Jörn Grahl ist Professor an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Sein Forschungsgebiet ist unter anderem die digitale Transformation der Wirtschaft. Er hat 2017 den Kölner Universitätspreis in der Kategorie Lehre & Studium erhalten.
Herr Professor Grahl, Sie hatten bestimmt auch eine richtig schlechte Vorlesung in Ihrer Studentenzeit?
Oh ja. Ich hatte einen Professor, der gerade ein Buch geschrieben hat. Das Buch war schlimm und bestand nur aus Bullet Points. Das waren 200 Seiten Listen, es hatte kaum Fließtext, es gab kaum Abbildungen, es waren einfach Listen an Listen an Listen, die Vorlesung war genauso. Das war schon heftig.
War das der Anlass es selbst besser zu machen?
Nicht unbedingt. Ich wollte irgendwann weg von den Folien und der Tatsache, dass der Lernfortschritt des Semesters daran gemessen wird, wie weit man mit den Folien durch ist, und nicht der Lernfortschritt der Studierenden.
Warum? Eigener Leidensdruck oder weil die Studierenden unzufrieden waren?
Zu Anfang habe ich die Vorlesungen, wie viele Kollegen, erst unwissend so gemacht und den Missmut der Studierenden ignoriert. Irgendwann wollte ich ihn nicht mehr ignorieren. Ich bin heute überzeugt davon, dass schlechte Lehre verschleuderte Lebenszeit ist – sowohl von mir, der ich vorne stehe, als auch von den Studis, die drinsitzen.
Warum ist Frontallehre und das Entlanghangeln an Folien trotzdem noch weit verbreitet?
In der Berufungspraxis wird gute Lehre leider nicht honoriert. Ich glaube, wenn Sie an den Unis sagen würden, wir berufen jetzt wegen guter Lehre und nicht trotz schlechter Lehre, hätten wir in kurzer Zeit brillante Lehre in Deutschland.
Warum haben Sie sich dann für eine andere Form der Lehre entschieden?
In der Forschung will man exzellent sein und dreht jedes Körnchen 15 Mal um. Aber in der Lehre, die einen großen Teil meiner Arbeitswoche einnimmt, machte ich praktisch minderwertige Dinge. Das war ein großer Widerspruch für mich. Ich wollte mich nicht mehr bewusst dafür entscheiden, mittelmäßige Lehre zu machen, nur damit ich an den anderen Tagen mehr Zeit für Forschung habe. Außerdem ist es erschöpfend, wenn Sie vorne stehen und anderthalb Stunden am Stück Folien ablesen. Wenn Sie versuchen, das aufzulockern und es unterhaltsam zu machen, wird die Lehre nicht unbedingt besser, denn die Studierenden machen immer noch nichts selber. Ich habe dann mit Zentrum für Hochschuldidaktik der Uni gesprochen, um etwas zu verbessern.
Wie unterrichten Sie am liebsten?
Die Studierenden bereiten sich zu Hause vor, lesen die Sachen, bevor sie in den Hörsaal kommen, machen auch schon ein paar Übungen, schauen sich Videos und Papers an. Es gibt zu jedem Thema eine Materialsammlung. Wenn die Studierenden dann ins Seminar kommen, ist das ein Signal für mich, dass die sich zumindest rudimentär vorbereitet haben. Die Vorlesung ist keine Vorlesung mehr. Wir bearbeiten Aufgaben, alleine, in Tandems, in Gruppen. Ich bin eher Experte und Coach, ich laufe von Gruppe zu Gruppe, beantworte Fragen und moderiere. All dies geschieht nach dem Modell des Flipped Classroom.
Gibt es noch Frontalunterricht?
Wenn alles gut läuft, nicht. In der zweiten Vorlesungsreihe habe ich schon null Frontalunterricht mehr gegeben. Das hat für mich dann sehr viel mehr mit dem hohen Anspruch in der Forschung zu tun, denn ich bin nicht mehr Vorleser oder Unterhalter, sondern löse individuelle Lernprobleme. Und die Studis übernehmen die Verantwortung dafür, dass sie etwas lernen, was sie lernen, teilweise auch wann und wo sie arbeiten. Wir malen Poster, die von mir benotet werden, wir visualisieren, wir arbeiten in Gruppen, die Leute bringen sich gegenseitig etwas bei.
Das hört sich sehr fordernd für die Studierenden an?
Ja, die Studis sind manchmal überfordert, aber das ist Absicht. Gleichzeitig lernen sie viel.
Was ist denn zum Beispiel eine Aufgabe, die Sie den Studierenden stellen?
In der Data Science Vorlesung versuchen wir Wissen aus großen Datensätzen zu generieren. In der ersten Vorlesung kommt beispielsweise ein Vertreter eines Unternehmens, wie die Deutsche Fußball Liga, bringt Daten mit und stellt viele komplizierte Aufgaben. Am Anfang können die Studierenden oft noch nicht einmal die Daten einlesen, geschweige denn etwas damit tun. Sie wissen aber, dass am Ende des Semesters Ergebnisse da sein müssen, der Unternehmensvertreter kommt, darüber mit Ihnen reden wird. Das ist ein bisschen so, als ob Sie ein Flugzeug beim Fliegen bauen. Aber es funktioniert - wenn man den Studierenden vertraut und ihnen die Möglichkeit gibt nach ihren eigenen Fähigkeiten und Geschwindigkeiten zu arbeiten.
Was hat die Bundesliga für Daten mitgebracht?
Zum Beispiel tausende journalistische Berichte über Bundesligaspiele, Spieler, Transfers. Die kann man nicht einzeln lesen, man muss sie maschinell verarbeiten. Die Studierenden mussten zum Beispiel analysieren, ob die Stimmung in diesen Texten negativ oder positiv gegenüber Spielern oder Vereinen ist, nach verschiedenen Kriterien.
Also nach bestimmten Stichwörtern scannen?
Man nennt das Sentiment Analysis und Topic Detection. Algorithmen, die aus großen Texten zum Beispiel Menschen oder Objekte finden, Stimmungen aufspüren, die positiv oder negativ sind, die aggressiv oder liebevoll sind. Die Studierenden lernen, wie man von Daten zu Wissen kommt an Beispielen aus der Praxis. Später kommt dann der Chef des Unternehmens und dem müssen sie dann ihre Ergebnisse vorstellen. Jedes Semester kommt ein neuer Praxispartner aus der Wirtschaft.
Die Unternehmen können dabei gleich Talente für sich entdecken?
Ja, sie schauen, wie das Niveau ist. Unternehmen kaufen viel Wissen durch Berater ein, weil zurzeit immer noch zu wenig im Bereich Data Science ausgebildet wird. Sie vergleichen das dann mit dem, was die Wirtschaftsinformatiker an der Uni Köln schon im Studium machen. Da stehen wir sehr gut da.
Hat sich denn durch die veränderte Lehre auch Ihre Zufriedenheit erhöht?
Ja, es macht viel mehr Spaß – auch wenn es auf eine positive Art stressiger ist. Am Anfang sind da 60 Leute, die keine Ahnung haben – das ist nicht böse gemeint, deshalb ist man ja an der Uni – und am Ende unterhalten wir uns darüber, ein klar sichtbarer Lernfortschritt. Das macht einen auch stolz. Deswegen würde ich auch niemals zurück in diese „alte Welt“ der schlechten Lehre.