Natalie Geese steigt zusammen mit ihrem Hund in den Stadtbus und fragt die Fahrerin: „Welche Linie ist das?“ – „Steht doch draußen dran“, antwortet die erstaunt. Geese kennt solche Missverständnisse gut. Seit ihrer Geburt ist sie blind. Ihre Hündin Nellie begleitet sie deshalb durch den Alltag. Blindenführhunde geleiten ihre Besitzer unbeschadet von einem Ort zum anderen. Doch mit Buslinien können sie genauso wenig anfangen wie mit Straßenschildern oder Ampelfarben. Ob Blindenstock, tierische oder menschliche Begleiter – jedes Hilfsmittel für Blinde hat nicht nur seine Vor- und Nachteile, sondern sagt auch etwas über die Nutzer aus. Geese hat die Mobilitätsassistenzen deshalb zum Thema ihrer Dissertation gemacht. Die Soziologin will herausfinden, wie sich die Hilfsmittel auf die Beziehung zwischen ihren Nutzern und anwesenden Dritten auswirken und wie die Reaktionen Dritter die Hilfsmittelnutzung beeinflussen. Sie promoviert bei der Kölner Professorin für Disability Studies Anne Waldschmidt. Die Ergebnisse des Forschungsprojekts könnten Einfluss auf das Design technischer Hilfsmittel haben. Außerdem sieht Geese eine Chance, dass die soziale Interaktion mit Sehenden stärker bei der Ausbildung von Führhunden berücksichtigt wird.
Über Hunde ergeben sich ganz andere Gespräche als über einen Langstock
Mobilitätsassistenten unterscheiden sich in ihrer Anwendung stark voneinander. Der Langstock etwa zeigt nur Hindernisse an, die direkt vor einem sind. Im Gegensatz zum Führhund gibt er aber keinen Hinweis darauf, ob man rechts oder links daran vorbeigehen soll. In komplexen Situationen können vor allem Menschen weiterhelfen. Sie sind in der Lage, Straßenschilder zu lesen, Auto zu fahren und sich eigenständig Wege zu erarbeiten. Unterschiede bestehen aber auch in der Wirkung der Hilfsmittel auf andere Menschen. „Der Langstock ist ein Symbol für Blindheit. Er zeigt, dass eine Person blind ist und sonst nichts“, sagt Geese. „Mit einem Führhund hat man dagegen auch etwas mit anderen Hundehaltern gemeinsam. So kann die Behinderung in den Hintergrund treten. Über Hunde ergeben sich ganz andere Gespräche als über einen Langstock. Ich habe noch niemanden getroffen, mit dem ich mich über meinen Blindenstock unterhalten habe.“
Prinzipiell können alle blinden oder hochgradig sehbehinderten Menschen einen Führhund von der Krankenkasse finanziert bekommen. Zahlen darüber, wie viele Führhunde in Deutschland im Einsatz sind, gibt es nicht. Geese würde auch nicht jedem zu einem Führhund raten, denn hierbei komme es auf eine gute soziale Bindung zwischen Tier und Mensch an: „Ein Hund ist ein Lebewesen. Man muss schon tierlieb sein. Wenn nur die Assistenz im Mittelpunkt steht, würde ich davon abraten.“ Auch für sie gibt es Situationen, in denen sie die Hilfe von sehenden Begleitern benötigt – gerade wenn sie in einer unbekannten Umgebung unterwegs ist und ihr Hund den Weg nicht kennt.
Das Smartphone ist die wichtigste Innovation der letzten Jahre
Die Spuren von Assistenzen für Blinde reichen bis in die Antike zurück, doch die Quellenlage ist sehr dünn. Am bekanntesten ist ein Wandgemälde aus Herculaneum aus dem ersten Jahrhundert nach Christus. Auf dem Bild, so lautet zumindest eine Interpretation, ist ein Blinder mit einem Führhund zu sehen. Die erste Schule für eine strukturierte Ausbildung von Blindenführhunden wurde vor hundert Jahren in Deutschland gegründet. In den letzten Jahrzehnten haben jedoch vor allem technische Entwicklungen den Alltag von Blinden erleichtert. Die wic tigste Innovation seit dem Internet und der Sprachausgabe ist ganz klar das Smartphone. „Gerade weil es nicht nur ein Hilfsmittel für Blinde ist, wird man dadurch nicht direkt als behindert markiert“, so Geese. Trotzdem wundert sich die Soziologin, dass etwa bei Facebook in Gruppen für Blinde fast nur noch über neue Apps diskutiert wird. So praktisch die kleinen Geräte auch sind, sie glaubt nicht daran, dass Smartphones eines Tages Langstock, Führhund und sehende Helfer in allen Situationen ersetzen werden. Für ihr Dissertationsprojekt fokussiert die Doktorandin auf einen ganz konkreten und alltäglichen Vorgang: In einer qualitativen Erhebung will sie herausfinden, wie sich die verschiedenen Hilfsmittel beim Einkaufen auf soziale Interaktionen auswirken. „Einkaufen ist für so gut wie jeden Menschen relevant und hat nichts mit speziellen Interessen zu tun“, sagt Geese und zählt im weiteren Sinne nicht nur das Bezahlen an der Kasse dazu, sondern etwa auch den Weg von der Wohnung zum Geschäft oder das Warten an einer Bushaltestelle. Neben einer Selbstbeobachtung mit unterschiedlichen Hilfsmitteln führt sie Interviews mit anderen Blinden und greift zudem auf Erfahrungsberichte zurück, wie sie zum Beispiel in Blogs veröffentlicht sind. Da die Forscherin selbst blind ist, nimmt sie sowohl die Nutzung der Hilfsmittel als auch die soziale Interaktion anders wahr als Sehende. „Ich habe mehrere Studien über Führhunde gelesen, in denen sehende Beobachter die Kommunikation zwischen Blinden und ihren Hunden untersuchen. Hier besteht immer die Problematik, dass zu sehr auf das Visuelle geachtet wird und das Hören und Fühlen hintenüberfällt.“
Ein Hilfsmittel bringt nichts, wenn man es nicht nutzen darf
Die Nutzung von Hilfsmitteln für Blinde ist unter anderem durch das Behindertengleichstellungsgesetz geregelt. Führhunde etwa dürfen in öffentlichen Gebäuden mitgenommen werden. Trotzdem kommt es immer wieder zu Kontroversen, wenn zum Beispiel in einer Arztpraxis die Hygiene als Argument gegen Führhunde herangezogen wird. „Ein Hilfsmittel bringt nichts, wenn man es nicht nutzen darf“, betont Geese und sieht deshalb auch die Notwendigkeit eines intensiven Dialogs zwischen Sehenden und Blinden: „Nur wenn alle wissen, wie wertvoll die Hilfsmittel sind, erhalten sie die entsprechende Akzeptanz.“ Gesetzliche Regelungen allein sind der Doktorandin deshalb zu wenig. Mit ihrer Dissertation möchte sie dazu beitragen, dass Hilfsmittel für Blinde auch über den Langstock hinaus ein Stück selbstverständlicher in der Gesellschaft werden.