Männlichkeit auf dem Prüfstand
Spektakuläre Gewaltverbrechen sorgen immer wieder für mediales Aufsehen. Die Täter sind meist Männer. Warum sie häufiger Gewalt anwenden als Frauen ist unklar, doch Forderungen nach einem Verhaltenswandel werden lauter. Geraten Männer dabei zu Unrecht unter Generalverdacht?
Eva Schissler & Jan Voelkel
Im Frühjahr gingen die Hashtags #reclaimthestreets und #haveyouarrivedhome bei Twitter viral. Was auf den ersten Blick als eine Anspielung auf die anhaltende Pandemie und das Leben im Lockdown verstanden werden könnte, hatte tatsächlich einen anderen Hintergrund: den Fall der 33-jährigen Britin Sarah Everard, die auf ihrem abendlichen Weg von einer Freundin nachhause mitten in London entführt und später vergewaltigt und getötet worden war. Unter den Hashtags erzählen Frauen von ihren Erlebnissen, wenn sie allein im Dunkeln unterwegs sind.
Etliche Userinnen berichten davon, dass sie als Sicherheitsmaßnahmen einen längeren, besser beleuchteten Weg gehen, die Straßenseite wechseln, den Schlüssel zur Verteidigung immer griffbereit halten oder mit Freunden telefonieren, bis sie zuhause angekommen sind. Damit immer jemand weiß, wo sie sich gerade aufhalten. Auch Everard hatte »Sicherheitsmaßnahmen« eingehalten und mit ihrem Freund telefoniert, aber das hat sie nicht gerettet. Einige Tage nach dem Fund ihrer Leiche war ein dringend tatverdächtiger Polizist festgenommen worden. Mittlerweile hat er gestanden.
Sollen Frauen besser zuhause bleiben?
Neben den virtuellen Hashtags formierte sich auch in der analogen ÖffentlichkeitProtest. Frauen und Männer organisierten Mahnwachen, gingen auf die Straße, protestiertengegen Gewalt gegen Frauen und sexualisierte Gewalt im Allgemeinen.
Ein Grund dafür lag auch im Umgang der Behörden mit dem Fall, denn nach der Tat hatte die Polizei Frauen zunächst geraten, nachts nicht mehr alleine nach Hause zu gehen. Das sorgte für Empörung, denn warum sollten die Frauen ihr Verhalten ändern? Das roch zu sehr nach einer Abwälzung der Schuld auf die Opfer. Protestierende und Aktivist:innen forderten stattdessen darüber zu sprechen, warum Männer so viel häufiger Gewalttaten verüben als Frauen. Sie, so die Forderung, sollten sich ändern, damit Frauen sich auch nachts auf den Straßen sicher fühlen können.
Tatsächlich begehen in fast allen Ländern der Welt Männer sehr viel häufiger Verbrechen – besonders Gewaltverbrechen – als Frauen. Die Polizeiliche Kriminalstatistik belegt auch für Deutschland ein drastisches Missverhältnis zwischen den Geschlechtern: 2020 waren von etwas unter 2 Millionen Tatverdächtigen fast 1,5 Millionen Männer, also knapp 75 Prozent. 2018 war der Anteil bei 85 Prozent sogar noch höher.
Was macht Männer anfälliger für Gewalt? »Eine einfache Antwort gibt es nicht. Die Forschung dazu steht noch vor vielen Fragen «, sagt Dr. Nicole Bögelein vom Institut für Kriminologie der Rechtswissenschaftlichen Fakultät. Frühere Forschung habe nicht so sehr danach gefragt, warum die Kriminalitätsrate von Männern höher ist. Es galt eher zu erklären, warum die der Frauen nicht der männlichen »Norm« entspricht.
Die Rolle der Biologie ist umstritten
Bis in die 1970er Jahre hinein waren biologistische Erklärungsmodelle für die niedrigere Frauenkriminalität verbreitet. Sie gingen oft von einem eher friedlichen Wesen von Frauen aus oder unterstellten ihnen schlichtweg mangelnde Intelligenz. Die sogenannte Ritterlichkeitsthese postulierte ab den 1950er Jahren, dass kriminelle Frauen eher nicht strafrechtlich verfolgt würden, da die damals meist männlichen Strafverfolger bei ihnen ein Auge zudrücken würden. Eine andere These besagte, dass sich das weibliche Kriminalitätsniveau mit fortschreitender Emanzipation an das der Männer angleichen würde. »Das alles hat sich nicht bewahrheitet. Über die vergangenen 100 Jahre begehen Frauen relativ stabil ungefähr ein Viertel der offiziell erfassten Verbrechen«, sagt Bögelein. Dieser Prozentsatz sinkt noch mit der Deliktschwere: Nur fünf Prozent aller Strafgefangenen sind Frauen. Außerdem gibt es kaum Wiederholungs- oder Intensivtäterinnen.
