Gewalt an Schulen ist ein emotional aufgeladenes Thema. In hitzigen öffentlichen Debatten wird sie auch mit ethnischer Herkunft in Verbindung gebracht. Bedeutet Vielfalt an Schulen mehr Gewalt? Ist Integration ein Garant für Gewaltfreiheit? Eine soziologische Studie an der Uni Köln ist diesen Fragen nachgegangen – mit überraschenden Ergebnissen.
»Katrin wartet mittags an der Bushaltestelle auf den Bus. Sie hört Musik auf ihrem iPod. Plötzlich spricht sie ein Mädchen an und sagt: »Mach die Musik leiser!« Stell Dir vor, Du bist Katrin und sollst die Musik leiser machen. Würdest Du das Mädchen dann schubsen oder schlagen?«
Nur elf Prozent der befragten Jugendlichen, denen dieses Szenario vorgelegt wurde, antworteten auf die Frage, ob sie das Mädchen in dieser Situation schlagen würden, mit ja. Für den Soziologie- Professor Clemens Kroneberg ist das keine Überraschung. Er sagt: »Bei solchen niedrigschwelligen Provokationssituationen sind die wenigsten Jugendlichen gewaltbereit. Bei stärkeren Provokationen – etwa, wenn man wiederholt und scheinbar grundlos geschubst wird, so dass man auf den Boden fällt – antworten dagegen 44 Prozent mit ja. Neben der Stärke der Provokation spielen aber auch die Einstellungen der Jugendlichen sowie das Schulklima eine Rolle für die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen.«
Die fiktive Situation an der Bushaltestelle stammt aus einem Fragebogen, mit dem Soziologinnen und Soziologen der Uni Köln Schülerinnen und Schüler der 7. Jahrgangsstufe an 39 Sekundarschulen im Ruhrgebiet befragt haben. Um die Entwicklung der Jugendlichen untersuchen zu können, folgten über den Studienzeitraum von 2013 bis 2016 jährlich weitere Befragungen bis zur 10. Jahrgangsstufe. Damit wollten Kroneberg und sein Team dem Phänomen der Jugendgewalt an Schulen auf den Grund gehen. Dahinter steht das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Forschungsprojekt »Freundschaft und Gewalt im Jugendalter«.
Formen der Gewalt
Die Jugendlichen berichteten in den Befragungen von Gewaltdelikten innerhalb und außerhalb der Schule. In der Befragung in der 9. Jahrgangsstufe, an der sogar 46 Schulen teilnahmen, gaben 54 Prozent der Jugendlichen an, selbst schon einmal in ihrem Alltag Gewalterfahrungen gemacht zu haben: Als Opfer 47 Prozent, als Täter 31 Prozent. Diese Erfahrungen umfassten Körperverletzung mit oder ohne Einsatz einer Waffe, Raub oder Nötigung, also zum Beispiel jemandem Gewalt anzudrohen, damit er oder sie tut, was man will. Ein besonderer Fokus der Studie lag jedoch auf Gewaltbeziehungen innerhalb der Schule. Die Jugendlichen berichteten sowohl von verbalen Angriffen und sozialem Ausschluss als auch von physischer Gewalt gegenüber Mitschülerinnen und Mitschülern in Form von Schlagen oder Treten.
Insgesamt scheint psychische Gewalt im Schulkontext verbreiteter zu sein als körperliche, berichtet Kathrin Lämmermann, die zur Erhebung, Aufbereitung und Analyse der Daten beigetragen hat. Sie sagt: »Freundschaften überwiegen deutlich gegenüber physischen Gewaltbeziehungen. Das gilt jedoch nicht für psychische Gewalt, wie zum Beispiel einen Mitschüler zu beleidigen oder zu ärgern.« So gaben in der 7. Jahrgangsstufe 53 Prozent der Schülerinnen und Schüler an, einen oder mehrere Mitschüler aus der gleichen Jahrgangsstufe manchmal zu beleidigen oder zu ärgern – wohingegen 23 Prozent der Schülerinnen und Schüler angaben, manchmal Mitschüler zu schlagen und zu treten.
