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Schockierend positiv

Nach Entzifferung einer antiken Schrift erhielten die Forschenden Anerkennung – und seltsame Fragen

Im Sommer veröffentlichten drei Forschende am Institut für Linguistik das Ergebnis einer langjährigen Tüftelei: die Entzifferung eines Schriftsystems des antiken zentralasiatischen Großreichs Kuschana. Die Nachricht ging um die Welt und brachte ihnen viel Anerkennung ein – aber auch skurrile Nachfragen.

Von Eva Schissler

Fundort der entscheidenden Inschrift in Tadschikistan

Am 12. Juli 2023 erschien in den Transactions of the Philological Society, der renommiertesten britischen Zeitschrift für Historisch-Vergleichende Sprachwissenschaft, der Artikel »A Partial Decipherment of the Unknown Kushan Script«. Drei Kölner Linguisten gaben darin ihre Entzifferung von rund 60 Prozent der Zeichen der sogenannten »unbekannten Kuschana-Schrift« bekannt. Erstautorin Svenja Bonmann hatte gerade ihre Promotion frisch abgeschlossen, Jakob Halfmann lag in den letzten Zügen seines Doktorats und Natalie Korobzow schrieb an ihrer Doktorarbeit. Die Entzifferung war – und ist bis heute – eine unbezahlte Freizeitbeschäftigung für die drei. Der vierte Autor ist der tadschikische Archäologe Bobmullo Bobomulloev, der die entscheidende Inschrift, die die Entzifferung ermöglichte, in einer entlegenen Bergregion seines Heimatlandes auffand und dokumentierte.

Unerwartetes Medienecho

Wissenschaftliche Ergebnisse auf dem Gebiet toter Sprachen sind selten Publikumskracher, aber diese Nachricht fand große Beachtung. Schließlich war ein vergleichbarer Erfolg das letzte Mal mit der Entzifferung der Mykenischen Schrift (oder Linearschrift B) durch den Briten Michael Ventris in den 1950er Jahren gelungen. Seit dieser Zeit hatten sich Linguisten immer wieder an der »unbekannten Schrift« Zentralasiens versucht, doch erst jetzt gelang der entscheidende Durchbruch – ausgerechnet in Köln und von einer Gruppe von Nachwuchswissenschaftlern, die sich noch keinen großen Namen gemacht hatten.

Neben vielen anderen Medien berichteten Die Zeit, die Süddeutsche Zeitung und der Scientific American. Bei der Fachzeitschrift Transactions of the Philological Society wurde die PDF-Datei des Artikels ca. 25.000 Mal heruntergeladen – ungewöhnlich häufig für dieses Journal, für dessen Themen sich in der Regel nur ein kleiner Kreis von Fachleuten interessiert.

Bei den Artikeln in Print- und Onlinemedien, die zu dem Thema erschienen, waren die Erfahrungen für das Team gemischt: Einige Journalisten und Journalistinnen hätten sich tiefer mit dem Thema beschäftigt und die Veröffentlichung sorgfältig gelesen. Andere Darstellungen blieben jedoch an der Oberfläche und enthielten sogar Fehler – die danach in weiteren Medien reproduziert wurden. Obwohl es ärgerlich war, die eigene Arbeit falsch dargestellt zu sehen, nahmen Bonmann, Korobzow und Halfmann dieses Risiko der Wissenschaftskommunikation in Kauf: »Wenn es 500 Mal falsch dargestellt ist, ist es immer noch 1000 Mal richtig wiedergegeben«, sagt Jakob Halfmann.

Dr. Jakob Halfmann, Dr. Natalie Korobzow und Dr. Svenja Bonmann hoffen auf weitere Inschrift-Funde, um auch noch die restlichen Schriftzeichen zu entziffern

»Schockierend positiv« waren laut Natalie Korobzow die Reaktionen in den sozialen Medien. »Wir hatten am Anfang keine Ahnung, wie unsere Arbeit bei einer breiten Öffentlichkeit ankommen würde. Wir haben mit Reaktionen wie ›Wer beschäftigt sich denn mit sowas?‹ oder: ›Und dafür geben wir Steuergelder aus?‹ gerechnet.« Letzteren Punkt hätten die drei leicht entkräften können, denn das Projekt war für sie ja ein privates Vergnügen. Doch nur vereinzelte Kommentare gingen in diese Richtung. Es überwogen Gratulationen: »Großartige Leistung, herzlichen Glückwunsch. Hoffe, wir hören noch mehr davon«, schrieb etwa ein Kommentator unter den Zeit-Artikel.

