Herrschaft von Lissabon bis Wladiwostok
Von einer obskuren Ideologie russischer Exil-Intellektueller zum faschistischen Kampfbegriff: Hinter den imperialen Forderungen der russischen Rechten steht der Eurasismus. Dabei begann die Idee als Suche nach Russlands historischer Verortung in der Welt.
Von Robert Hahn
Als der russische Premierminister und ehemalige Präsident Dmitri Medwedew am 4. April in seinem Kanal des Nachrichtendienstes Telegram schrieb, dass Russland mit der Zerstörung der demokratischen Ukraine den Weg für »ein offenes Eurasien von Lissabon bis Wladiwostok « bereiten wolle, empfanden das viele als Drohung. Nur wenige aber konnten einordnen, woher diese seltsame Rhetorik stammte. Osteuropahistoriker:innen können das Kind beim Namen nennen: Eurasismus. Eine Geschichtstheorie, die zur Geschichtsideologie wurde und als Kampfbegriff durch die öffentliche Diskussion in Russland geistert, derzeit hauptsächlich vertreten durch den Philosophen und Publizisten Alexander Geljewitsch Dugin, ein faschistischer Ideologe mit angeblich guten Beziehungen zum Kreml.
Der Dritte Weg
Wie viele politische Ideen, die Europa immer noch wie Untote durchziehen und manchmal erschreckende Lebendigkeit gewinnen, findet man die Ursprünge des Eurasismus im 19. Jahrhundert. Zu jener Zeit entstand »slawophiles« Gedankengut, erklärt Dr. Kirsten Bönker. Die Privatdozentin ist Osteuropahistorikerin in Köln und leitet die Abteilung für Osteuropäische Geschichte. »Die Idee des Eurasismus speist sich aus einer deutlich älteren Denktradition des 19. Jahrhunderts, der Slawophilie. Sie liegt begründet in der intellektuellen Auseinandersetzung zwischen den sogenannten Westlern und den Slawophilen im ausgehenden 19. Jahrhundert.«
Während die sogenannten »Zapadniki«, die Westler, sich an europäische, liberale Staatsformen anlehnten, entwickelten die »Slawophilen« andere Vorstellungen: »Aus ihrer Sicht war Russland etwas Eigenes, etwas Besonderes, ein Land mit einer spezifischen historischen Mission, das auf gar keinen Fall den westlichen Weg einer individualistischen Gesellschaftsordnung und des Kapitalismus einschlagen, sondern auch in Abgrenzung von der asiatischen, ›barbarischen‹ Kultur einen dritten Weg einschlagen sollte. Das war die Ausgangsthese der Slawophilen, die auch religiös, also christlich-orthodox, grundiert war«, beschreibt die Historikerin die Ausgangslage. Grundtenor der Denkrichtung war damit eine Ablehnung des Westens und westlicher Werte und Staatsformen, in unterschiedlich starker Ausprägung. Bekannte russische Intellektuelle sahen sich den Ideen verpflichtet, nicht zuletzt Größen wie Fjodor Dostojewski.
Nützliches Tatarenjoch und Großraumträume
Noch während Slawophile und Westler sich um die Zukunft stritten, schaffte eine andere Gruppierung Fakten: Die Bolschewiki kamen durch den Oktoberumsturz an die Macht. Viele Slawophile flohen nach Europa. Die Emigranten waren allerdings eine sehr heterogene Gruppe. Einige waren adelig und pflegten einen großbürgerlichen Lebensstil, die meisten sprachen fließend Französisch oder Deutsch, lebten in Paris oder Berlin; einige fanden nach der Revolution als Professor oder Literat im Westen ihr Auskommen. Für diese Gruppe war der Bolschewismus definitiv der falsche Weg für Russland.
