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Lebensqualität im hohen Alter

Interdisziplinäre Studie zeigt, dass es Hochaltrigen in NRW im Allgemeinen gut geht.

Älteres Paar tanzt in der Küche

Menschen über 80 sind in Deutschland die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe. Doch die Forschung weiß noch immer recht wenig über sie. Erste Ergebnisse einer interdisziplinären Studie zeigen nun, dass es den Hochaltrigen in Nordrhein-Westfalen im Allgemeinen gut geht. Aber was macht Lebensqualität im Alter überhaupt aus?

Um die Jahrtausendwende lebten in Deutschland knapp drei Millionen Menschen, die 80 Jahre oder älter waren. Seitdem hat sich die Zahl der sogenannten Hochaltrigen fast verdoppelt. Im Jahr 2050 werden sie Schätzungen zufolge in Nordrhein-Westfalen sogar 14,5 Prozent der Bevölkerung ausmachen, das sind 2,1 Millionen Menschen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Cologne Center for Ethics, Rights, Economics, and Social Sciences of Health (ceres) befassen sich in der Hochaltrigenstudie NRW80+ der Universität zu Köln seit 2015 mit dieser Bevölkerungsgruppe, deren Lebensumstände bislang am wenigsten erforscht sind. Vertreterinnen und Vertreter der Disziplinen Soziologie, Gerontologie, Psychologie und Ethik konzipierten die Studie und führten sie gemeinsam durch.

NRW80+
Mit der Studie NRW80+ wurden erstmals repräsentative Aussagen zu Lebensbedingungen, Lebensqualität und subjektivem Wohlbefinden spezifisch im Populationssegment hochaltriger Menschen ermöglicht. Insgesamt 1.863 Personen über 80 Jahre wurden NRW-weit befragt, um ein möglichst umfassendes und lebensnahes Bild zu erhalten. Auf dieser Grundlage können alltagsnahe Konzepte entwickelt werden: Wie kann die medizinische und pflegerische Versorgung hochaltriger Menschen verbessert werden? Wie können wir Lebenswelten in unterschiedlichen städtischen oder ländlichen Regionen so gestalten, dass eine als sinnvoll empfundene Lebensführung und ein hohes subjektives Wohlbefinden möglich sind?

Die zentralen Ergebnisse der Befragung sind bemerkenswert positiv: Die allermeisten Hochaltrigen – erstaunliche 86 Prozent der insgesamt 1.863 befragten Personen – sind mit ihrem Leben zufrieden« oder zumindest »eher zufrieden«. Zudem geben 60,1 Prozent der Befragten an, dass sie ihre Gesundheit als »eher gut« (49,8 Prozent) oder sogar als »sehr gut« (10,3 Prozent) empfinden. Ergänzt wird dieses erfreuliche Bild dadurch, dass mit 66,8 Prozent mehr als zwei Drittel der über 80-Jährigen nicht pflegebedürftig sind. Und auch die weitverbreitete Vorstellung, die meisten sehr alten Menschen seien einsam, ist so nicht zutreffend: Hochaltrige haben durchschnittlich sechs Kontaktpersonen, darunter vorrangig ihre Kinder, (Ehe-)Partner und Enkelkinder.

Den meisten alten Menschen geht es gut

Also »alles gut« bei den Hochaltrigen? Nicht ganz. Trotz der insgesamt hohen Zufriedenheit stellen Depressionen im Alter ein großes Problem dar: Von den vier erfassten depressiven Symptomen (Motivationsverlust, Grübeln, eingetrübte Stimmung und Verlust von Lebensfreude) weist mehr als jede vierte befragte Person (27,2 Prozent) mindestens zwei auf. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung der Gesellschaft ist auch der sogenannte »Digital Divide«, also die relativ geringe Nutzung digitaler Medien alter Menschen im Vergleich zur jüngeren Bevölkerung, Grund zur Besorgnis. Nur 19,6 Prozent der hochaltrigen Personen in NRW nutzen das Internet oder digitale Dienstleistungen. Somit kann die große Mehrheit der Hochaltrigen nicht auf digitale Kommunikationsmöglichkeiten oder Informationsangebote zu Gesundheitsthemen zurückgreifen.

Die empirischen Befunde belegen, dass das Leben auch im hohen Alter sehr vielfältig, und die Lebensqualität der einzelnen Menschen entsprechend unterschiedlich ist. »Überrascht hat uns dabei die Deutlichkeit, mit der sehr alte Männer häufig in günstigeren Lebensumständen leben als sehr alte Frauen«, sagt Dr. Roman Kaspar, der die Studie bei ceres koordiniert. »Sicherlich spielen hierfür traditionelle Rollenverständnisse und niedrigere Renten der Frauen eine bedeutsame Rolle, aber auch Verluste im sozialen Netzwerk.«

Neben den geschlechterspezifischen Unterschieden zeigt die Studie, dass die Zufriedenheit der über 90-Jährigen, bei denen aufgrund der höheren Lebenserwartung auch der Anteil der Frauen überwiegt, deutlich abfällt. Dies gilt auch für die Anzahl der sozialen Kontakte, während die Pflegebedürftigkeit in dieser Altersgruppe erheblich häufiger ist (62,3 Prozent). All dies macht deutlich, wie wichtig es ist, die Ergebnisse differenziert zu betrachten und keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.

