Es prägt bis heute die Entwicklungen der mehrheitlich christlich-orthodoxen Länder im östlichen Europa, darunter auch Russland und die Ukraine: Mit der Kiewer Rus, dem Vorläufer der heutigen Staaten Russland, Belarus und Ukraine, untererhielt Byzanz enge Beziehungen. Und nach dem Untergang von Byzanz begann sich Moskau, gerade aus der Tatarenherrschaft befreit, als »drittes Rom« zu verstehen – als Nachfolgerin und Bewahrerin des christlich-orthodoxen Glaubens in der Welt: ein Verständnis, das zu einem Grundpfeiler des russischen Reichsgedankens wurde.
 

Siegel: die wertvollste Quelle der byzantinischen Vergangenheit

Westeuropäische Länder und Kulturen berufen sich kulturell und zivilisatorisch auf die griechische Antike, das Römische Reich und das Reich Karls des Großen. Es war aber das Byzantinische Reich, das die Kultur der klassischen Antike in die Neuzeit vermittelte. »Lange wurde Byzanz nicht als eigenständige mittelalterliche Kultur angesehen, die es sich lohnt, genauer zu untersuchen«, sagt Professorin Dr. Claudia Sode, die am Institut für Altertumskunde den Lehrstuhl für Byzantinistik innehat. Die Byzantinistik fristete ein Dasein als unscheinbare kleine Schwester der Gräzistik oder der Mediävistik.

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»Herr, hilf dem Mönch Alexios, Erzbischof von Zypern und synkellos« steht auf dem Siegel aus dem 11. Jahrhundert. Kirchenchroniken aus der Zeit belegen, dass es einen Erzbischof dieses Namens gegeben hat

Das ändert sich nun. Sode und ihr Team, die Doktorandinnen Martina Filosa und Maria Teresa Catalano, haben Fördermittel in Höhe von knapp einer Million Euro in der Förderlinie »Weltwissen – strukturelle Stärkung kleiner Fächer« der VolkswagenStiftung eingeworben, mit einer Laufzeit von Oktober 2022 bis September 2028.

Unter den verschiedenen Objekten, mit denen sich die Kölner Byzantinistinnen beschäftigen – darunter Münzen, Dokumente und Inschriften – sind es speziell die Siegel, von denen sie sich neue Erkenntnisse erhoffen. »Siegel haben das Potential, alte Gewissheiten über den Haufen zu werfen«, sagt Martina Filosa. Im Gegensatz zur Massenware Münzen sind sie persönlich und sagen viel über ihren früheren Besitzer aus. Welche Funktion, welchen Titel hatte die Person inne, wie definierte er oder sie sich, wie entwickelten sich Namen? Literarische Quellen, die oft erst später verfasst wurden, sind nicht annähernd so genau und objektiv.

»Siegel sind wie Visitenkarten«, sagt Sode. »Wir erfahren viel über den Karriereverlauf einer Person. Wurde jemand beispielsweise vom Notarios zum Protonotarios befördert, also vom einfachen Anwalt zum Leiter einer Kanzlei, ließ er sich ein neues Siegel anfertigen. « Darüber hinaus beinhalten die Siegel Informationen über Familiengeschichten, über Einwanderung ins Byzantinische Reich oder über Geschlechterbeziehungen: Findet sich der arabische Name Hasan gräzisiert als Hasanis auf einem Siegel, so kann man davon ausgehen, dass es sich um einen Einwanderer aus dem Kalifat handelt. Siegel von Kaiserinnen oder Äbtissinnen belegen, dass auch Frauen Rang und Bildung genossen.
 

Sammlungen digital erschließen – mit Kölner Technik

Die Siegel bestehen in der Regel aus einer Seite mit dem Bild eines Heiligen oder einem Marienbildnis und einem kurzen Spruch auf der anderen Seite. »Herr, hilf dem Mönch Alexios, Erzbischof von Zypern und synkellos« besagt etwa ein Siegel aus dem 11. Jahrhundert, das sich in der Kölner Privatsammlung von Robert Feind befindet. Er hat der Abteilung für Byzantinistik seine Sammlung zur wissenschaftlichen Erschließung zur Verfügung gestellt.

