Anfang des Jahres verstarb der deutsche Weltautor und Nobelpreisträger Günter Grass. Über viele Jahre hinweg war der Autor der Blechtrommel und des Butt dem Kölner Germanisten Volker Neuhaus als Kenner und Deuter seines Werks freundschaftlich verbunden. Neuhaus hatte u.a. 1979 eine Monographie zu Grass’ Gesamtwerk vorgelegt und von 1987 – 2007 die Gesamtausgaben der Grass’schen Werke betreut. In den 80er und 90er Jahren wurde so durch Professor Neuhaus und seinen großen Schülerkreis die Universität zu Köln zum Weltzentrum der Grass-Forschung. Für das Unimagazin erinnert er sich daran, wie er Grass kennen und schätzen lernte, welcher Mensch der Schriftsteller war und warum er in Deutschland heute bisweilen nicht angemessen gewürdigt wird.
Herr Professor Neuhaus, wie haben Sie Günter Grass kennengelernt?
Zunächst einmal ganz klassisch als Leser 1959 im Erscheinungsjahr der Blechtrommel. Ich war damals 16 Jahre alt und ein begeisterter Vielleser und habe mir das Buch wohl zum Geburtstag gewünscht; jedenfalls war es die Erstausgabe; die habe ich heute noch. Ich habe das Buch damals mit großer Begeisterung und vor allem mit großer Zustimmung gelesen – ich konnte mich mit Oskar voll solidarisieren und identifizieren. 1961 war ich dann ähnlich begeistert von Katz und Maus und 1963, da war ich schon Germanistikstudent in Bonn, von den Hundejahren. So habe ich Grass' Weg von Anfang an verfolgt.
Ein entscheidender Moment war, dass mir 1968 im Rigorosum der sehr konservative Bonner Komparatisten Horst Rüdiger, der Begründer der Vergleichenden Literaturwissenschaft in Deutschland, anbot, einen Aufsatz für seine neugegründete Fachzeitschrift „arcardia“ über den Demeter-Mythos bei Grass zu schreiben. So habe ich mich das nächste halbe Jahr neben meinem Brotberuf bei einem kulturellen Verband mit dem Demeter-Mythos bei Grass beschäftigt, mit den Spätfolgen, dass ich zum Grass-Forscher geworden bin.
Wie ging es weiter?
Ich bekam vom Metzler-Verlag in den späten 70er Jahren das Angebot, einen Band der Metzler-Realien-Reihe über Günter Grass zu schreiben, der inzwischen in 3. Auflage vorliegt. Ich habe das Erscheinen des Buches im Jahr 1979 genutzt, um den Literaturwissenschaftler Walter Höllerer als gemeinsamen Freund zu bitten, mich bei passender Gelegenheit Günter Grass vorzustellen. Damals hatte Grass aus den Einnahmen des Butt den Alfred-Döblin-Preis gestiftet. Als der im Literarischen Colloquium Berlin, das Walter Höllerer leitete, zum ersten Mal an Gerold Späth vergeben wurde, habe ich dann Günter Grass endlich persönlich kennengelernt.
Wie ist das wenn ein Literaturwissenschaftler das erste Mal auf „seinen Autor“ trifft, auf den er sich spezialisiert hat?
Ungewöhnlich und ein bisschen irritierend. Wir arbeiten grundsätzlich mit Texten und nicht mit Zeitzeugen. Philologie ist die Wissenschaft vom Wort und vom Text und der Autor ist eine davon getrennte Einheit. Häufig – allerdings nicht im Fall von Günter Grass – ist die Begegnung mit dem Autor auch enttäuschend, weil Schriftsteller in ihrem Werk gelegentlich sehr viel reicher sind als in der persönlichen Begegnung.
Hatten Sie besondere Vorstellungen von Grass als Person als Sie ihn das erste Mal getroffen haben?
Die hatte man 1979 natürlich schon, da lagen die ganzen Wahlkampfzeiten hinter ihm, wo er zur öffentlichen Person, regelrecht zur Mediengestalt, geworden war. Ich kannte ja als Autor der Monographie sein gesamtes Werk in- und auswendig und auch alle seine Ansichten. Mein erster Eindruck war, dass Grass bei ersten Treffen zuerst eher reserviert und vorsichtig war. Wenn man ihn dann später bei anderen Gelegenheiten wieder traf, wirkte er ganz anders, als das öffentliche Bild von ihm war. Das war ja bis zuletzt eher ein bis zur Aggressivität gehendes bullenbeißerisches Bild, was er privat nun überhaupt nicht war.
Wie war er denn privat?
Der Durchbruch war, als Grass im Jahr 1987 zu seinem 60. Geburtstag an einer Konferenz der Universität Wroclav in Karpacz, dem früheren Krummhübel am Fuße der Schneekoppe teilnahm, wo u.a. Theodor Fontane häufig in der Sommerfrische war. Dort fand eine Woche lang ein Grass-Kongress mit Vertretern aus der DDR, Polen und der Bundesrepublik statt. Günter Grass hat mit seiner Frau Ute an der ganzen Tagung teilgenommen. Ich war dort, um meine Gesamtausgabe vorzustellen, die soeben fertig geworden war. Jeden Abend haben uns die polnischen Kollegen, die sehr gastlich waren, zu improvisierten Imbissen eingeladen und die westlichen Teilnehmer haben sich mit Wodka aus den Devisenläden revanchiert.
