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Mit Webcam und KI das Mathelernen unterstützen

Ein digitales Lernsystem hilft bei Lernschwierigkeiten in Mathe

Der Einstieg in die Sekundarstufe ist für Schülerinnen und Schüler nicht immer einfach. Verbreitet sind vor allem Lernschwierigkeiten in Mathematik. Ein von Kölner und Münchner Wissenschaftler*innen entwickeltes digitales Lernsystem kann den Übergang erleichtern und Schüler*innen individuell  fördern.

Von Mathias Martin

Langsam wandert der Finger über den Zahlenstrahl am Bildschirm. »Zehn, zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig, sechzig«, zählt die zehnjährige Schülerin Laura leise vor sich hin und gibt dann nach einer kurzen Pause »70« in den Computer ein, während ihre Mathematiklehrerin ihr Vorgehen bei der Lösung der Aufgabe an einem zweiten Bildschirm beobachtet. 

Die Aufgabe am Bildschirm erscheint einfach: Ein Zahlenstrahl von 1 bis 100 mit Unterteilungen in Zehnerschritten. Nur die Positionen 0, 10 und 100 sind jeweils mit der Zahlenangabe beschriftet, die übrigen Unterteilungen sind nicht nummeriert, lediglich die Position 50 ist durch einen etwas längeren Strich hervorgehoben. Bei verschiedenen Aufgaben auf dem Zahlenstrahl werden nacheinander bestimmte Positionen mit einem roten Kreuz markiert. Die Schüler*innen sollen angeben, welcher Zahl diese Position entspricht.

Fast alle finden die richtige Lösung, der Weg dorthin kann aber unterschiedlich sein. Die mathematisch Fitteren orientieren sich beispielsweise an der mittleren Markierung oder dem Ende und können von da aus schnell das Ergebnis sehen. Andere zählen hingegen alle Positionen einzeln ab und können Strukturen wie die Mitte noch nicht nutzen.

Beobachtet werden sie dabei von einer kleinen Webcam, die oben am Computermonitor angebracht ist. Die Kamera erfasst die Blickbewegungen bei der Bearbeitung der verschiedenen Aufgaben zu den mathematischen Basiskompetenzen am Bildschirm. Dieses sogenannte Webcam-Eyetracking zeichnet die Blickbewegungen auf und speichert sie. Das System wertet die Daten aus und ermittelt anhand der spezifischen Muster von Blickfolgen, ob die Schüler*innen beim Lösen der Aufgabe Strukturen genutzt oder etwa alles gezählt haben. Das Lernsystem interpretiert, bei welchen mathematischen Basiskompetenzen gegebenenfalls Förderung notwendig ist, und bietet den Schüler*innen Erklärungen, Videos und individuell angepasste Fördereinheiten am Computer an.

Eyetracking mit kostengünstigen Webcams

Viele Kinder verlassen die Grundschule ohne ausreichende Kenntnisse in den Grundrechenarten, was den Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe erheblich erschwert. Am Ende der Grundschulzeit haben circa zwanzig Prozent der Schüler*innen ernsthafte Schwierigkeiten in Mathematik und beim Rechnen – sie befinden sich auf dem Wissensstand von Zweitklässlerinnen und Zweitklässlern. Bei den Schüler*innen, die auf eine Haupt- oder Gesamtschule wechseln, ist dieser Anteil mit etwa 25 bis 30 Prozent noch höher. Der Lehrkräftemangel an Schulen trägt mit dazu bei, dass Kinder Schwierigkeiten in den mathematischen Basiskompetenzen haben beziehungsweise diese nicht überwinden. Lehrkräfte in inklusiven Schulen haben oftmals wenig Möglichkeiten, zu Beginn der Sekundarstufe die vorhandenen Kompetenzen genau zu diagnostizieren und so gezielt Wissensdefizite durch eine individuelle Förderung der Schüler*innen auszugleichen. 

Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule Wulfen in Dorsten arbeiten mit dem Lernsystem KI-ALF

Das System KI-ALF (KI-basierte Adaptive Lernunterstützung zur Diagnostik und Förderung der mathematischen Basiskompetenzen im inklusiven Kontext) ist ein digitales Diagnose- und Fördersystem, das individuelle Lernbedarfe von Schüler*innen mittels Künstlicher Intelligenz erkennt und die Kinder individuell und adaptiv durch gezielte Anleitungen und Übungen beim Kompetenzerwerb unterstützt. Das System wird bereits in einer Testphase in der Gesamtschule Wulfen in Dorsten eingesetzt. Sie nutzt als erste Schule das Webcambasierte Eyetracking, um Schüler*innen der fünften Klasse gezielt nach Defiziten in den mathematischen Fähigkeiten zu screenen und bei Bedarf individuell zu fördern.

KI-ALF wurde von der Kölner Professorin Dr. Maike Schindler und ihrem Team am Lehrstuhl für Mathematik in sonderpädagogischen und inklusiven Kontexten in Kooperation mit dem Robotiker und Informatiker Professor Dr. Achim Lilienthal von der Technischen Universität München entwickelt. Das kürzlich abgeschlossene Projekt wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) für drei Jahre gefördert.