Die slawophilen Ideen mündeten bei den Exilanten schließlich in dem Konzept, das sich in den 1920er Jahren unter dem Stichwort Eurasismus verbreitete. Zu den Eurasiern gehörten angesehene Intellektuelle wie der Linguist und Ethnologe Fürst Nikolai Sergejewitsch Trubetzkoj. Sie zeigten nicht nur einen dritten Weg auf, sondern formulierten auch einen territorialen Rahmen, in dem Russland die Brücke zwischen Europa und Asien bilden sollte. »Da spielten sehr unterschiedliche Sachen rein, wie zum Beispiel, dass der Staat durch die Kirche und ihre religiösen Werte geprägt sein müsse. Interessant ist, dass der Eurasismus jenseits der russisch-sowjetischen Grenzen verstärkt worden ist.«
Inhaltlich konkretisierte der Eurasismus slawophile Ideen und fügte neue hinzu. Die russische Geschichte wurde umgedeutet und das sogenannte Tatarenjoch des 13. und 14. Jahrhunderts, als die russischen Fürstentümer von den Tataren beherrscht wurden, erschien in neuem Licht. Bönker: »Was bis dahin sehr negativ als Rückschlag Russlands in die ›asiatische Barbarei‹ angesehen wurde, wurde jetzt als etwas gesehen, das die russischen Bauern mit asiatisch-mongolischen Traditionen verbunden habe. Daraus habe sich ein spezifischer nicht-westlicher Weg ergeben.«
Die territoriale Ausdehnung des ersehnten Russischen Reiches variierte bei den Anhängern der Theorie. Manche vertraten keinerlei Gebietsansprüche über die existierenden Grenzen des Sowjetreiches hinaus. Manche hatten aber auch die Idee, dass die Mongolei oder aber Teile von China zum Russischen Reich gehören sollten. »Es gab auch Vorstellungen, dass es ein Reich bis zum Atlantik geben solle«, erklärt die Historikerin. »Es war ein schräges Amalgam von Ideen, immer mit der Vorstellung, dass Russland etwas Besonderes in der Weltgeschichte sei.«
Mit Dugin ins Faschistische
Während der Sowjetzeit ging der Eurasismus in den Untergrund, war aber nie weg. Es gab noch vereinzelte eurasische Ideen in den Emigrantenkreisen, wie zum Beispiel bei dem Schriftsteller und Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn, der sich nach seiner Ausweisung aus der Sowjetunion 1974 sofort zu den slawophilen und anti-westlichen Ideen bekannte und später noch in den 1990ern, so Bönker, »Vorreiter des slawophilen, orthodoxen und antiwestlichen Mantras« wurde. Auch der russische Geograph und Turkologe Lew Gumiljew, Sohn der bekannten Dichterin Anna Achmatova, vertrat letztendlich in der Sowjetunion ähnliche Konzepte. »Doch es war offiziell nicht sagbar, es durfte nicht kommuniziert werden«, sagt Bönker.
Mit der Perestroika und dem anschließenden Zerfall der Sowjetunion änderte sich dies. Als in den 1990er Jahren die Kommunikation freigegeben wurde, erlebten diese Ideen und ihre Vertreter neuen Zustrom. »Durch den liberal-demokratischen Aufbruch hatten die Eurasier zwar keine besonders großen Foren und Kommunikationsmöglichkeiten, doch die 1990er Jahre waren die Zeit eines gewissen intellektuellen Vakuums«, erklärt Bönker. »Es gab zwar liberale demokratische Ideen, sie konnten sich in Russland aber letztlich nicht durchsetzen. Unmittelbar nach dem Amtsantritt Wladimir Putins konnten diese Ideen wieder mehr Raum einnehmen und sich mehr Gehör verschaffen.«
In den 1990er Jahren betrat auch Alexander Dugin die Bühne des Geschehens. »Dugin hat eine neue Note hereingebracht «, konstatiert die Historikerin. Um es präziser zu sagen: »Dugin hat faschistische Vorstellungen.« Als Mitglied der ultranationalistischen und antisemitischen Gruppierung Pamjat (Gedächtnis) verkehrte er mit inter- nationalen Größen der Neuen Rechten wie Alain de Benoist oder Jean-François Thiriart und begründete mit anderen die Nationalbolschewistische Partei Russlands, die 2005 verboten wurde. Er ist mit Teilen des Staatsapparates vernetzt und Mitglied im rechtsextremen Think-Tank Isborsk-Club. Der Neo-Eurasismus, wie er jetzt bezeichnet wurde, nahm Gedanken aus dem extrem rechten Denken auf.
