Als Leiter des Carl Hanser Verlags hat Michael Krüger fast drei Jahrzehnte lang den deutschen Literaturbetrieb geprägt wie kaum ein anderer. Für den geisteswissenschaftlichen Think Tank Morphomata kuratiert der Lyriker und Romancier nun die erste internationale Poetica, die bekannte Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus aller Welt zum Thema „Über die Macht der Poesie“ nach Köln holt. Das Literaturfestival wird in Kooperation mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung veranstaltet.
Wer geglaubt hat, um Michael Krüger würde es still werden nach seinem Abschied vom Carl Hanser Verlag im Dezember 2013, der hat sich gründlich geirrt. Ob als Präsident der Bayerischen Akademie der schönen Künste, am Deutschen Literaturinstitut Leipzig oder am Wissenschaftskolleg zu Berlin – Krügers Stimme und Meinung ist gefragt im aktuellen Kulturbetrieb. Einer seiner vielen neuen Schreibtische steht nun an der Universität zu Köln.
Herr Krüger, „Jeder Tag ohne die Lektüre eines Gedichts ist ein verlorener Tag“, haben Sie einmal gesagt. Es ist jetzt kurz nach elf. Haben Sie heute schon ein Gedicht gelesen?
Das kann man wohl sagen. Heute waren es schon mindestens dreißig. Und da ich am Abend noch eine Lesung beim Erzbischof habe, werde ich tatsächlich den ganzen Tag über Gedichte lesen.
Gibt es unter den vielen Gedichten, die Ihnen im Laufe Ihres Lebens begegnet sind, eines, das Sie besonders geprägt hat?
Da gibt es viele. Zum Beispiel das „Gedicht auf eine Lampe“ von Eduard Mörike. Oder die späten Hymnen von Hölderlin – weil ich sie bis heute nicht ausgelesen habe. Aufgewachsen bin ich in einem Haushalt mit nur zwei Büchern: der Bibel und dem „Garcke“, einem Pflanzenbestimmungsbuch. Das waren die einzigen Bücher, die ich vom vierten bis zum siebten Lebensjahr zur Verfügung hatte. Aber viele Gedichte sind bei uns ja vor allem als Volkslieder bekannt. Ich hatte eine Großmutter, die mir unzählige Lieder vorsingen konnte, zum Beispiel das „Ade nun zur guten Nacht“. Ich habe den Text geliebt (singt): „Das hat deine Schönheit gemacht / die hat mich zum Lieben gebracht / mit großem Verlangen.“ Mir sind die Tränen aus den Augen gestürzt. Schon damals habe ich mich gefragt: Was ist das? Warum können Wörter dermaßen faszinieren?
Folgerichtig haben Sie als Kurator der Poetica die „Macht der Poesie“ zum Thema gemacht.
Ich weiß nicht, ob Poesie eine Macht hat. Aber sie könnte eine haben. Der in Deutschland am meisten gebrauchte Satz ist: „Ich habe leider keine Zeit.“ Dieselben Leute lesen scheußliche, dicke, vollkommen schlecht geschriebene Kriminalromane. Lesen 650 Seiten, wie jemandem die Haut abgezogen wird, wie man vergewaltigt wird, wie man jemanden umbringt. Das sind die meistverkauften Bücher, offensichtlich gibt es dafür Zeit. Gedichte hingegen kann man in einer Minute lesen. Man kann aber auch sein ganzes Leben damit verbringen.
Und dennoch halten viele Menschen Gedichte für unzugänglich.
Das ist der Vorwurf der Spezialsprache, der immer wieder gemacht wird. Aber es gibt viel kompliziertere Spezialsprachen, die wir nie öffentlich verachten würden: Die Sprache der Beipackzettel und Gebrauchsanweisungen zum Beispiel. Dabei ist ein Text von Platon viel leichter zu interpretieren als das Handbuch einer Waschmaschine. In meiner Generation der 68er standen Gedichte ja grundsätzlich im Verdacht eine Luxussache zu sein, die mit Wahrheit nichts zu tun habe. Ob man das nicht anders ausdrücken könne, in diskursiver Rede? Das haben damals viele gefragt.
Gedichte wurden angefeindet?
So kann man das ausdrücken. Das Enigmatische dieser Texte haben viele einfach nicht als Teil unserer Existenz begreifen wollen. In der Gesprächsreihe „Poetik und Hermeneutik“ gab es in den Sechzigern den Band „Die nicht mehr schönen Künste“. Renommierte Professoren wollten damit regelrecht die Schönheit aus der Kunst austreiben. Aber Schönheit lässt sich nicht vernichten.