Ist Lebensqualität messbar?

Da es für diese Art von Studie nur wenig Vorerfahrungen gab, betraten die Forscherinnen und Forscher von ceres Neuland: »Bisher war es nur eingeschränkt möglich, Aussagen zur Gesamtheit aller hochaltrigen Menschen in NRW zu treffen«, sagt Kaspar. »Wir wollen dazu beitragen, mehr über die Lebensqualität und das Wohlbefinden der über 80-Jährigen zu erfahren.«

Dazu mussten die Forscherinnen und Forscher zunächst einen theoretischen Rahmen entwickeln, mit dem sich Lebensqualität im hohen Alter in all ihren Facetten abbilden lässt: »Wir haben ein breites Verständnis von Lebensqualität zugrunde gelegt, das auch Wertevorstellungen der älteren Menschen und der Gesellschaft, in der sie leben, mit berücksichtigt«, erläutert Kaspar. Dabei betrachteten sie sowohl subjektive als auch objektive Aspekte von Lebensqualität. Auch existenzielle Erfahrungen oder Aufgaben wurden in die Studie einbezogen: Rückblicke auf das eigene Leben oder Ängste vor dem nicht mehr allzu fernen Tod gehören für viele sehr alte Menschen zur Alltagsrealität. Diese Überlegungen flossen in das Modell »Challenges and Potentials Model of Quality of Life in Very Old Age (CHAPOModell)« ein, auf dessen Basis das Team von ceres standardisierte Interviews für den empirischen Teil der Studie entwickelte.

CHAPO-Modell
Im Rahmen von NRW80+ entwickelte das Forschungsteam ein Konzept, das eine theoriegestützte und möglichst umfassende Erhebung der Lebensqualität hochaltriger Menschen erlaubt (CHAPO: Challenges and Potentials). Lebensqualität wird in diesem Modell sowohl gemäß einem objektivistischen (objektive Lebensqualität) als auch einem subjektivistischen Verständnis (subjektives Wohlbefinden) erfasst. Das CHAPO-Modell berücksichtigt dabei die Wechselwirkung zwischen der Umwelt und individuellen Faktoren. Darüber hinaus ermöglicht es drei Ebenen der Analyse: die Ebene der Beschreibung von Lebenssituationen und -bedingungen, die evaluative Ebene der subjektiven Bewertung sowie die normative Ebene gesellschaftlicher Standards und Normen.

Bei den Vorbereitungen für die Befragung überlegten die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, wie auch Hochaltrige in eine allgemeine Bevölkerungsbefragung aufgenommen werden können, die in einem Heim wohnen und deshalb für die Forschung bislang als schwer erreichbar galten. Außerdem wollten sie auch die Lebenssituationen von Menschen, die aufgrund von Beeinträchtigungen nicht selbst an der Befragung teilnehmen können, nicht außen vor lassen. Hier griff das Team auf Stellvertreterinterviews mit ihnen nahestehenden Personen zurück – selbstverständlich nur, wenn die Hochaltrigen damit einverstanden waren. Diese ebenfalls mithilfe eines standardisierten Fragebogens durchgeführten Interviews wurden hauptsächlich mit Kindern oder Partnern der Zielpersonen geführt, in Heimen zudem auch mit professionell Pflegenden.

Auswerten, Wiederholen, Ausweiten – die nächsten Schritte

Aktuell arbeitet das Forschungsteam an der Beschreibung und Auswertung des umfangreichen Datenmaterials. »In den kommenden Monaten werden wir konkrete Handlungsempfehlungen für Verantwortliche aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wie Medien oder Gesundheitsversorgung erarbeiten, indem wir deren Perspektiven mit den Befragungsbefunden abgleichen«, sagt Kaspar. Um eine möglichst breite Nachnutzung der Befragungsdaten auch über das Projekt hinaus zu ermöglichen, wurden sie über das ebenfalls in Köln ansässige GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften für akademische Forschung und Lehre freigegeben. »Wir erwarten uns hierdurch eine schnellere und breitere Rezeption und damit einen höheren Gesamtnutzen der Studie. Daneben bleiben die erarbeiteten Daten auch auf Jahrzehnte hinaus recherchier- und nutzbar«, erläutert der Studienkoordinator.

In Anbetracht der großen Menge an Daten und Ergebnissen vergisst man schnell, dass es sich bei NRW80+ bislang um eine Momentaufnahme handelt. Um weitere Erkenntnisse zu gewinnen, hat das Team in NRW bereits eine zweite Befragungswelle gestartet. Weitere sollen folgen. »Zusammengenommen werden uns diese Ergebnisse helfen, besser zu verstehen, wie sich die Lebenssituation, die Ressourcenlagen, aber auch die Bewertung des eigenen Lebens der befragten Personen verändert«, sagt Kaspar. »Damit können wir mögliche Risikokonstellationen identifizieren sowie Mechanismen zur Stabilisierung und Förderung der Lebensqualität herausarbeiten.«

Auch räumlich wird die Studie ausgeweitet. Die Vorbereitungen für die deutschlandweite Hochaltrigenstudie D80+, die ceres in Kooperation mit dem Deutschen Zentrum für Altersfragen durchführen wird, laufen bereits.

Weitere Informationen: https://ceres.uni-koeln.de/forschung/nrw80/