Junge Menschen aus nicht-akademischen Familien entscheiden sich oft nicht für ein Studium – obwohl sie gute schulische Leistungen erbringen. Das Talentscouting-Programm des Landes Nordrhein-Westfalen und andere Unterstützungsprogramme begleiten begabte Schülerinnen und Schüler der Oberstufe bei ihrem Bildungsweg – und der Entscheidung für ein Studium oder eine Ausbildung.
Suat Yilmaz ist studierter Sozialwissenschaftler mit türkischen Wurzeln. Er arbeitete bis Juni 2018 an der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen, doch er war oft unterwegs an den weiterführenden Schulen seiner Heimatstadt. Dort traf er sich mit talentierten Schülerinnen und Schülern, für die der Gedanke an ein Studium dennoch mit Zweifeln behaftet war. Zu viele Hürden schienen ihnen den Weg zu versperren. Hier half Yilmaz – der erste Talentscout Deutschlands – weiter.
Bildungschancen werden vererbt
Die jungen Menschen der Region, glaubt Yilmaz, sind ihre wertvollste Ressource. Ihr Talent sollte nicht länger brachliegen, das könne sich Deutschland weder bildungs- noch wirtschaftspolitisch leisten. "Wir wissen, dass Talent herkunftsunabhängig ist, die Entfaltung von Talent aber durchaus von der Herkunft abhängt", sagte Yilmaz 2014 in einem Interview.
Talentscouts unterstützen die Abiturientinnen und Abiturienten bei der Realisierung ihrer Berufspläne und ebnen vielen den Weg in die oft fremde Welt der Universität. Dabei orientiert sich die Beratung immer an den individuellen Vorlieben und Talenten der Schülerinnen und Schüler. Der Weg ins Studium kann, muss aber nicht der richtige sein. Das von der Landesregierung und der Westfälischen Hochschule geleitete Talentscouting-Programm hat seit seiner Gründung 2011 Modellcharakter für ganz Nordrhein-Westfalen erlangt.
Über 70 Talentscouts von 17 Hochschulen aus ganz NRW gehen mittlerweile an die Oberstufen von insgesamt 340 weiterführenden Schulen. Rund 11.500 junge Menschen hat das Programm seither unterstützt. 2016 bezog das Zentrum für Talentförderung neue Räumlichkeiten in Gelsenkirchen. Denn auch die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wächst stetig. Dabei ist das Ruhrgebiet das Zentrum der Talentförderung in NRW geblieben.
Zusammen mit Lehrerinnen und Lehrern identifizieren Talentscouts motivierte Jugendliche, um sie beim Übergang von der Schule zur Hochschule oder in eine Ausbildung zu begleiten und zu unterstützen. Auch im Kölner Raum sind Talentscouts von der Universität zu Köln und der TH Köln seit einem Jahr an weiterführenden Schulen sowie im non-formalen Bildungsbereich unterwegs.
Den Werdegang beobachten
Den Zugang zum Studium für junge Menschen aus Familien mit geringer formeller Bildung zu erleichtern, ist in den vergangenen Jahren in ganz Deutschland zu einem wichtigen Anliegen für die Hochschulen geworden. Entsprechende Förderprogramme leisten nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit, sondern auch zur Fachkräftesicherung in Deutschland. Doch wie das am besten gelingt, ist noch nicht ganz klar. Um gute Beratungs- und Unterstützungsangebote zu entwickeln, brauchen die Universitäten und Förderprogramme belastbare Daten.
Am Institut für Soziologie und Sozialpsychologie der Uni Köln untersucht eine Forschungsgruppe um Professorin Dr. Marita Jacob in der Studie "Zukunfts- und Berufspläne vor dem Abitur" (ZuBAb) diese Fragen. Über einen Zeitraum von drei Jahren beobachten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gemeinsam mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) den Werdegang von 1.700 Schülerinnen und Schülern an 42 Schulen in Nordrhein-Westfalen.
Neben schulischer Leistung und schulischer Motivation geht es auch um die konkreten Ideen der Schülerinnen und Schüler zur Verwirklichung ihrer Zukunfts- und Berufspläne. Neben dem gut etablierten Talentscouting-Programm untersucht die Studie auch bildungssoziologische Aspekte, stellt also Fragen zum sozialen Umfeld oder dem Bildungsstand der Eltern, zu Unterschieden in den Zukunftsplänen von Mädchen und Jungen oder von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Die Soziologinnen und Soziologen interessiert, welche Pläne die Schülerinnen und Schüler vor dem Abitur haben und verfolgen, wie sich diese Pläne verändern oder weiterentwickeln.
Über die drei Jahre der Studie führen sie eine Panel-Befragung in vier Erhebungswellen durch: Die gleiche Stichprobe von Schülerinnen und Schülern der elften Klasse wird insgesamt vier Mal befragt. Am Ende der Studie haben viele der jungen Menschen dann bereits eine Ausbildung oder ein Studium angefangen. So können die Forscherinnen und Forscher auch sehen, wie gut der Übergang geklappt hat und Bereiche identifizieren, in denen Beratungsangebote wie das Talentscouting-Programm noch besser auf die Bedürfnisse der Jugendlichen eingehen könnten.
Die Ergebnisse der ersten Befragung aus dem Frühjahr 2018 liegen nun vor. Sie zeigen, dass die Mehrheit der befragten Schüler und Schülerinnen plant, nach dem Abitur ein Studium aufzunehmen. "Wir stehen zwar noch am Anfang der Untersuchung", sagt Professorin Dr. Marita Jacob, "aber der Beratungsbedarf zum Thema Studium ist sehr hoch, soviel ist schon jetzt zu erkennen."
Information allein reicht nicht aus
Rund 25 Prozent der Befragten fühlen sich schlecht über ein Studium informiert, dennoch streben fast zwei Drittel ein Studium an. Knapp 40 Prozent gab darüber hinaus an, schlecht über eine Ausbildung informiert zu sein. Aber eben Informationen über verschiedene Möglichkeiten des nachschulischen Werdegangs könnte für Schülerinnen und Schüler aus weniger privilegierten Familien auch weitere, konkrete Unterstützung hilfreich sein: Wie baue ich mir ein Netzwerk auf? Wie finde ich einen Nebenjob und welche Fördermöglichkeiten – beispielsweise ein Deutschlandstipendium – gibt es?
Frühere Studien haben oft nur untersucht, ob die Schülerinnen und Schüler nach einer Beratung ein Studium aufnehmen oder nicht. Die ZuBAb-Studie geht darüber hinaus. "Wir sind nah dran an den Schülerinnen und Schülern", sagt Jacob. "Wir schauen uns noch weitere Aspekte an, zum Beispiel, wie sich die schulische Motivation durch Beratungsangebote verändert." Über finanzielle Möglichkeiten und Vertrautheit mit dem sozialen Umfeld einer Universität verfügen Kinder aus Akademikerfamilien ohnehin schon. Sie haben Vorbilder, an denen sie sich orientieren können. Die Welt der Hochschule ist für sie kein fremder, unerreichbarer Ort. Diesen Vorteil kann ein gut entwickeltes Beratungsangebot ausgleichen – zumindest teilweise.