Wie kann eine Bevölkerung, die immer älter wird, bestmöglich medizinisch versorgt werden? Es ist eine große Frage, die sich Forschende aus der Medizin, Wirtschaftswissenschaft und den Sozialwissenschaften in Köln stellen. Ihr Ansatz: Kleine Veränderungen können viel bewirken.
Von Eva Schissler
Geräte piepen, grelles Licht scheint von der Decke, Schläuche ragen aus dem Körper und im Nachbarbett liegt der nächste Patient. Auf der Intensivstation zu sterben, entspricht wohl kaum den Wünschen der meisten Menschen am Ende ihres Lebens. Auch für Angehörige ist dies nicht der Ort, an dem man sich verabschieden möchte. Und dennoch sterben in Köln knapp 50 Prozent der Menschen in Krankenhäusern. Und das oft ohne Not: Viele von ihnen hätten in ihren letzten Wochen und Monaten auch zuhause oder in einem Hospiz palliativ versorgt werden können.
Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Projekt CoRe-Net untersucht für Köln, wie eine Versorgungslandschaft aussehen könnte, die solche Fehler vermeidet und sich an den realen Bedürfnissen vor Ort orientiert. Mit dem demographischen Wandel wird die Zahl der Menschen zunehmen, die unter einer oder mehreren chronischen Erkrankungen leiden. Da sie auf eine komplexe medizinische und soziale Versorgung angewiesen sein werden, sollten Hausarztpraxen, häusliche Pflege, Krankenhäuser und das Sozialsystem gut zusammenarbeiten. Köln als Untersuchungsraum fungiert dabei einerseits als Modellregion für ganz Deutschland. Doch das Projekt will auch die lokalen Bedarfe ermitteln und darauf reagieren – bis auf die Ebene der Bezirke und Viertel.
Medizinisch überversorgt, palliativ unterversorgt
Das Teilprojekt LYOL-C von CoRe-Net hat die Situation von Menschen im letzten Lebensjahr und ihrer Angehörigen erforscht. Die Ergebnisse wurden in dem ersten von insgesamt drei geplanten Versorgungsberichten veröffentlicht.
LYOL-C – Die »Last Year of Life Study Cologne« will die Krankenhausbehandlung patient*innenzentrierter gestalten, um langfristig den Nutzen für Menschen im letzten Lebensjahr zu erhöhen. Eine Befragung unter Mitarbeiter*innen in Gesundheitsberufen und eine Patient*innen-Studie haben gezeigt, wie die Versorgung dieser besonders vulnerablen Gruppe und ihrer Angehörigen verbessert werden kann.
Zu einer guten Versorgung gehört den Forschenden zufolge auch, dass die Sterbephase nicht durch unnötige Krankenhausbehandlungen hinausgezögert wird. Um herauszufinden, ob das in der Krankenhauspraxis auch umgesetzt wird, hat das Team in einer Befragung medizinisches Personal angeregt, sich eine einfache Frage zu stellen: »Würde ich mich wundern, wenn ein bestimmter Patient in den nächsten 12 Monaten stirbt?« Obwohl sie für den weiteren Verlauf der Behandlung entscheidend wäre, stellen sich die meisten Mediziner*innen diese Frage im hektischen Arbeitsalltag gar nicht.
Die Ergebnisse zeigen, dass viele der Patient*innen, bei denen die Ärzte den Tod innerhalb der nächsten 12 Monate als wahrscheinlich einschätzten, jedoch schon innerhalb der nächsten drei Monate starben. »Oft spricht niemand Klartext über absehbare letzte Lebensmonate. Dadurch können Betroffene keine selbstbestimmten Entscheidungen treffen und werden medizinisch überversorgt, palliativ aber unterversorgt«, sagt Professor Dr. Raymond Voltz, Direktor des Zentrums für Palliativmedizin an der Kölner Uniklinik und Sprecher von LYOL-C.