Das Besondere an dem Lernsystem ist, dass es keine teure Spezialkamera für das Eyetracking benötigt. »KI-ALF kann mit vergleichsweise geringem finanziellem und technischem Aufwand in Schulen umgesetzt werden. Das System verwendet für das Eyetracking eine handelsübliche, kostengünstige Webcam und läuft auf einem Windows- Computer«, erläutert Maike Schindler. In der Regel werden an einem Computer zwei Monitore angeschlossen: An einem Bildschirm arbeitet der Schüler oder die Schülerin, an dem zweiten Bildschirm kann die Lehrkraft die Aufgabenbearbeitung live verfolgen und gegebenenfalls Hilfestellung leisten.

Weltweit einzigartig

Hunderte mathematische Aufgaben haben Schindler und ihr Team entwickelt, in denen Kinder Zahlen erkennen und darstellen, addieren, subtrahieren, teilen und multiplizieren. Alle Aufgaben dienen der Diagnostik der individuellen mathematischen Basiskompetenzen. »Für KI-ALF sind besonders solche Aufgaben geeignet, die als digitale Lernmaterialien vorliegen und die gut visuell dargestellt werden können«, sagt Schindler. 

Nach der Bearbeitung der Aufgaben am Computer stellt das System für die Lehrkräfte einen digitalen Bericht zusammen, in dem die Aufgabenbearbeitungen und die daraus ermittelten mathematischen Basiskompetenzen sowie die Förderung und deren Erfolg aller einzelnen Schüler*innen übersichtlich und detailliert dargestellt sind. Dieser Bericht ist für die Lehrkräfte eine wichtige Hilfe und zugleich eine Entlastung, da sie keine Berichte manuell erstellen müssen.

»In einem einzigen System die Blickbewegungen mittels Webcam zu verfolgen, aus den Blickmustern mithilfe von KI Vorgehensweisen zu erkennen, individuelle Förderung anzubieten und zudem noch Förderberichte für Lehrkräfte automatisiert zu erstellen, ist völlig neu«, sagt Schindler. »Ein solches digitales System für die Förderung mathematischer Basiskompetenzen gab es bisher weltweit noch nicht.«

Ein Ziel im Projekt war es, eine möglichst kostengünstige Lösung für die Schulen zu finden, was durch die Verwendung einer handelsüblichen Webcam möglich wurde. Das Eyetracking mittels einer kleinen Webcam wird in KI-ALF durch die Verwendung von Künstlicher Intelligenz realisiert. Hier lag für Achim Lilienthal, der als Kooperationspartner sein Knowhow in das Projekt einbrachte, eine besondere Herausforderung: »Es gibt Eyetracker, die sehr genau arbeiten, dabei aber viele Tausend Euro kosten. Webcams erreichen diese Genauigkeit nicht«, erläutert der Robotik-Spezialist aus München. »Um die höhere Abweichung der Webcams auszugleichen, justieren wir das Eyetracking automatisch nach.« Dafür nutzen die Forschenden die Künstliche Intelligenz, die dafür sorgt, dass das System lernt, mit der Ungenauigkeit umzugehen.

Ein Drittel hat Förderbedarf

Die KI interpretiert zudem die aufgezeichneten Blickbewegungen bei der Aufgabenbearbeitung. »Je nach Aufgabe ergeben sich bestimmte Blickmuster, die digital gespeichert werden. Die Künstliche Intelligenz klassifiziert diese Muster«, sagt Lilienthal. Für das aktuelle System haben die Entwickler*innen die Software bereits mit hunderten von Eyetracking- Daten gefüttert, die sie im Einsatz der Software gewonnen haben.

An der Gesamtschule Wulfen hatte ein standardisierter Mathematikleistungstest bei 180 Schüler*innen zu Beginn der Klasse 5 ergeben, dass etwa ein Drittel von ihnen ›Rechenschwierigkeiten‹ hat. »Wir freuen uns, dass wir mithilfe des KI-basierten Lernsystems jetzt deutlich mehr Kinder als vorher in ihren mathematischen Basiskompetenzen fördern können«, sagt Schulleiter Hermann Twittenhoff. »Dadurch können wir mehr Lernenden bei der Verbesserung der Mathematikleistungen helfen, als wir es mangels Lehrkräften bisher konnten.«

Während das KI-ALF System bereits an der Gesamtschule Wulfen im Einsatz ist, wird das Forschungsteam weiter daran arbeiten. »Wir haben nun ein System, das im Einsatz in der Schulpraxis funktioniert und selbstständig von Lehrkräften bedient werden kann. Nun möchten wir es weiterentwickeln. Dabei gehen technische und inhaltliche Entwicklungen Hand in Hand«, so Schindler. »Die immer neuen Möglichkeiten von KI und technischen Aspekten ermöglichen es beispielsweise, das System noch genauer und stabiler zu machen – was für einen großflächigen Einsatz von KI-ALF von großem Vorteil ist«, ergänzt Lilienthal. 

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