Da kam man sich näher und am Ende hat mir Grass das Du angeboten. Seit dieser Zeit kann man sagen, dass wir persönlich befreundet waren. Ich habe ihn regelmäßig besucht und wir haben wechselseitig Anteil an den Schicksalen des anderen genommen. Privat war er ein ausgesprochen bescheidener, liebenswürdiger, humorvoller, toleranter, sensibler und verständnisvoller Mann. Deshalb haben meine Frau und ich uns in der warmen und so anregenden wie gelassenen Atmosphäre seines Behlendorfer Domizils so außerordentlich wohlgefühlt und sind immer wieder gern auf Besuch gekommen. Sogar unser Dackel Ludwig und Grass’ große Mischlingshündin Minka waren eng befreundet.
Wie kam es dann zu dem deutlich anderen öffentlichen Auftreten von Grass?
Das kann man so pauschal nicht sagen, da muss man schon differenzieren, etwa zwischen öffentlichen Lesungen, bei denen er stets seine Zuhörer für seine Texte geradezu begeistert und fast ausnahmslos ihre Herzen erobert hat, und seinen Fernsehauftritten, bei denen oft schon die ihm gestellten Fragen selbst aggressiv waren. Zudem wurde dann bei der Wiedergabe noch manches durch Kürzungen aus dem Kontext gerissen. Auch fühlte sich Grass wohl dazu verpflichtet, da er aufgrund seines literarischen Ruhms gehört wurde, ihm ethisch wichtige Dinge deutlich zu artikulieren. Und das hat er dann wohl bisweilen auch überdeutlich getan.
Wie wurde Grass im Ausland wahrgenommen?
Er wird als Weltautor gesehen und sehr geschätzt.
Woher stammt das Interesse im Ausland an Günter Grass? Autoren wie John Irving und Salman Rushdie bewundern ihn und haben ihn als literarisches Vorbild genannt.
Sie vergessen noch einen, der das ganz deutlich gemacht hat: Umberto Eco. Eco gehörte zu einer norditalienischen Autorengruppe, die den französischen nouveau roman an theoretischer und formaler Strenge noch einmal überbieten wollte und darüber vor lauter Sterilität nicht zum Schreiben kam. Da erschien Die Blechtrommel in italienischer Übersetzung und deren Lektüre habe ihm erst den Mut gegeben, den Namen der Rose zu schreiben, worin er postmodern den Krimi, den Schauerroman, den Historischen Roman und den philosophischen Roman im bewussten Spiel mit allen Traditionen, wie Oskar auf seiner Trommel, zusammengeworfen habe.
Irving und Rushdie haben das gleiche gesagt. Das war der Mut, das traditionelle Erzählen wieder aufzunehmen und dabei zugleich im Spiel gegen den Strich zu bürsten.
Wie war die Einstellung von Günter Grass gegenüber der Literaturwissenschaft?
Die war sehr negativ und ist es im Alter im Grunde immer mehr geworden, weil er zu Recht - und das wird in Ein weites Feld besonders deutlich – der Meinung war, dass das Sekundäre zunehmend über das Primäre triumphiere. Das haben wir in allen Bereichen: Wenn ein Stück aufgeführt wird, ist nicht mehr das Stück wichtig, sondern wie es inszeniert wird. Das letzte Mal, dass Grass mit einer Spiegel-Titelgeschichte bedacht wurde, war nicht er auf dem Titel zu sehen, sondern der Kritiker des Buches. Nicht wichtig war, was Grass geschrieben hat, sondern was Reich-Ranicki dazu sagen würde. Diesen Triumph des Sekundären hat er sehr beklagt und den sah er bei der Mehrzahl der Germanisten gegeben.
Galt das auch für Sie?
Nein, mit meiner Art die Sachen zu behandeln war er sehr einverstanden. Er hat sich da nicht direkt zu geäußert, aber ich hatte generell den Eindruck, dass er sich von mir verstanden fühlte..
Wie hat sich das geäußert?
Er hat mir gegenüber ein einziges Mal seine explizite Zustimmung geäußert und zwar zum Artikel „Das christliche Erbe bei Günter Grass“, wo ich ihn im Grunde als Konservativen, der vom Christentum und der Erbsündelehre sehr stark beeinflusst ist, dargestellt habe. Zu diesem Aufsatz hat er mir einen sehr zustimmenden Brief geschrieben. Aber auch sonst war seine Anerkennung meiner Arbeiten mir gegenüber immer deutlich spürbar.
Wie ist es in den 80er Jahren zu der Gesamtausgabe von Günter Grass' Werken gekommen?
