Schachzug gegen Putin
Wie den Geldfluss in Russlands Kriegskasse stoppen, ohne Europas Energieversorgung zu gefährden? Ein Öl- und Gasembargo sehen Kölner Topökonomen skeptisch. Sie halten Importzölle und Preisultimaten für wirksamere Waffen – auch langfristig.
Von Dieter Dürand
Es ist ein Dilemma: Zu gerne würde die Mehrheit der EU-Staaten Kreml-Herrscher Wladimir Putin den Geldhahn zudrehen, um ihm die Finanzierung seines brutalen Angriffskriegs gegen die Ukraine zu erschweren. Ein naheliegendes Mittel wäre, ihm kein Öl und Gas und keine Kohle mehr abzukaufen. Die Einnahmen füllen Russlands Staatskasse immerhin zu mehr als 40 Prozent.
Ein anscheinend scharfes Schwert, solch ein Embargo. Zumal die Europäische Union zu Beginn des Kriegs mit 75 Prozent beim Gas und 50 Prozent beim Öl größter Energieabnehmer Russlands war.
Doch genau diese Zahlen spiegeln das Dilemma wider. Sie dokumentieren umgekehrt Europas enorme Abhängigkeit von Energielieferungen aus Putins Reich. Ein Boykott, egal von welcher Seite, würde die Volkswirtschaften der EU hart treffen, weil auf die Schnelle kein kompletter Ersatz zu organisieren ist. Schätzungen prognostizieren für Deutschland Einbrüche bei der Wirtschaftsleistung von drei bis zehn Prozent.
Die Folgen wären gravierend, warnen die Vorstände von Konzernen und viele Wirtschaftsexpert:innen. Sie gingen weit über ein bisschen Frieren im nächsten Winter hinaus.
Konsequenzen, die wir uns alle nicht vorstellen mögen
»Die Autoproduktion in Europa käme zum Erliegen«, befürchtet etwa Ralf Göttel, Vorstandschef des Automobilzulieferers Benteler, der mit einem Umsatz von zuletzt 7,3 Milliarden Euro zu den Großen der Branche zählt. Auch den Leverkusener Spezialchemie-Multi Lanxess brächte ein Embargo Vorstandsboss Matthias Zachert zufolge arg in die Bredouille. Nach und nach müsste das Unternehmen immer mehr Anlagen wegen Brenn- und Rohstoffmangels komplett runterfahren.
Der Todesstoß für große Teile vor allem von Deutschlands Grundstoff- und Schwerindustrie? Einhergehend mit dem Verlust Hunderttausender Arbeitsplätze?
Auch wenn nicht alle Ökonom:innen ein solches Horrorszenario teilen, ist die Sorge von Markus Krebber, oberster Manager beim Essener Energieriesen RWE, nicht einfach von der Hand zu weisen: »Ein Embargo hätte Konsequenzen, die wir uns alle nicht vorstellen mögen.«
Auf die Schnelle kein Ersatz
Dr. Eren Çam, Manager beim Energiewirtschaftlichen Institut (EWI) und Leiter des Bereichs Energierohstoffe, kann sie auf Basis einer Kurzstudie in harten Zahlen ausdrücken. Bei einem vollständigen Gas-Lieferstopp müsste die Europäische Union ihren Verbrauch innerhalb eines Jahres um 790 Terawattstunden (TWh) drosseln. Das entspricht in etwa der doppelten Menge, die die EU im ersten Quartal dieses Jahres (411 TWh) aus Russland importiert hat.
Eine gigantische Aufgabe, die Brüssel und die Bundesregierung sofort angehen müssten, um für einen möglichen strengen Winter halbwegs auf der sicheren Seite zu sein. »Sonst kann es eng werden«, fürchtet Çam. Der Grund: Bei einer langen Frostperiode ist zu erwarten, dass die Gasnachfrage um fast 30 Prozent hochschnellt.
An einer merklichen Nachfrage-Reduktion schon über den Sommer führt laut dem Energieökonom bei einem Embargo auch deshalb kein Weg vorbei, weil Ersatz fürs russische Gas nicht auf die Schnelle verfügbar ist. Und das aus drei Gründen. Erstens: Länder wie die Niederlande und Norwegen liefern bereits an ihrer Kapazitätsgrenze. Für den Einkauf von Flüssiggas (LNG) muss Deutschland zweitens erst eine Infrastruktur schaffen, beispielsweise Terminals bauen. Zudem sind die Verflüssigungskapazitäten der Exporteure etwa aus Katar und den USA aktuell nahezu vollständig ausgelastet und zudem an langfristige Lieferverträge gebunden, was Europas Importchancen begrenzt. Drittens: Weil Kohle wegen der enorm gestiegenen Gaspreise inzwischen billiger ist, haben die Betreiber ihre Gaskraftwerke bereits weitgehend abgeschaltet und produzieren Strom lieber mit ihren Kohlemeilern (ein sogenannter »Fuel Switch«). Dort lässt sich also nicht mehr viel einsparen.