Im Falle des Erzbischofs belegen auch Kirchenchroniken seine Existenz. Doch oft geben nur die hinterlassenen Siegel Auskunft über einen Menschen. Dabei liefert ein einziges Siegel jedoch nicht genügend Informationen. Dann ist es ein Glücksfall, in anderen Sammlungen auf Siegel zu stoßen, die der gleichen Person zugeordnet werden können.

Sammlungen – Eine der wichtigsten Sammlungen byzantinischer Siegel ist mit 17.000 Stücken Dumbarton Oaks in Washington, D.C. Die Eremitage in Sankt Petersburg besitzt 12.000. Die Kölner Privatsammlung von Robert Feind umfasst 1.700 Siegel.

Hier schlummert für Byzantinist:innen weltweit noch großes Potential: Nicht einmal die Hälfte der insgesamt 80.000 bis 100.000 erhaltenen byzantinischen Siegel sind erschlossen und veröffentlicht. Einerseits nimmt die Arbeit aufgrund des gesteigerten Interesses an Byzanz gerade erst an Fahrt auf. Andererseits möchten manche Sammler:innen ihre Schätze möglichst für sich behalten. Doch nur mit veröffentlichten Siegeln können die wichtigen Querverbindungen zwischen den Siegeln einerseits und zwischen Siegeln und anderen Quellen andererseits hergestellt werden, die die Identifizierung byzantinischer Persönlichkeiten oder ganzer Einrichtungen möglich machen.

Der »Kölner Dome«, eine Konstruktion des Cologne Center for eHumanities. Der Apparat erlaubt es, Siegel und andere Objekte aus verschiedenen Winkeln anzuleuchten und zu fotografieren. So werden besonders schwer lesbare Inschriften wieder sichtbar.

Eine weitere Schwierigkeit: Viele der Bleisiegel sind aufgrund schlechter Konservierungstechniken in der Vergangenheit kaum mehr zu lesen. Sode, Catalano und Filosa entziffern schwer lesbare Exemplare derzeit mithilfe eines Geräts, das das Cologne Center for eHumanities (CCeH) entwickelt hat. Es setzt auf RTI-Technik: In einer kuppelförmigen Apparatur ist oben eine Kamera montiert, darunter liegt das Siegel, das nun mit Blitz aus verschiedenen Richtungen fotografiert wird.

Danach werden die Bilder in einem speziellen Computerprogramm verarbeitet und so präsentiert, dass Betrachter:innen die Lichtquelle auf dem Bildschirm bewegen können, wodurch feinste Oberflächenstrukturen sichtbar werden. Die Ergebnisse werden im Rahmen eines weiteren Förderprojektes mithilfe des Kodierungsstandards SigiDoc digital erschlossen. »Wir hoffen, damit eine Vorreiterrolle einzunehmen und andere Forschungsinstitutionen anzuregen, ihre Sammlungen ebenfalls zu öffnen«, sagt Maria Catalano.

RTI-Technik – Reflectance Transformation Imaging ist eine hochentwickelte, aber preiswerte Bildgebungstechnologie. Sie macht auf beschädigten, korrodierten und plattgedrückten Siegeln mittels der Beleuchtung des Objekts aus verschiedenen Blickwinkeln Details von Inschriften sichtbar, die mit dem bloßen Auge oder mit einzelnen hochauflösenden Bildern nicht zu erkennen wären.

