Seit 2019 gibt es am Kölner Institut für Rechtsmedizin das Kompetenzzentrum Kinderschutz im Gesundheitswesen. Hier begutachten vier Rechtsmedizinerinnen Verdachtsfälle von Kindesmisshandlung und -missbrauch aus ganz Nordrhein-Westfalen. Was ihnen besonders wichtig ist: Alle Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, sollten die Anzeichen von Gewalt erkennen.
Ein Kinderarzt stellt bei einem Jungen mehrere länger zurückliegende Frakturen fest. Für ihn steht fest: das Kind wurde misshandelt. Obwohl der Fall eindeutig ist, steht er vor einer schwierigen Situation, denn der Vater des Kindes ist Chefarzt an seiner Klinik. Fälle wie diese sind für Professorin Dr. Sibylle Banaschak keine Seltenheit. Die Ärztin leitet das seit April 2019 das vom Land NRW geförderte Kompetenzzentrum Kinderschutz im Gesundheitswesen (KKG) an der Uniklinik Köln, mit einem weiteren Projektstandort an den Verstischen Kinderund Jugendkliniken Datteln. Vier Spezialistinnen stehen am Kölner Standort niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen sowie Krankenhäusern bei Verdachtsfällen von Kindesmisshandlung oder -missbrauch mit Rat und Tat zur Seite.
Banaschak ist eine deutschlandweite Spezialistin auf dem Gebiet. Die Rechtsmedizinerin mit dem Schwerpunkt klinische Rechtsmedizin diagnostiziert seit zwanzig Jahren körperliche Misshandlungen und Missbrauch an Kindern. Sie kennt die Spuren und die typischen Merkmale genau. Ein medizinisches Standardwerk zu dem Thema hat sie mit verfasst. »Mit der Einwerbung des Kompetenzzentrums sind wir nun personell viel besser aufgestellt und zur Gesundheitswesen im gesamten Bundesland geworden«, sagt Banaschak. Das KKG bietet rund um die Uhr eine Telefonberatung. In einem Online-Konsil können niedergelassene Ärzte und Kliniken Bilder hochladen und fachlich bewerten lassen.
Klinische Rechtsmedizin - Die klinische Rechtmedizin ist ein Teilbereich der Rechtsmedizin. Sie befasst sich, anders als die klassische Morphologie, nicht mit der Obduktion und Untersuchung von Leichen, sondern mit der Beurteilung von Verletzungen an Lebenden.
Online-Konsil - In der Medizin ist das Konsil, die patientenbezogene Beratung eines Arztes durch eine andere Fachärztin, weit verbreitet. In dem speziellen Online-Konsil des KKG werden Vertraulichkeit, Anonymität und Datenschutz strikt gewährleistet.
Medizinern den Rücken stärken
Zum Glück kommen Fälle von Gewalt im Alltag der meisten niedergelassenen Ärztinnen eher selten vor. Das Problem dabei: Wie erkennt man dann auf Anhieb, ob es sich hier um einen Unfall oder Misshandlung handelt? Die Expertinnen erkennen den Unterschied meist schnell und geben eine entsprechende Rückmeldung, denn unfallbedingte Verletzungen treten an typischen Stellen auf überschreiten üblicherweise nicht eine gewisse Größe. »Eigentlich besteht unsere Hauptaufgabe darin, den behandelnden Medizinern den Rücken zu stärken. Sie möchten den Fall noch mal mit jemandem durchsprechen und sich rückversichern «, erklärt Banaschak. Denn in den meisten Fällen hätten die Kinderärztinnen ein gutes Gespür. »Wenn man nicht glaubt, dass sich das Kind die blauen Flecken beim Fußballspielen zugezogen hat, dann ist dieser Zweifel meist begründet.« Manchmal können die Rechtsmedizinerinnen aber auch Entwarnung geben: nicht alle Fälle erhärten sich.
Handlungsoptionen durchsprechen
Wo eine Kindesmisshandlung wahrscheinlich vorliegt, ist zudem längst noch nicht klar, was als nächstes geschieht. Das Beispiel des Kinderarztes, der seinen Kollegen mit seinem Befund konfrontieren musste, zeigt, wie heikel die Situation sein kann. Auch zum anstehenden Gespräch mit den Eltern kann das Kölner Kompetenzzentrum beraten – und zu den rechtlichen Aspekten, die beachtet werden müssen.
Bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung kann man das Jugendamt informieren – nicht nur als Arzt, sondern auch als Lehrerin, Erzieher oder Nachbarin. Doch was genau ist ein gewichtiger Anhaltspunkt? Hier müssen Mediziner oft abwägen. »Wir raten zum Beispiel, die Familie nach einer Woche noch mal einzubestellen, weil man vielleicht noch impfen muss. Das bringt Zeit, um sich eine Gesprächsstrategie zu überlegen und zu überprüfen, ob eventuell neue Spuren hinzugekommen sind. Falls die Familie dann nicht erscheint, kann man immer noch das Jugendamt informieren«, sagt Banaschak. »Doktorhopping« ist besonders bei Kindesmisshandlung weit verbreitet. Wenn die Familie nun einfach zu einem anderen Arzt wechselt, hat man bei einem Verdachtsfall oft keine andere Möglichkeit mehr, als das Jugendamt einzuschalten.