Das alles zeigt: Die Umsetzung eines Boykotts wäre äußerst schwierig. Allein schon die Diskussion darüber hat jedoch Putin geholfen. Sie trieb die Preise für Öl und Gas derart in die Höhe, dass der Zahlungsstrom aus der EU trotz sinkender Abnahmemengen anschwoll und Russlands Kriegsmaschinerie mit Rekordeinnahmen schmierte. Mitte Mai zum Beispiel mit rund 800 Millionen Euro – täglich!
Dagegen ächzen die EU-Bürger:innen unter explosionsartig steigenden Energiekosten fürs Heizen, Waschen und Autofahren. Die Preise treiben zudem die Inflation auf seit Jahrzehnten nicht gesehene Höhen von annähernd acht Prozent.
Importzoll statt halbgarem Boykott-Kompromiss
Axel Ockenfels, Wirtschaftsprofessor an der Uni Köln und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Bundesministeriums für Wirtschaft, Klima und Energie, bringt daher zwei andere Optionen ins Spiel: Preisultimaten und Importzölle. Sie stärkten die Verhandlungsposition der EU im Poker mit Putin besser als ein Embargo, ist Ockenfels überzeugt. »Es ist möglich, die Einnahmen von Putin effektiv zu beschränken, ohne dass sich die EU in eine prekäre Lage bringt«, erklärt der Ökonom. »Dafür sollten aber kluge Preispolitiken für die importierte Energie erwogen werden, und nicht Mengenlimits.«
Damit dies möglichst effektiv gelingt, schlägt Ockenfels ein geteiltes Vorgehen vor. Beim Öl hält er die Erhebung eines Importzolls für den geeigneteren Hebel als den halbgaren Boykott-Kompromiss, auf den sich die EU jüngst einigte: Durch Pipelines darf russisches Öl weiter fließen, nur die Zustellung per Tanker wird verboten.
Ein Importzoll hingegen zwänge den Kremlchef, argumentiert Ockenfels, sein Öl billiger anzubieten, weil es ansonsten wegen des Aufschlags nicht mit dem Marktpreis konkurrieren kann. Der Effekt: Anders als bei dem beschlossenen schrittweisen Ölembargo, das zunächst einmal zu einem Anstieg des Ölpreises und damit der Einnahmen Putins führt, schrumpfen bei einem Importzoll seine Gewinne aus dem Ölgeschäft.
Zusätzlich würde der Westen Einnahmen erzielen, mit denen er beispielsweise den Wiederaufbau der zerstörten ukrainischen Infrastruktur finanzieren oder die hohen Energiepreise sozial abfedern könnte.
Beim Gas ist auch Russland nicht flexibel
Als international anerkanntem Spieltheoretiker geht es Ockenfels auch darum, im Kräftemessen mit Putin eine »glaubwürdige Drohkulisse« aufzubauen. Da eine Preisreduktion im wirtschaftlichen Eigeninteresse des Westens liegt, Mengenlimitierungen aber nicht, seien Sanktionen, die auf den Preis abzielen, von vornherein glaubwürdiger. Allein, dass die EU und etwa die G7-Industriestaaten die Einführung eines Importzolls auf ihre Agenda setzen, könnte den Kremlherrscher zum Nachdenken bewegen, so Ockenfels. Denn sei ein Importzoll erst einmal etabliert, hätte der Westen dauerhaft ein Instrument zur Hand, mit dem er Gewinne Russlands aus seinen Ölverkäufen abschöpfen und damit die Quelle der wirtschaftlichen und politischen Macht anzapfen kann. Dazu ließe sich die Höhe des Strafzolls »flexibel an die aktuelle Konfliktlage anpassen«, was für die strategische Effektivität ein weiterer zentraler Vorteil sei.
Mit anderen Worten: Eskaliert Putin, ließen sich die Daumenschrauben anziehen – und bei Zugeständnissen wieder lockern.
Beim Erdgas würde die Methode unter den momentanen Bedingungen weniger gut funktionieren. Der Grund: Beim Gas hat der Westen weniger Ausweichmöglichkeiten, sodass Russlands Führung einen Zoll einfach auf den Preis draufschlagen könnte. Denn auf die Schnelle kann sich die EU keinen Ersatz beschaffen, etwa Flüssiggas (LNG). Dafür muss erst die Infrastruktur ausgeweitet werden.
Falls die EU also die Gaseinnahmen Russlands reduzieren möchte, empfiehlt Ockenfels daher ein Preisultimatum: Dabei bestimmt die EU direkt einen Höchstpreis, den sie bereit ist, an den Staatskonzern Gazprom zu überweisen. Der Schachzug stellt Putin vor die Alternative, die Obergrenze zu akzeptieren oder die Lieferungen ganz oder teilweise einzustellen. Selbst wenn Europa nur mehr 20 Euro für eine Megawattstunde Gas an Moskau zahlt statt der 100 Euro, die Russland im Mai aufrufen konnte, hätte der Kreml nach Einschätzung von Ockenfels weiterhin ein kommerzielles Interesse am Verkauf in die EU. Schließlich habe er sich in der Vergangenheit mit zwölf bis 15 Euro zufrieden gegeben.