Liegt es also doch an der Biologie, dass Männer öfter gewalttätig werden? Eine gesellschaftlich häufig bemühte Erklärung kreist um Testosteron, das vermeintlich aggressiv machende männliche Sexualhormon. Kriminologische Studien zur Rolle von Testosteron sind Bögelein zufolge jedoch nicht eindeutig. Manche Studien stellen einen Zusammenhang her, andere nicht. »Der Knackpunkt dabei ist, dass bisher niemand genau sagen kann, ob erhöhte Testosteronwerte eine Ursache oder eine Folge von Gewalt sind«, sagt die Soziologin. Auch haben die meisten Studien den Testosteronwert im Blut der Probanden gemessen. Die im Gehirn vorhandene Menge, die Gefühle und Verhalten beeinflussen kann, wurde dabei nicht erfasst. Daher seien die Ergebnisse wenig aussagekräftig. Und dennoch: Testosteron hat keinen guten Ruf und dient als populäre Erklärung für männliche Aggression.
Frauenhass als Motiv
Seitdem immer mehr Frauen verantwortliche, gut sichtbare Positionen in Politik und Gesellschaft einnehmen, nimmt auch die Hasskriminalität gegen sie zu. Besonders im Internet und in den sozialen Medien erleben viele von ihnen sexistische Beleidigungen und sexualisierte Gewaltandrohungen. Diese Form von Kriminalität wird derzeit noch nicht in einer eigenen Statistik erfasst, sondern zählt als »Beleidigung« oder »Drohung«. Ähnliche Straftaten werden auch aus rassistischen Motiven begangen und deuten auf ein in Teilen der Gesellschaft verbreitetes, unterschwelliges Klima der Geringschätzung dieser Gruppen hin. Seit dem 3. April 2021 ist ein neues Gesetzespaket zur Bekämpfung von Rechtsradikalismus und Hasskriminalität in Kraft, das die sozialen Netzwerke dazu verpflichtet, derartige Texte nicht nur zu löschen und die Accounts zu sperren, sondern die Straftaten auch dem Bundeskriminalamt zu melden.
Liegt es vielleicht am Gehirn? Ticken Männer einfach anders? Im Durchschnitt ist das männliche Gehirn ungefähr 100 Gramm schwerer. MRT-Bilder und anatomische Schnitte zeigen allerdings keine visuellen Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen. Sie sind im Wesentlichen gleich aufgebaut. In einigen Hirnstrukturen bestehen zwar Unterschiede, sie sind aber als Hinweise für eine männliche Gewaltvorhersage nicht geeignet. »Anatomische Strukturen können keine Auskunft über neuronale Vernetzungen geben«, sagt Professor Dr. Josef Kessler von der Klinik und Poliklinik für Neurologie. »Des Weiteren sagen sie weder etwas darüber aus, wie die Mechanismen im Gehirn interagieren und gesteuert werden, noch geben sie Hinweise über die sogenannte neuronale Plastizität – also wie sich das Gehirn im Laufe des Lebens verändert und warum manche Menschen etwa gewaltbereiter sind als andere.« Man kann festhalten: Es gibt kein stereotypes männliches oder weibliches Gehirn.
Auch die Rolle der Gene ist dem Mediziner zufolge noch nicht hinreichend erforscht: Zwar existieren bei Männern Genomvarianten, die die gewaltfördernden Überträgerstoffe Serotonin und Dopamin in erhöhtem Maße produzieren. Doch insgesamt gebe es aus neurowissenschaftlicher Sicht keine zufriedenstellende Antwort auf die Frage nach der Ursache der Gewaltneigung von Männern. Kessler sieht sie also nicht als irgendeiner »Natur« willenlos ausgeliefert an: »Nicht nur das Gehirn prägt unser Verhalten, sondern unser Verhalten moduliert auch das Gehirn.«
Gewalt kann auch eine Ressource sein
Der Historiker Olaf Stieglitz ist Koautor einer Geschichte der Männlichkeiten und beobachtet die Debatte schon länger: »Das Interessante bei den biologischen Argumenten ist, dass sie nach wie vor im öffentlichen Diskurs unglaublich populär sind und auf den ersten Blick auch funktionieren.« Eine biologische Erklärung suggeriere etwas Archaisches und Unumstößliches: Männer sind halt so. Gewalttätigkeit ist in ihnen verankert und ein Mittel, die eigene Dominanz zu sichern. Schon Neandertaler haben die Keule geschwunden, die Wikinger haben sich gegen Feinde mit Gewalt verteidigt, scheinbar zieht sich das wie ein roter Faden durch die Geschichte. »Das ist wissenschaftlich schwer haltbar oder sehr verkürzt«, sagt Stieglitz. Stattdessen scheint die Rolle, die Gewaltausübung und Dominanzverhalten in Gesellschaften spielt, entscheidend zu sein.
