Kultur für zwei Räder
Radfahren macht Spaß und ist gesund – zu jeder Jahreszeit. Im Winter nutzen Niederländer*innen das Fahrrad allerdings doppelt so häufig wie Deutsche. Warum schwingen wir uns in den Wintermonaten nur selten aufs Rad?
Von Mathias Martin
Ein nasskalter Dezembermorgen, es ist noch dunkel. Der Radweg entlang der Dürener Straße in Köln ist schmal, eine Abgrenzung zum Bürgersteig kaum vorhanden. In der Dunkelheit sind Fußgänger*innen, die plötzlich den Radweg betreten, schwer zu erkennen. Schlimmer noch sind Autofahrer*innen, die aus den Seitenstraßen geschossen kommen, den Radweg queren und Radfahrende dabei gar nicht beachten. Wer einmal im Winter mit dem Fahrrad in Köln unterwegs war, hat solche Situationen wahrscheinlich schon erlebt und verzichtet dann vielleicht künftig auf das Radfahren in der Winterzeit.
Dass in Köln im Winter weniger Rad gefahren wird als im Sommer, zeigen auch die Dauerzählstellen, mit denen die Stadt Köln an 17 Standorten die Zahl der Fahrradfahrer*innen pro Tag ermittelt. An allen Standorten in Köln, mit Ausnahme der Universitätsstraße, sind in den Wintermonaten deutlich weniger Radfahrende unterwegs. So wurden beispielsweise auf der Venloer Straße im Juni 2022 insgesamt mehr als 187.000 vorbeifahrende Radelnde gezählt, im Dezember 2022 gab es dagegen lediglich 122.000 Zählungen.
Dr. Ansgar Hudde vom Institut für Soziologie und Sozialpsychologie ist begeisterter Radfahrer – sogar in Köln. »Kein anderes Verkehrsmittel ist in der Stadt auch nur annähernd so flexibel, günstig und schnell. Dann ist es noch gesund, man sieht etwas von seiner Umgebung und Spaß macht es auch«, sagt der Mobilitätsforscher. Hudde hat für eine vergleichende Fahrradstudie repräsentative statistische Erhebungen zur Mobilität in Deutschland und den Niederlanden ausgewertet und dafür die Daten von 335.000 Wegstrecken herangezogen, die von insgesamt 98.000 Einwohner*innen aus 263 mittelgroßen und großen Städten zurückgelegt wurden. Diese Mobilitätsdaten hat er mit stadtspezifischen Klimadaten verknüpft und gemeinsam analysiert.
Seine Auswertung zeigt, dass in den Sommermonaten von Juni bis August in deutschen Städten 16,7 Prozent aller Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt werden. In den Wintermonaten von Dezember bis Februar sind es dagegen nur 10,3 Prozent der Wegstrecken, für die das Fahrrad genommen wird. »Bereits wenn die Temperatur unter 15 Grad sinkt, wird in Deutschland weniger geradelt«, sagt Hudde. Er selbst ist zu allen Jahreszeiten mit dem Fahrrad unterwegs. Was ihm gegen Kälte hilft: schnelleres Treten. Lediglich bei starkem Regen weicht er auf Nahverkehrsmittel oder Carsharing aus.
Unterschiedliche Prioritäten bei der Verkehrsplanung
Auffallend ist, dass die saisonalen Unterschiede bei der Fahrradnutzung in den Niederlanden nicht so stark ausgeprägt sind wie in Deutschland. Dort wird das Fahrrad generell häufiger genutzt. Im Sommer werden in niederländischen Städten 23,0 Prozent aller Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt. Niederländer*innen verwenden aber selbst in den Wintermonaten noch für 20,5 Prozent ihrer Wege das Fahrrad. Das sind zwei von zehn Wegstrecken, also doppelt so häufig wie die deutschen Nachbarn, die in dieser Jahreszeit nur einen von zehn Wegen mit dem Fahrrad zurücklegen.
Woran liegt es, dass Niederländer*innen im Winter häufiger auf zwei Rädern unterwegs sind als Deutsche? Da die Klimabedingungen zum Radfahren in den Niederlanden und Deutschland ähnlich sind, kann dies den Unterschied nicht erklären. »Die gemeinsame Analyse von Verhaltens- und Klimadaten zeigt: Wir in Deutschland sind empfindlicher, was Kälte und Dunkelheit angeht. Dass Niederländer*innen tendenziell das ganze Jahr radeln und Deutsche eher nur im Sommer, liegt vor allem an unterschiedlichen Mobilitätskulturen«, erläutert Dr. Hudde.