Beide Arten von Gewaltbeziehungen in der Jahrgangsstufe nahmen mit zunehmendem Alter der Schülerinnen und Schüler deutlich ab. Bis zur 10. Jahrgangsstufe fiel der Anteil der Täter von 53 Prozent auf 27 Prozent (physische Gewalt) beziehungsweise von 23 Prozent auf 8 Prozent (psychische Gewalt). Dies bestätigt sich auch durch die Angaben aus Opferperspektive.
Das Klassenklima kann Gewalt fördern oder verhindern
Ein wichtiger Faktor für die Gewaltbereitschaft der Jugendlichen ist der Studie zufolge auch das Klassenklima. So ließ sich in weiteren Analysen zeigen, dass in einem gewaltförderlichen Klassenklima selbst schwache Provokationen von gewaltbejahenden Jugendlichen als Gelegenheit zum Statusgewinn genutzt werden. Und in einem solchen Klima sehen sich auch eigentlich friedfertige Jugendliche veranlasst, auf starke Provokationen mit Gegengewalt zu reagieren.
Doch welche Faktoren müssen zusammenkommen, damit das Klassenklima überhaupt als gewaltförderlich gilt? »Hierfür sind die moralischen Empfindungen und Einstellungen der Schülerinnen und Schüler entscheidend«, sagt Professor Kroneberg. Die große Mehrheit der befragten Jugendlichen lehnt Gewalt moralisch ab. Zum Beispiel findet es zwar immerhin ein Viertel der 15-jährigen Befragten »überhaupt nicht schlimm« oder »nicht schlimm«, wenn ein Gleichaltriger einen Jugendlichen schlägt, der etwas Gemeines sagt, aber nur rund sieben Prozent finden es (überhaupt) nicht schlimm, einen Mitschüler so zu schlagen, dass er oder sie blutet. Selbst unter den Jugendlichen, die Gewalt schlimm finden und moralisch ablehnen, gibt es aber eine Tendenz, Gewalt als Mittel zum Respekter halt zu akzeptieren. Diese Sichtweise wird auch als »Code of the Street« bezeichnet. In Schulkassen, in denen Gewalt als Mittel des Respekterhalts stärker akzeptiert ist, scheint es aus Sicht vieler Jugendlicher notwendig zu sein, auf Provokationen gewalttätig zu reagieren, um zu vermeiden, selbst zum Opfer zu werden.
Code of the Street
Mit dem »Code of the Street« sind Aussagen gemeint, die Gewalt als Mittel zum Respekterhalt befürworten. Die Soziologen ermittelten den Grad der Zustimmung zu gewaltlegitimierenden Normen anhand der Bewertung entsprechender Aussagen. Wer also beispielsweise zustimmt, dass man sich mit Gewalt verteidigen sollte, wenn man respektlos behandelt wird, stimmt dem »Code of the Street« zu.
Gewalt findet vermehrt innerhalb von Freundesgruppen statt
Die Studie zeigt auch, dass die viel diskutierte Rolle der ethnischen Herkunft für Jugendgewalt differenzierter betrachtet werden muss, als es in vielen öffentlichen Debatten derzeit der Fall ist. Dabei stellt die neue Kölner Studie nicht nur gesellschaftliche Vorurteile, sondern teilweise auch den bisherigen Stand der Wissenschaft infrage.
Bisherige Forschungsarbeiten hatten beobachtet, dass in Schulen mit ethnisch getrennten Freundschaftsnetzwerken mehr körperliche Gewalt auftritt. Dies wurde als Zeichen dafür interpretiert, dass ethnische Gruppen miteinander eher in Konflikt geraten – also gewissermaßen um die Vorherrschaft auf dem Schulhof kämpfen. Ferner führe der Mangel an interethnischen Freundschaften zu stärkeren gegenseitigen Feindbildern. Die Ergebnisse der neuen Studie zeigen jedoch, dass in der 7. Jahrgangsstufe der überwiegende Teil der Gewaltakte an den untersuchten Schulen nicht zwischen, sondern innerhalb der getrennten Freundesgruppen stattfindet. Zwanzig Prozent aller Gewaltbeziehungen ereignen sich sogar direkt zwischen Freunden.