Die australische Soziologin Raewyn Connell hat hierzu die Theorie der hegemonialen Männlichkeit geprägt. Auch Nicole Bögelein ist überzeugt, dass sie eine wichtige Erklärung für die Überzahl männlicher Gewaltverbrecher liefert. Die Theorie besagt, dass Gewalt eine bestimmte gesellschaftliche Position herstellen und sichern kann. Dabei dient männliches Gewalthandeln gegenüber Frauen einerseits dazu, die männliche Dominanz im Geschlechterverhältnis zu sichern und Kontrolle über Frauen auszuüben. Andererseits richtet sich Gewalt aber auch gegen andere Männer und wird dazu eingesetzt, sich der eigenen Männlichkeit zu versichern. Gewalt von Frauen oder Mädchen kann dabei, wenn nicht direkt als Notwehr, so doch als Aufbegehren gegen diese Dominanz verstanden werden.
Hegemoniale Männlichkeit – Die Theorie von geht von einem Begriff von Männlichkeit aus, der eine bestimmte gesellschaftliche Rolle und eine Position im Machgefüge markiert. Sie identifiziert verschiedene Formen von Männlichkeit: Neben der hegemonialen existieren demnach auch marginalisierte und unterdrückte Formen von Männlichkeit, die etwa Angehörigen gewisser Ethnien oder Homosexuellen zugeschrieben werden. Sie spielen – wie auch Frauen – im gesellschaftlichen Machtgefüge eine untergeordnete Rolle.
»Der Wettbewerbscharakter, der in der männlichen Sozialisation an so vielen Punkten eine Rolle spielt, ist in diesem Zusammenhang wichtig«, sagt Stieglitz. »Sei es in der Peer Group, im Sportverein oder auch in der Schule, der Familie oder im Job. Jungen und Männer wurden historisch in vielen Feldern mit diesem Wettbewerbsgedanken stärker konfrontiert als Frauen.« Es geht darum, sich zu beweisen und durchzusetzen. Im Sport passiert dies innerhalb eines festgelegten Regelwerkes, das man austestet und das Fehlverhalten, etwa ein Foul im Fußball, sanktioniert. In anderen Kontexten sei es bis zur Transgression – also dem Übertreten in gewalttätige Handlungen – nicht mehr ganz so weit, meint der Historiker. »Auch soziokulturelle Aspekte können zu Gewalt führen. Wenn man sie in den Mix hineinnimmt, um eine Erklärung für die empirische Häufung männlicher Gewalt zu finden, ist die omnipräsente biologistische Erklärung eigentlich kein so großer Faktor mehr.«
Alte und neue Männerideale prallen aufeinander
Die Kategorie »Männlichkeit«, das ist in den vergangenen Jahren immer klarer geworden, ist nicht so stabil, wie sie auf den ersten Blick erscheint – weder in gesellschaftlicher noch in biologischer Hinsicht. Tatsächlich unterliegt unser Verständnis davon, was männliches Verhalten ausmacht, kulturell und historisch einem stetigen Wandel. In den 1990er und 2000er Jahren waren neue Männlichkeitsbilder auf dem Vormarsch. Natürlich gab es auch noch das Bild des klassischen Machos. »Der vorherrschende Tenor war in diesen Dekaden aber, dass Männlichkeit empathisch und teamfähig werden muss«, so Stieglitz. »Und dann kam dieser Umschwung oder das Widererstarken der ›dominanten Männlichkeit‹, die sich in ihrer extremen Ausprägung an Figuren wie Trump, Putin und Bolsonaro manifestiert.«
Gleichzeitig formiert sich auch deutliche Kritik, wie Debatten um #MeToo oder »toxische Männlichkeit« zeigen. Dabei sind die Gemüter oft erhitzt, denn Gleichberechtigung werde von denjenigen, die Privilegien innehaben, in erster Linie als Verlust dieser Privilegien wahrgenommen. »Dann gibt es einen Konflikt«, sagt der Historiker. »Das ist bei Genderthemen so, das ist bei ›Race‹ so, das ist bei Klassenverhältnissen so gewesen.« Gleichzeitig hat sich in den letzten vierzig Jahren viel getan. Das Männlichkeitsbild hat sich aufgefächert und bietet nicht mehr nur die eine Option an, ein »echter Mann« zu sein. Olaf Stieglitz ist überzeugt: »Das ist unumkehrbar.«