In Deutschland gebe es eine Fahrradkultur, die solche saisonalen Muster widerspiegelt und fördert. Dies zeige sich beispielsweise an dem Begriff »Fahrradsaison«. »Auch Fahrradaktionen wie ›Stadtradeln‹ oder ›Mit dem Rad zur Arbeit‹ finden nur im Sommer statt«, so Hudde weiter. »Sie senden das Signal aus, im Sommer werde geradelt, im Winter eher nicht.«
Die Mobilitätskulturen von Ländern und Städten spiegeln sich auch in der Infrastruktur für das Radfahren wider. Sie setzen bei der Stadtplanung und der Verkehrsinfrastruktur jeweils andere Prioritäten. Eine fahrradorientierte Infrastruktur in der Stadt kann dazu beitragen, dass Menschen ganzjährig das Rad nutzen. Das gelingt, wenn sie die Bedingungen dafür in ihrer städtischen Umgebung nicht als Hindernisse oder negativen Stress, sondern als Unterstützung wahrnehmen und sich dadurch sicher fühlen. Für das Radfahren im Winter ist es beispielsweise wichtig, dass Radwege gut beleuchtet, zügig von Schnee geräumt und gestreut sind.
Fahrräder ernten
Die Niederlande verfolgen seit den 1980er Jahren eine aktive Fahrradpolitik und gelten mittlerweile als Fahrradparadies. In keinem anderen Land der Welt ist das Fahrrad im Alltag wohl so präsent wie dort. Es gibt 23 Millionen Fahrräder für 17,6 Millionen Menschen – der Trend geht zum Zweitfahrrad. Die ökologischen, sozialen und gesundheitlichen Vorteile des Radfahrens werden schon im Schulunterricht erörtert. So wird bereits in jungen Jahren eine Fahrradkultur vermittelt. Niederländische Städte machen vor, wie mit einer fahrradfreundlichen Infrastruktur die Nutzung des Fahrrads unterstützt werden kann – nach dem Motto der Utrechter Stadträtin Lot van Hooijdonk: »Wer für Fahrräder baut, erntet mehr Fahrräder. «
Komfortabel, sicher und schnell soll das Radfahren für die Niederländer*innen sein. Erreicht wird dies durch eine konsequente bauliche Trennung zwischen Rad- und Autoverkehr. Entlang vieler Straßen laufen räumlich abgegrenzte, farblich markierte Ein- oder Zweirichtungsradwege, die meist so breit angelegt sind, dass zwei Radfahrende bequem nebeneinander fahren können und ein sicheres Überholen möglich ist. Größere Entfernungen können über Radschnellwege zurückgelegt werden. Sogar durch Abwärme oder Geothermie beheizte Radwege werden in mehreren Städten erprobt. Im Radwegenetz orientieren kann man sich durch ein Knotenpunktsystem und eine einheitliche Beschriftung. In den Städten gibt es zahlreiche Radstellplätze. Die Stadt Utrecht besitzt das größte Fahrrad-Parkhaus der Welt, das unter dem Hauptbahnhof auf drei Ebenen insgesamt etwa 12.600 Stellplätze bietet.
Gerade mit Blick auf eine nachhaltige Verkehrspolitik wäre es laut Hudde auch in Deutschland sinnvoll, im Winter häufiger das Fahrrad zu nehmen. Wenn mehr Menschen im Herbst und Winter mit dem Rad unterwegs sind, reduziert das den Ausstoß von Kohlendioxid und Feinstaub und kann Staus oder die Überlastung des ÖPNV ein Stück weit vermeiden. Wenn die Radwege das ganze Jahr über gut genutzt werden, könnte dies außerdem dazu beitragen, dass auch hierzulande die Unterstützung für den Ausbau einer fahrradfreundlichen Infrastruktur wächst.
Der Soziologe resümiert: »Die Beispiele aus den Niederlanden zeigen, wie eine Kultur hin zu einem ganzjährigen Radfahren erfolgreich gefördert werden kann. In Deutschland besteht demgegenüber noch riesiges Potenzial für eine bessere Verkehrssituation und mehr Nachhaltigkeit.«