Auch Angehörige von Verstorbenen in Köln wurden befragt, wie sie die Versorgung wahrnehmen. Von Palliativstationen abgesehen ist die Unzufriedenheit mit Krankenhäusern groß. »Angehörige beklagen eine ungenügend empathische Kommunikation«, sagt Voltz. Ärzt*innen scheuen sich oft wohl, über die Endlichkeit des Lebens zu sprechen. Voltz und sein Team sehen hier keinen bösen Willen, sondern eher einen Systemfehler: Es mangele an rechtzeitigen, strukturierten Übergängen zwischen den Subsystemen – etwa von der Krankenhausbehandlung zu einer palliativen Versorgung.
»In Zukunft müssen Versorgungsprozesse und -strukturen besser ineinander greifen und stärker auf die individuellen Menschen ausgerichtet sein«, sagt Professor Dr. Holger Pfaff. Der Soziologe leitet das Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft (IMVR) an der Humanwissenschaftlichen Fakultät und hat die Gesamtleitung von CoRe-Net inne.
Die an CoRe-Net beteiligten Forschenden wollen nicht den großen Strukturwandel. Vielmehr schlagen sie in guter medizinischer Tradition »minimalinvasive Interventionen« vor. »Wir fragen uns, was wir unter den bestehenden Bedingungen und Strukturen ändern können«, sagt Holger Pfaff. Ärzt*innen dazu zu bringen, Alltagsroutinen und reflexhaftes Handeln infrage zu stellen – dazu reichten manchmal schon Fragen wie die zu den Lebensaussichten von schwer kranken Patient*innen.
Auch auf der Patientenseite könnten kleine Änderungen es erheblich erleichtern, die verschiedenen Systeme besser zu navigieren. Pfaff und seine Kolleg*innen schlagen eine Art Buddy-System vor: Eine Begleitperson, etwa aus dem pflegerischen Bereich, könnte den Menschen zur Seite stehen. Diese Person hätte einen Überblick über die individuellen Befunde, über Ansprüche und Anlaufstellen und würde Orientierung bieten, welche Fragen mit welchem Ansprechpartner zu klären sind.
Psychische Gesundheit: ein unterschätztes Risiko
Der zweite Versorgungsbericht von CoRe-Net befasst sich mit einer großen, aber wenig beachteten Gruppe: Menschen mit einer Herzkrankheit und psychischen Beschwerden. Über die Hälfte der Menschen in Deutschland stirbt an einer Herz-Kreislauferkrankung. Darunter steht die koronare Herzkrankheit, bei der die Herzkranzgefäße verstopfen und das Herz nicht mehr genügend Sauerstoff erhält, mit an erster Stelle. Was weniger bekannt ist: Die koronare Herzerkrankung geht häufig mit psychischen Leiden einher – etwa einer Depression oder einer Angststörung. »Eine solche Komorbidität kann die Lebensqualität und Prognose deutlich verschlechtern«, sagt Professor Dr. Christian Albus, Leiter der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Uniklinik.
Geltende Leitlinien zur Behandlung der koronaren Herzkrankheit fordern, dass eine psychische Begleiterkrankung früh erkannt und behandelt werden sollte. In dem von Albus geleiteten Teilprojekt MenDis-CHD fragte sich das Forschungsteam, wie gut das in der Praxis klappt. Eine Befragung unter Fachpersonal in Krankenhäusern, Arztpraxen und Rehakliniken ergab: Nur die Hälfte der psychischen Begleiterkrankungen wird diagnostiziert, und nur ein kleiner Teil adäquat behandelt.
MenDis-CHD – Schwerpunkt des Teilprojekts »Mental disorders in patients with coronary heart disease« ist es, Hausärzt*innen zu einer besseren Behandlung von Patient*innen mit koronarer Herzkrankheit (KHK) und gleichzeitigen psychischen oder kognitiven Störungen zu befähigen.