Haben Sie den Eindruck, dass sich diese Haltung heute nicht mehr findet?
Heute stehen wir an einem ganz seltsamen Punkt. Lyrik ist weltweit so interessant wie niemals zuvor. Es gab noch nie so viele spannende Dichter wie heute. Und dennoch wollen sich in Deutschland nur wenige so richtig damit beschäftigen. Woran das liegt, kann ich selbst nicht beantworten. Für mich gehörte Lyrik immer dazu, ich war mein ganzes Leben lang damit beschäftigt. Für mich gibt es gar keine andere Existenz.
Kann die Poetica den Zugang zur Lyrik erleichtern? Ihre Macht sichtbar machen?
Mir wäre es am liebsten, wenn wir so wenig wie möglich über den Ausgang der Poetica wüssten. Wenn man den vorher kennt, kann man es gleich lassen. Die Macht der Poesie ist natürlich immer nur potentiell. Sie wird erst sichtbar, wenn ein Buch aufgeschlagen und gelesen wird. Was steckt in diesen komischen kleinen Büchern, die alle hier auf dem Tisch liegen und die zusammen gerade mal einen dicken Roman ergeben würden (zeigt auf die Gedichtbände der an der Poetica teilnehmenden Autoren)? Das wollen wir auf der Poetica mit Schriftstellern aus verschiedenen Ländern diskutieren.
Für die Poetica werden Sie unter anderem eine literarische Werkstatt leiten. Kann man Schreiben lernen?
Nein, das kann man nicht. Aber man kann gemeinsam über Texte, die man geschrieben hat, diskutieren. Manchmal muss man dann eine einzige Seite dreieinhalb Stunden lang durchkauen. Jeder, der schreibt, hat ja ein mimetisches Begehren – bei mir ist das nicht anders. Man liest etwas und denkt: „Das will ich auch mit Worten machen können.“ Es gäbe keine Kultur, wenn man nicht nachahmen würde. So geht es mit den Bach‘schen Fugen, mit Beethoven, mit Tizian und mit der römischen Plastik. Nur in wenigen glüht die Kohle so stark, dass sie keine Vorbilder brauchen. Die müssen dann nur noch die Sätze zu Papier bringen.
„Michael Krüger steht für eine ganze Epoche“, hat Bundespräsident Joachim Gauck gesagt, als er Ihnen 2013 das Bundesverdienstkreuz überreicht hat. Was zeichnet diese Epoche aus?
Meine Zeit bei Hanser war eine Zeit, in der die Verlage alle mehr oder weniger unabhängig waren. Jetzt gehören sie alle zu großen Konglomeraten. Bei uns gab es keine Bedingungen wie bei Aktiengesellschaften. Wir haben Literatur gemacht, die wir für wichtig hielten. Dass sich das auszahlt, zeigt sich immer wieder. Bei Hanser hatten wir unzählige Nobelpreisträger, lange bevor sie ausgezeichnet wurden. Oft haben wir anfangs Bücher verkauft, erst dann wurden die Autoren berühmt. Patrick Modiano, der diesjährige Nobelpreisträger, ist ja wieder einer von uns. Ich kann die junge Generation nur ermuntern: Macht euch unabhängig! Macht eure eigenen Zeitschriften! Alles Neue entsteht ja in den kleinsten Einheiten. Drucken ist so günstig geworden und auch über das Netz kann man heute schnell verbreiten.
Ein wirklich breites Publikum erreicht man damit allerdings nicht.
Natürlich dauert es sehr lange, bis sich etwas durchsetzt. Vieles ist aber zunächst einmal die Chance zu einem Anfang. Die Möglichkeiten sind viel leichter geworden, man muss sie nutzen. Dennoch sehe ich das Internet durchaus kritisch: Was immer wir brauchen, es beliefert uns. Ob ich nun Hasenfutter suche oder ein Gedicht von Hölderlin. Unsere innere Suchfunktion, ein Teil unserer Seele, geht dabei verloren.
Wie genau meinen Sie das?
Jeder hat in sich eine Lichtung, einen Ort, der nur von einem selber bespielt wird. Da lässt man nur zu, was man selber behalten will und nicht, was virtuelle Netze empfehlen. Diese Lichtung wird allerdings immer kleiner, weil es so viele konkurrierende Angebote gibt.
Sie plädieren also für eine Schärfung der eigenen Prioritäten.