Ich war der letzte Doktorand, den der in seiner Generation legendäre Richard Alewyn angenommen hat. Der damalige Leiter des Luchterhand Verlages, Dr. Altenhein, war umgekehrt einer der ersten Doktoranden Alewyns direkt nach dem Krieg, als die Kölner Universität ein so deutliches wie mutiges Zeichen setzte und den Emigranten Alewyn als Nachfolger auf den Lehrstuhl des mit Berufsverbot belegten Ernst Bertram berufen hat. Als der Luchterhand-Chef 1985 jemanden suchte, der eine Grass-Gesamtausgabe betreuen konnte, kam er auf mich als Grass-Forscher und sozusagen Mitschüler, und mein ihm vorgelegtes Konzept hat ihn überzeugt. Bis zum 16. Oktober 1987, dem 60. Geburtstag von Grass, haben meine Mitarbeiter und ich dann die Gesamtausgabe fertiggestellt.
Konnten Sie bei der Erstellung der Gesamtausgabe auch auf die Hilfe von Günter Grass zurückgreifen?
Nein und zwar aus einem einfachen Grund: Als meine Mitarbeiter und ich die Konzeption der Ausgabe Günter Grass und seiner Frau Ute in Gegenwart des Verlegers in meinem Haus in Köln-Sürth vorgestellt haben, um sein Placet zu bekommen, hat Grass ganz beiläufig erstmals von seinem Plan berichtet, für ein Jahr nach Indien gehen. Der Verleger war so erschrocken, dass er mich erst einmal um einen Cognac gebeten hat. Wir haben Grass dann in der gesamten Arbeitsphase nur einmal über die indische Variante des Goethe-Hauses in Kalkutta kontaktieren müssen.
Ab den 80er Jahren setzte das Rezeptionstief bei Günter Grass ein. Wie hat er das aufgenommen?
Er war verletzt. Insbesondere nach der negativen Aufnahme von Ein weites Feld. Das ist ein wunderbares Buch, sicherlich eines seiner drei besten. Dass dieses Buch so verrissen wurde, hat ihn zutiefst getroffen. Die Pressekampagnen, die dann nach seinem Eingeständnis der SS-Zugehörigkeit und dem Israel-Gedicht aufkamen, haben ihn natürlich auch verletzt. Doch in den 90er Jahren war er besonders angeschlagen, bis zum literarischen Verstummen. Das haben seine Gegner auch mit zur Kenntnis genommen. Er hatte nun einmal viele Gegner und wie er schon 1972 in Aus dem Tagebuch einer Schnecke schreibt: "Ruhm ist etwas, das anzupissen Spaß bereitet.“ Da hat er sich dann doch gewundert, dass es bei den deutschen Kritikern kaum noch Gegenstimmen gab. In diesem Zusammenhang hat er auch die Entmachtung von Fritz J. Raddatz bei der ZEIT bedauert. Ab dann gab es kaum noch Kritiker, die sich für ihn einsetzten.
Aber die Wahrnehmung von Grass in der Öffentlichkeit hat sich doch Anfang der Nuller Jahre wieder etwas verbessert?
Ja und Nein. Sein größter Verkaufserfolg überhaupt war Im Krebsgang 2002. Auch die bebilderte Ausgabe von Mein Jahrhundert im Jahr 1999, die immerhin knapp hundert Mark kostete, hat sich mit etwa hunderttausend Exemplaren verkauft. Andererseits wurde das Werkstattjournal Sechs Jahrzehnte, in dem er 2014 aus seiner Sicht über die Skandale um seine SS-Zugehörigkeit oder das Gedicht Was gesagt werden muß berichtet, so gut wie keiner Besprechung gewürdigt. Auch die Eintagsfliegen sind, sieht man von diesem einen Skandal-Gedicht ab, so gut wie nicht besprochen worden.
Woher kommt das? Weshalb konnte die Kritik nichts mehr mit ihm anfangen?
Wir haben drei deutsche Weltautoren: Goethe, Thomas Mann und Günter Grass. Alle drei haben mit ihren Erstlingsromanen - Werther, Buddenbrooks und Blechtrommel - auf Anhieb weltweit Beachtung gefunden. Und ab dann hat das Ausland über sechzig Jahre auf sie geachtet und ihr weiteres Leben und Schaffen mit großem Respekt verfolgt. Und bei allen dreien, bei Goethe, Thomas Mann wie Grass, hat man dasselbe Phänomen, dass sie im Alter im eigenen Land als Fossilien heruntergemacht worden sind. Allen dreien wurde in schöner Regelmäßigkeit vorgeworfen, dass sie nie wieder an ihr Jugendwerk hätten anknüpfen können, dass sie sich überlebt hätten, dass sie nichts mehr zu sagen hätten. Zudem sind alle drei auch politisch, vor allem in ihrer Skepsis gegenüber dem eigenen Land und seiner Entwicklung, ins Abseits geraten, Goethe seit der nationalen Welle der Befreiungskriege, Thomas Mann nach 1933 und Grass nach 1989.