Auch kann Gazprom – zumindest in nächster Zeit – weder im großen Stil auf alternative Transportwege ausweichen, noch das Gas speichern. Würde Putin also einen Lieferstopp verhängen, bliebe nur, es zunächst größtenteils abzufackeln oder die Bohrlöcher zu verschließen. Beides wäre kostspielig für den Kriegstreiber. Allerdings, so Ockenfels, nutzt Putin Gas als Waffe zur Verfolgung seiner politischen Interessen, sodass nicht nur ökonomische Kalküle zählen, sondern auch die Möglichkeit politisch motivierter Reaktionen berücksichtigt werden muss. Die Drosselung der Gaslieferung bei ausgesuchten Ländern bereits im letzten Sommer und zuletzt seit Mitte Juni belegen dies.
Die Mittel der Gegenseite im Auge behalten
Für welches Vorgehen die EU sich auch entscheide, »sie muss sich klarmachen, dass zwei Spieler am Tisch sitzen«, betont der Ökonom. Naiv wäre es zu glauben, wenn wir den Gasimport aus Russland um zwei Drittel reduzieren, gingen im gleichen Verhältnis Putins Einnahmen zurück. Um das Spiel erfolgreich zu gestalten, mahnt Ockenfels, müsse man stets auch die strategischen Optionen der Gegenseite im Auge behalten. Dabei dürfe es keine Denkverbote geben. Der Kremlchef könnte schlimmstenfalls als Reaktion auf Einnahmenverluste den Krieg beschleunigen, intensivieren und Waffensysteme einsetzen, die er bisher ausgespart hat.
Ockenfels’ Rat an die politisch Verantwortlichen lautet daher: In Alternativen denken, Szenarien durchspielen, Reaktionsfähigkeit und -willigkeit besitzen, mit einer Stimme sprechen und stets möglichst einen Schritt voraus sein.
Knappes Gas - besser versteigern als zuweisen
Nach der geltenden Gesetzeslage ist die Sache klar. Reicht das Gas wegen ausbleibender Lieferungen aus Russland nicht mehr für alle, tritt der Gas-Notfallplan in Kraft. Die Bundesnetzagentur regelt, welche Marktteilnehmer mit welchen Mengen beliefert werden – und wer womöglich leer ausgeht. Dabei gilt: Haushaltskunden und wichtige soziale Dienste wie Krankenhäuser, Polizei und Feuerwehr haben Priorität.
Doch ist staatliche Zuteilung wirklich das geeignete Instrument, eine Mangellage effizient zu managen, den wirtschaftlichen Schaden also möglichst gering zu halten?
Die Kölner Ökonomen Professor Dr. Axel Ockenfels und Professor Dr. Peter Cramton bezweifeln das. Zusammen mit dem Präsidenten des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), Professor Dr. Achim Wambach, schlagen sie vor, Auktionen zu benutzen, um bestmöglich eine Gasmangellage zu überstehen. Die Bundesnetzagentur hat die Idee aufgegriffen.
In Ausschreibungen verpflichten sich Unternehmen, ihren Gasbezug in einem bestimmten Umfang zu drosseln oder ganz einzustellen, wenn es zu einem Embargo kommt oder wenn der Gaspreis einen vorab festgelegten Schwellenwert überschreitet. Diejenigen, die dies in einem Bietverfahren am günstigsten anbieten, bekommen den Zuschlag und die damit einhergehende Kompensation. Auch könnten ausgesuchte Teile der Industrie während einer Krise in ein wettbewerbliches Bietverfahren treten. Auktionen können sodann Unternehmen identifizieren, die Gas bei extremer Knappheit beziehen oder reduzieren wollen, und zu welchem Preis. Die Einnahmen aus der Auktion können genutzt werden, um besondere Härten abzufedern.
Ockenfels hat Erfahrungen mit dem Design von Auktionen für extreme Stresssituationen: Im Stromsektor, bei Impfstoffen und bei der Befüllung der Gasspeicher spielen sie bereits eine wichtige Rolle, um die Vorhaltung von im Krisenfall notwendigen Kapazitäten sicherzustellen.
Simulationen unter Beteiligung von Wissenschaftler:innen aus dem Köln- Bonner Exzellenzcluster für Wirtschaftsforschung ECONtribute deckten auf, welchen wirtschaftlichen Schaden eine ineffiziente Zuteilung heraufbeschwöre, warnen die Ökonomen. Vertraue die Bundesregierung auf Marktmechanismen, büße Deutschland bei einem Gasembargo geschätzte zwei bis drei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts ein. Bei einer starren Zuteilung, die Haushalte und Dienstleistungen bevorzugt, bräche die Wirtschaftsleistung hingegen sehr viel stärker ein – um vielleicht zehn Prozent.
Auch wenn die Modellrechnungen wegen vieler Unwägbarkeiten mit großer Vorsicht betrachtet und kommuniziert werden müssten, zeigten sie dennoch ganz klar: Wie gut Deutschland aus einer etwaigen Gaskrise herauskommt, wird ganz entscheidend vom Design der Markt- und Zuteilungsmechanismen abhängen.