»Die Forderungen aus den Leitlinien treffen somit auf ein weitgehend unvorbereitetes Versorgungsnetz «, sagt Albus. »Es fehlt schlichtweg das Handwerkszeug. « Die meisten Betroffenen gingen mit ihren Beschwerden zum Hausarzt. Dieser wisse jedoch oft gar nicht, wie man in diesem Bereich eine korrekte Diagnose stellt.
Auch hier gingen die Forscher*innen »minimalinvasiv« vor: Sie entwickelten eine Kurzschulung und ein sogenanntes »Question-Prompt-Sheet«, einen kurzen Fragenkatalog, mithilfe dessen sich beide Seiten auf das Gespräch vorbereiten können. »Damit lassen sich mit großer Sicherheit psychische Beschwerden bei gleichzeitiger koronarer Herzkrankheit diagnostizieren«, sagt Albus.
Höhere Versorgungsqualität, geringere Kosten
Ein auch international viel diskutierter Ansatz, die oft holprigen Übergänge zwischen den Subsystemen der Versorgung und ärztlichen Fachrichtungen zu glätten, ist die sogenannte »blended collaborative care«: Die verschiedenen Behandler*innen werden angeregt, gemeinsam einen Gesamtplan für Patient*innen mit mehreren Leiden zu entwickeln. Das ist umso dringlicher, da sich diese Leiden oft gegenseitig verschlimmern.
Auch hier bräuchte es Christian Albus zufolge eine Art »care manager« ähnlich dem Buddy im letzten Lebensjahr. Zwar wäre das zunächst eine zusätzliche Arbeitskraft im Gesundheitssystem, die Kosten verursacht. Aber: »Wenn Patient*innen zum richtigen Zeitpunkt die richtige Behandlung erhalten, erhöht das die Versorgungsqualität – und es ist letzten Endes auch kosteneffizienter«, sagt Holger Pfaff. Die bisherigen Forschungsergebnisse zeigen: Es sind vor allem die Übergänge, die es zu glätten gilt. Hier eine ganz neue Berufsgruppe einzuführen, könnte eine Lösung sein. In jedem Fall sind es Fragen, die angegangen werden müssen – für die Region Köln und darüber hinaus.
Mit dem COLOGNE RESEARCH AND DEVELOPMENT NETWORK (CoRe-Net) wurde Köln 2017 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) als eine von drei Modellregionen für die Versorgungsforschung ausgewählt. Im Mai 2020 startete das Verbundprojekt der Humanwissenschaftlichen, Medizinischen und Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät in die zweite Förderphase, in der es bis 2023 mit insgesamt 2,1 Millionen Euro gefördert wird. CoRe-Net bringt Partner*innen aus Forschung und Praxis im Kölner Raum zusammen und kooperiert mit der Stadt Köln. CoRe-Net ist in das Zentrum für Versorgungsforschung Köln der drei beteiligten Fakultäten eingebettet. Ein drittes Forschungsprojekt, OrgValue, befasst sich mit der Frage, wie die im Rahmen von LYOL-C und MenDis-CHD angestoßen Veränderungen in der Praxis angenommen werden und wie sich Versorgungseinrichtungen, Abrechnungssysteme und andere Strukturen ändern müssen, um den Wandel möglich zu machen.
Ein zentraler Baustein des Projekts ist die Datenbank CoRe-Dat, die langfristig für weitere Forschung zur Verfügung stehen wird. Sie beinhaltet regionale Daten der Sozialstatistik, die Qualitätsberichte der in Köln ansässigen Krankenhäuser und die Befragungsdaten und Screening-Ergebnisse der Studienteilnehmenden aus den Teilprojekten LYOL-C, MenDis-CHD und OrgValue (Primärdaten). Ein weiterer Bestandteil sind versichertenbezogene pseudonymisierte Routinedaten von aktuell vier kooperierenden Krankenkassen (AOK Rheinland/Hamburg, BARMER, DAK-Gesundheit, pronova BKK). Diese Daten decken insgesamt ungefähr die Hälfte der Kölner Bevölkerung ab.