»Dugin sagt deutlich, dass die Russen ein ›arisches Volk‹ und deshalb allen anderen Völkern auf der Welt überlegen seien«, führt Bönker aus. »Ihnen würde die Führungsposition in der Welt zustehen. Das hat ein biologistisches Element und zudem ein aggressives Potential, denn dass Krieg geführt werden muss, um diese Vorstellungen durchzusetzen, schließen die meisten Vertreter seiner Ideen nicht aus.« So ist es nicht erstaunlich, dass Dugin sich 2014 positiv über die Annexion der Krim äußerte und die militärische Aggression gegen den Rest der Ukraine unterstützte. Seine radikale Unterstützung war selbst dem Kreml zu viel. Nachdem Dugin 2014 in einem Interview auf die Frage, was mit den Ukrainer:innen zu machen sei, die ihre Regierung gegen Russland unterstützten, »Töten, töten, töten, das ist meine Meinung als Professor« geantwortet hatte, wurde er von seinem Lehrstuhl an der renommierten Moskauer Lomonossow-Universität entfernt.
Populärideologe oder Kreml-Flüsterer?
Wie viel Einfluss haben Ideologen wie Dugin auf den Kreml und Wladimir Putin? Ist der russische Präsident ein flammender Duginist? Bönker ist eher skeptisch: »Dugin ist seit den 2000er Jahren eine Nähe zu Putin unterstellt worden. Doch Putin hat sich, obwohl er verschiedene Elemente der Ideologie aufgegriffen hat, persönlich von ihm ferngehalten.« Putin selbst habe den Begriff Eurasismus zwar eine Zeitlang benutzt, vor allem um 2010 herum. Doch Beobachter sind zurückhaltend mit Diagnosen und stellen keine unmittelbare Kausalität zu Putins Ideen oder Verhalten her.
Eine Wirkung auf russische Außenpolitik lässt sich allerdings feststellen: die Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion mit Armenien, Belarus, Kirgisistan und Kasachstan im Jahr 2015. »Man hat damit die Vision verbunden, dass dort noch ein deutlich größerer Raum entstehen könnte, was letztlich zur Wiedererstehung der Sowjetunion führen sollte«, sagt die Wissenschaftlerin. Seitdem ist es in der offiziellen Rhetorik des Kremls still um den Begriff geworden; Putin hat ihn im Kontext der Annexion der Krim 2014 nicht mehr benutzt – zumindest nicht als geopolitisches Konzept. Auch im Umfeld seiner Berater scheint das Datum eine Wende zu markieren. »Bis zur Krimannexion spielte der Eurasismus in den Beraterzirkeln eine wichtige Rolle als historisch-politisches Geschichtsnarrativ.«
Nach hundert Jahren ist der Eurasismus aus dem elitären Intellektuellenzirkel in der russischen Öffentlichkeit angekommen, allerdings zum Teil sinnentleert, so die Kölner Osteuropahistorikerin. Der Begriff sei in der Öffentlichkeit präsent und letztlich könne jeder hineininterpretieren, was er möchte. Ein Großteil der russländischen Bevölkerung kenne und ein Großteil unterstütze ihn. Einen wissenschaftlichen Anspruch sieht sie für die Theorie nicht mehr: »In den 1920er Jahren war es ein redliches Bemühen um eine Theorie mit wissenschaftlichem Anspruch, man versuchte sie mit empirischen Argumenten zu untermauern. Davon sind Leute wie Dugin weit entfernt.«