Ja. Manche kommen leider erst sehr spät darauf, was sie selber ausmacht. Lange haben Kirche und Staat die Linie vorgegeben. Dann kam das bürgerliche Zeitalter: Jeder sollte alle Chancen haben und seinem Leben durch individuelle Suche und Auswahl eine innere Stabilität geben. Wenn man die erst spät findet, ist das schade. Ich bin mittlerweile schon so alt, dass ich geiziger werde mit der Zeit. Im nächsten Jahr möchte ich mal drei oder vier Monate nur sitzen und schreiben. Da möchte ich dann meine eigene innere Lichtung besetzen, damit ich überhaupt wieder weiß, was das ist.
Hat darin auch die heutige Literaturlandschaft ihren Platz?
Es ist angenehm zu wissen, dass es auch in Deutschland jedes Jahr zweihundert Bücher geben wird, die ich lesen will: Hundert geisteswissenschaftliche und hundert literarische. Aufs Jahr verteilt macht das vier in der Woche. Und eines dieser Bücher sollte immer ein kunsthistorisches sein.
Warum gerade ein kunsthistorisches?
Die Bilder sind doch die Hauptsache in unserem Leben geworden. Ihre Einordnung gelingt aber kaum einem. Große Teile dessen, was unser kulturelles Selbst ausmacht, nehmen wir ja nur aus den Augenwinkeln wahr. Im Museum herrscht ein permanentes Mouvement – alle gehen und registrieren. Eigentlich muss man sich aber hinstellen und genau schauen: Was spricht aus den Bildern zu uns? Ist das nur Farbe auf Leinwand? Was genau hat das mit uns zu tun? Dass das nur für „Bildungsbürger“ von Interesse sei, halte ich für eine unverschämte Reduktion. Darin steckt doch immer ein Gran Verachtung. Ich habe mich nie als Bildungsbürger gefühlt. Aber ich habe auch Bildung nicht verachtet.
Was halten Sie auf dem aktuellen Buchmarkt für kulturell nachhaltig?
Erstens: die geschichtswissenschaftlichen Bücher. Die werden immer interessanter, je mehr sie sich vom Detail entfernen und das Panorama zeigen. Osterhammels „Weltgeschichte“ oder Frieds „Karl der Große“ – das sind Meisterwerke. Geschichte als Weltgeschichte zu erzählen war ja lange Jahre völlig verpönt. Und plötzlich gibt es wieder diese großen Dramen. Diese Bücher liest man mit roten Ohren und denkt „Das darf nicht aufhören!“ Wie früher ein Balzac-Roman. Das zweite sind die Bücher von Menschen mit Migrationshintergrund, ein scheußliches Wort übrigens. Dass das nach der Nazizeit nochmal passieren würde, dass hier Leute gerne leben und schreiben, weil Ihnen die kulturelle Infrastruktur gefällt – als alten Linken freut mich das besonders. Ich habe gerade Sherko Fatahs „Der letzte Ort“ gelesen, ein tolles Buch. Oder Feridun Zaimoglu aus Kiel, der diese ganzen deutschen, etwas geduckten Schriftsteller allein mit seinem Lachen zusammenzucken lässt. So etwas finde ich wunderbar.
Und die Lyrik?
Was mir vor allem auffällt: Plötzlich gibt es so viele interessante Frauen, die Lyrik schreiben, und zwar nicht mehr über vermeintlich typische Frauenthemen. Silke Scheuermann, Marion Poschmann, Monika Rinck – da entsteht eine unendlich vielschichtige, kräftige Literatur. Wie bei Ingeborg Bachmann. Diese jungen Frauen kriegen jetzt die Literatur-Preise, das finde ich großartig.
Mit Ihrem letzten Lyrikband „Umstellung der Zeit“ haben Sie laut FAZ das Genre der Hotelgedichte etabliert. Wird Sie Ihre Kölner Unterkunft zu einem neuen Gedicht inspirieren können?
Das wird sich zeigen. Heute Nacht übernachte ich beim Erzbischof im Maternushaus. Mal sehen. Ich bin gerne in Hotels. Hotelzimmer haben für mich immer eine Faszination. Beim Eintreten stelle ich mir vor, mit wie vielen Hoffnungen die Menschen da rein gegangen sind und wie viele Hoffnungen sich in diesen Zimmern zerstört haben. Zuhause weiß ich, welche Tragödien sich abgespielt haben. Aber in Hotelzimmern weiß man das eben nicht, da muss die Imagination nachhelfen.