Verhaltensänderungen mit Augenmaß
Dass kontroverse Debatten nicht leicht zu führen sind, liegt auf der Hand. Wenn dann auch Emotionen ins Spiel kommen und Themen verhandelt werden, die das tiefe Verständnis unserer (Geschlechts-)Identitäten betreffen, verkompliziert dies die Sache noch einmal. An der Diskussion um »toxische Männlichkeit« wird dies besonders deutlich. Kritiker:innen monieren eine vergiftete Debattenkultur, in der Männer per se als problematische Wesen abgestempelt werden. »Es hilft, einander offen zuzuhören. Denn der Begriff der toxischen Männlichkeit meint eigentlich das Gegenteil von: das betrifft alle Männer, beziehungsweise alle Männer sind Gewalttäter«, resümiert Stieglitz. Es gehe vielmehr um ein bestimmtes Bild von Männlichkeit und bestimmte Verhaltensweisen, die kritisiert werden. »Wenn man den Stimmen von Frauen, marginalisierten männlichen oder diversen Minderheiten in der Debatte tatsächlich zuhört, wird man feststellen, dass es nicht um einen Generalverdacht geht.«
Wie steht es also mit der Forderung, dass Männer nachts die Straßenseite wechseln sollten, wenn ihnen eine Frau entgegenkommt? Die Kriminologin Nicole Bögelein sieht das skeptisch: »Wenn spektakuläre Einzelfälle wie der Mord an Sarah Everard zu einem Exempel gemacht werden, instrumentalisiert das die Opfer und Hinterbliebenen für breitere gesellschaftliche Interessen. Das kann sie zusätzlich viktimisieren.« Natürlich können solche Einzelfälle der Auslöser einer Debatte sein, allerdings sollten dadurch nicht die gesamtgesellschaftlichen Probleme im Umgang mit Gewalt verkürzt dargestellt werden. Denn im Endeffekt betrifft Gewalt Männer und Frauen. Bögelein: »Tatsächlich sind statistisch die meisten Opfer von Gewalttaten junge Männer.«
In Bezug auf Gewalt gegen Frauen sollte Gewaltprävention der Soziologin zufolge in erster Linie den Bereich ins Visier nehmen, in dem die meisten Fälle passieren: das häusliche Umfeld. Gerade in der Coronapandemie verzeichnen die Statistiken aller Bundesländer einen Anstieg der häuslichen Gewalttaten. Damit es möglichst gar nicht so weit kommt, sollte schon früher angesetzt werden. Professor Dr. Clemens Kroneberg untersucht Ursachen von Gewalttätigkeit bei Kindern und Jugendlichen – und mögliche Antworten darauf. Der Soziologe leitet das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt »Freundschaft und Gewalt im Jugendalter«. Er ist überzeugt, dass es sinnvoll ist, mit Kindern frühzeitig Empathie und gewaltfreie Konfliktlösungsstrategien einzuüben. Dies sollte auch ein fester Bestandteil des Schulklimas sein. »Man darf jedoch nicht außer Acht lassen, dass später nur etwa 6 Prozent der Jugendlichen 75 Prozent aller Gewaltdelikte begehen. Es braucht daher auch gezieltere Maßnahmen, um potentielle Intensivtäter frühzeitig zu erkennen und in ihrer Entwicklung positiv zu beeinflussen«, sagt Kroneberg. Dafür müssten Schule, Jugendamt und Eltern eng zusammenarbeiten. Und es brauche sowohl positive Entwicklungsangebote als auch klare Grenzen.
Bögelein sieht bei fast allen Straftäter:innen – besonders den gewalttätigen – zudem eine gemeinsame Erfahrung: Sie stammen selbst aus gewalttätigen Lebensverhältnissen und haben in der Kindheit und Jugend oft Gewalt erfahren. Hier anzusetzen verspricht womöglich die größten Präventionserfolge.