Seriöses von Unseriösem trennen

Eine Hoffnung der Wissenschaftler war, durch die breite Veröffentlichung des Themas an weitere Inschriften zu gelangen, um die noch verbleibenden Schriftzeichen zu entziffern – bislang ist zwar mehr als die Hälfte des Rätsels gelöst, doch noch nicht allen Zeichen konnte ein Lautwert zugeordnet werden. Tatsächlich bekam das Team eine Flut von Zuschriften, doch es waren oft eher skurrile Anfragen. Ein Heimatforscher hatte beispielsweise angefragt, ob Felsritzungen auf der Roßtrappe bei Thale im Harz die Kuschana- Schrift darstellten. Das konnte sicher ausgeschlossen werden – so weit nach Norden waren Vertreter des zentralasiatischen Reichs nie vorgedrungen. Ein Solinger Hobbyforscher wollte mit einer Bronzekanne bei Svenja Bonmann im Institut vorstellig werden, um zu erfahren, ob die Schriftzeichen darauf von den Kuschana stammten. Es handelte sich aber wohl um eine Kanne mit chinesischen Schriftzeichen, wie sie öfter an Touristen verkauft wird. Auf die Anfrage eines französischen Ufologen antwortete das Team schließlich nicht mehr.

»Wir haben aber auch seriöse Zusendungen von Wissenschaftlern bekommen, die Inschriften in ihren Archiven hatten, mit denen sie nichts anfangen konnten, oder Fotos von Inschriften auf Bergen in der Region«, sagt Halfmann. Hier gab es ebenfalls keine Treffer, doch für die Zukunft geben die drei Forscher nicht auf. Langfristig ist der Plan, nach Tadschikistan zu fahren, um Orte mit bestätigten Funden der Kuschana-Schrift aufzusuchen.

Jakob Halfmann und Natalie Korobzow haben mittlerweile Stellen an der Universität Würzburg angetreten, Svenja Bonmann ist als Akademische Rätin am Kölner Institut für Linguistik tätig. Die breite Kommunikation ihres Forschungsergebnisses hat nicht zuletzt dazu beigetraten, national und international berufliche Kontakte herzustellen – auch über die Grenzen der Linguistik hinaus in die Archäologie und die Altertumswissenschaften. Nun hoffen die drei, dass das breite Interesse der Öffentlichkeit an ihrem Thema vielleicht bei der Suche nach Forschungsmitteln für die geplante Reise in die Region hilfreich sein wird. In jedem Fall haben sie ihrem »kleinen« Fach, der Historisch-Vergleichenden Sprachwissenschaft, zu mehr Aufmerksamkeit und Ansehen verholfen. 

 

DAS KUSCHANA-REICH
Ungefähr zur Mitte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. eroberten die sogenannten Yuèzhī, Nomaden aus der eurasischen Steppe, das hellenisierte Baktrien. Die Kuschana waren ein Clan innerhalb dieser nomadischen Stammeskonföderation, der nach und nach die Macht an sich riss und ein Großreich formte. Der größte Teil des ehemaligen Reiches liegt im heutigen Afghanistan, aber auch in Teilen Tadschikistans und Usbekistans sowie Pakistans, Nordindiens und des westlichen Chinas. Das Kuschana-Reich interagierte mit dem Arsakiden- und später dem Sassaniden-Reich ebenso wie mit dem Kaiserreich China und – vermittels maritimer Handelsrouten über den Indischen Ozean – auch mit Rom. In der Spätantike zerfiel das Kuschana-Reich und wurde unter anderem vom Sassaniden-Reich erobert.

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