Professor Kroneberg sieht in diesem Ergebnis ein Beispiel für das sogenannte Integrationsparadox: Es besagt, dass mehr Konflikte sichtbar werden, je stärker und erfolgreicher ethnische Minderheiten integriert sind. Denn diese Gruppen beanspruchten dann zunehmend mehr Anerkennung.
Integrationsparadox
Die These vom erhöhten Konfliktpotential durch gelungene Integration beleuchtet Integrationsprozesse und gesellschaftliche Entwicklungen von einer neuen Seite. Der international seit einigen Jahren diskutierte Zusammenhang ist hierzulande durch das Buch »Das Integrations- Paradox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt« von Aladin El-Mafaalani einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden.
Konflikte können daher nicht nur ein Zeichen von Problemen, sondern auch des erreichten Integrationsfortschritts sein. »Wenn es in Schulen mehr Gewalt zwischen Kindern oder Jugendlichen verschiedener ethnischer Herkunft gibt, dann ist das eher an solchen Schulen, in denen die Gruppen durchmischt sind – auch innerhalb der Freundesgruppen«, sagt Kroneberg. Es wäre daher falsch, einzelne Vorfälle inter-ethnischer Gewalt oder Anstiege von Schulgewalt vorschnell als Folge ethnischer Vielfalt und interethnischer Spannungen zu deuten. Die Studie hat vielmehr gezeigt, dass Gewalt zwischen Schülern unterschiedlicher ethnischer Herkunft eher die Ausnahme ist. Vor allem in Schulen, in denen ethnische Gruppen überwiegend unter sich bleiben, also untereinander befreundet sind, findet Gewalt laut Kroneberg und seinem Team eher innerhalb als zwischen diesen Gruppen statt.
»Eigentlich leben wir in vergleichsweise friedlichen Zeiten«
Generell zeigen die Ergebnisse des Kölner Forschungsteams, dass man gerade in der Debatte um Gewalt an Schulen aussagekräftige Daten braucht und diese nüchtern analysieren muss. Interessanterweise gibt es nämlich eine starke Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Faktenlage: Viele haben laut Kroneberg das Gefühl, in besonders gefährlichen und gewalttätigen Zeiten zu leben. Was die Fakten angeht, ist die Gewalt in den meisten westlichen Gesellschaften aber rückläufig. Die Erklärung des Soziologen: »Da Gewalt bei uns gesellschaftlich ein Tabu ist, ziehen mediale Berichterstattungen über Gewalttätigkeiten viel Aufmerksamkeit auf sich. Historisch betrachtet leben wir aber eigentlich in vergleichsweise friedlichen Zeiten«.
Freundschaft und Gewalt im Jugendalter (FUGJ)
Professor Dr. Clemens Kroneberg vom Institut für Soziologie und Sozialpsychologie leitet das Projekt »Freundschaft und Gewalt im Jugendalter« (Laufzeit: 2013–2020), das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird. Im Mittelpunkt des Forschungsvorhabens steht die Erklärung der Entwicklung, Aufrechterhaltung und Beendigung von Gewalthandeln bei Jugendlichen. Warum werden manche Jugendliche Opfer oder Täter von Gewalt? Wie lässt sich erklären, dass manche Jugendliche nur sp oradisch zu Gewalt greifen, während andere wieder und wieder auffällig w erden und sich zu sogenannten »Intensivtätern« entwickeln? Welche Möglichkeiten bestehen, Gewalt bereits im Vorfeld zu verhindern? Der Hauptfokus des Projekts liegt dabei auf zwei bekannten Bedingungsfaktoren von Gewalt: Der Zustimmung zu gewaltlegitimierenden Normen und der Freundesgruppe. Kooperationspartner ist unter anderen die Peterborough Adolescent and Young Adult Development Study (PADS+) der Cambridge Universität.
Zur englischprachigen Open-Access-Publikation: https://doi.org/10.1016/j.socnet.2019.04.004