SigiDoc – Der Kodierungsstandard wurde ursprünglich von Dr. Alessio Sopracasa am King’s College London entwickelt. Er wird seit 2017 in einer Kooperation zwischen der Sorbonne Université und der Kölner Abteilung Byzantinistik und Neugriechische Philologie weitergeführt. Seit 2021 wirkt auch das Cologne Center for eHumanities (CCeH) im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der französischen Agence nationale de la recherche (ANR) mit rund 800.000 Euro geförderten Projekts »DigiByzSeal – Unlocking the Hidden Value of Seals: New Methodologies for Historical Research in Byzantine Studies« mit. SigiDoc ist open-access und open-source. Test-Corpus mit circa 50 Siegeln, Richtlinien und Dokumentation

Die digitale Erschließung der bisher unleserlichen Siegel ist kein Selbstzweck. Sobald sie entschlüsselt sind, kann die historische Forschung folgen, um die es eigentlich geht. Unter anderem interessiert Sode, Filosa und Catalano, wie wohltätige kirchliche Einrichtungen in Byzanz wirkten, welche Stellvertreterfunktionen es in der staatlichen Hierarchie gab und welche persönlichen, religiösen und sozialen Identitäten sich an den Siegeln ablesen lassen. Etwa bei der Wahl des Heiligen, dessen Namen oder Bildnis für ein Siegel auswählt wird. »Wir haben ein Siegel mit Marienbild, das einem Mohammed gehört hat. Wir wissen nicht genau, was das bedeutet. War dieser Mensch zum Christentum konvertiert oder hatte die Wahl dieses Bildes eine andere Bedeutung?«, sagt Sode.

Objekte mit eigener Schönheit

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»Christus Allmächtiger, halte meine Hand und hilf Nikephoros Kampanarios« besagt ein weiteres Siegel aus der Sammlung von Robert Feind, das einem im Jahr 1042 von Kaiser Konstantin IX. zum Stadtpräfekt ernannten Richter gehörte.

Studierende haben in Köln die Möglichkeit, praktische Fähigkeiten an konkreten Objekten zu erlernen – keine Selbstverständlichkeit. »Aktuell wird byzantinische Siegelkunde in Deutschland nur in Köln unterrichtet. Und wir arbeiten mit Originalstücken, die die Studierenden in die Hand nehmen können, nicht nur mit veröffentlichten Katalogen «, sagt Filosa. Diese Anziehungskraft strahlt in ganz Europa aus – bis nach Griechenland und Bulgarien, wo die Kölner Byzantinistik mit Thessaloniki und Sofia wichtige Partneruniversitäten hat. »Wer im Masterstudium nach Köln kommt, der hat sich das gezielt ausgesucht, auch aufgrund der digitalen Grundwissenschaften, die wir hier vermitteln «, fügt die Forscherin hinzu. Danach sind die Studierenden aber keineswegs nur für eine universitäre Laufbahn qualifiziert. Die grundlegenden Fähigkeiten, wie man Quellen erschließt, kodiert und katalogisiert, sind in Museen und Archiven weltweit gefragt.

Langfristig hoffen Sode, Filosa und Catalano, mit ihrer Technik alle Siegel in der Kölner Sammlung erschließen zu können, nicht nur die unleserlichen. Sie sehen in den Objekten neben ihrem historischen Wert auch eine ganz eigene Schönheit. Mithilfe von Fotografien und 3D-Grafiken ließen sich etwa Ausstellungen gestalten oder Materialien für den Schulunterricht erarbeiten. »Der Louvre in Paris hat kürzlich eine große Abteilung zu Byzanz eröffnet. Das zeigt, dass das Interesse über die Wissenschaft hinausgeht«, sagt Sode.

Die zunehmende Forschung zur byzantinischen Geschichte ist den Wissenschaftlerinnen zufolge überfällig. Maria Catalano resümiert: »Als Europäer müssen wir uns von dem westeuropäischen Zentrismus verabschieden. Europa ist viel komplexer und breiter, die Grenzen dehnen sich gerade nach Osten aus. Und ohne Byzanz ist dieser Teil des Kontinents nicht zu verstehen.«