Doch wenn Ärztinnen einen Fall melden, bedeutet das häufig auch das Ende des Kontaktes zu dem Kind. Daher sollten sie sorgfältig abwägen, ob dies das beste Vorgehen ist. Banaschak und ihre Kolleginnen weisen deshalb darauf hin, dass das Jugendamt nicht die einzige Option ist. Es gibt weitere Hilfsangebote, auf die Ärzte Familien hinweisen können, etwa eine Therapie oder Hilfen zur Erziehung. Viele nehmen das an, doch es gibt keinen Kontrollmechanismus. Daher bleibt oft die Unsicherheit. Dennoch geht es an erster Stelle darum, dass Eltern Hilfestellungen bekommen. »Die wenigsten Kinder werden aus der Familie in Obhut genommen. So viele Pflegefamilien gibt es gar nicht«, gibt Banaschak zu bedenken. »Wir müssen uns also immer die Frage stellen: Ist das Kind in seiner Umgebung sicher?« Eine absolute Sicherheit gibt es allerdings nie.
Die Last dieser Abwägungen mit zu tragen – auch das sieht das Kölner Team als seine Aufgabe an. »Es gibt selten den einen richtigen Weg. Da fühlt man sich einfach besser, wenn man mit jemandem gesprochen hat. Kinderschutz sollte keiner alleine machen, das ist ganz schlecht für’s Gemüt«, sagt Banaschak.
Das Gesundheitssystem sensibilisieren
Wenn ein Kind mit einer Fraktur in die Notaufnahme kommt, wird nicht selten der Bruch versorgt und das Kind danach wieder nach Hause geschickt. Sibylle Banaschak plädiert aber: »Ein Säugling, der mit einem Knochenbruch in die Notfallambulanz kommt, sollte auf jeden Fall ins Krankenhaus eingewiesen werden.« Denn ein Knochenbruch bei einem Kind, das sich noch nicht selbst fortbewegen kann, sei immer verdächtig.
Das Bewusstsein, wann man genauer hinschauen muss, ist in manchen Krankenhäusern und Arztpraxen aber nicht hinreichend vorhanden. Das zweite große Tätigkeitsfeld von Banaschak und ihren Kolleginnen sind deshalb Fortbildungen. Oft melden sich die Praxen und Einrichtungen, nachdem sie einen Fall hinter sich haben, bei dem sie nicht angemessen reagiert haben. »Einmal bekam ich eine Anfrage aus einer Klinik, in der ein Säugling mit Hämatomen wieder nach Hause geschickt worden war. Einige Tage später erlitt das Kind ein Schütteltrauma – mit Todesfolge«, sagt Banaschak. In diesen Fällen arbeitet sie mit den Beteiligten auf, was falsch gelaufen ist und wie sie es in Zukunft besser machen können. »Mein Ziel ist es, dass die Krankenhäuser schon bei den Hämatomen einschreiten«, sagt die Ärztin. Hier ist Zusammenarbeit gefragt: Nicht nur Kinderärztinnen müssen Gewalt erkennen, sondern auch Unfallchirurgen, Gynäkologinnen, Pfleger und Rettungssanitäterinnen.
Im vergangenen Jahr hat Banaschak über dreißig Fortbildungen durchgeführt: in Krankenhäusern, bei niedergelassenen Ärzten, bei ärztlichen Qualitätszirkeln. »Das ist die eigentliche Seele des Projekts, um das Thema in der Ärzteschaft präsent zu halten «, sagt Banaschak. Nach den viel beachteten Fällen von sexuellem Missbrauch in Lügde und Bergisch Gladbach fragten viele Einrichtungen speziell nach Fortbildungen zu diesem Thema. Auch da bietet die Rechtsmedizinerin sachliche Aufklärung. Seit der Corona-Pandemie sind die Fortbildungen jedoch zum Erliegen gekommen. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen plant sie nun Webinare und nutzt die Zeit, um Manuale zu Themen zu schreiben, die in den Fortbildungen besonders oft aufkamen.
Die Fortbildungen beschränkten sich aber nicht nur auf das Gesundheitswesen, denn praktischer Kinderschutz ist multiprofessionell. Die Kölner Rechtsmedizinerinnen vertreten die medizinische Perspektive, aber es gibt auch den Zugang aus der Sozialpädagogik, speziell der Kinder- und Jugendhilfe. »Wir veranstalten auch gemeinsame Workshops und Fortbildungen, um uns auszutauschen und zu vernetzten. Außerdem ist es wichtig, Fachkräften in der Jugendhilfe, in Kindertagesstätten und in pädagogischen Einrichtungen medizinische Aspekte zu vermitteln.«
Aus der Distanz helfen
Jegliche Gewalt an Kindern zu verhindern, ist wohl unmöglich. Doch Mediziner dabei zu unterstützen, fachlich informiert zu reagieren und Fälle aufzuklären, dazu kann das KKG-Team beitragen. Banaschak hat konkrete Wünsche, wie das in Zukunft noch besser gelingen kann: »Die Zusammenarbeit mit den Jugendämtern könnte noch verbessert werden. Wenn eine Ärztin eine Meldung macht, sollte sie eine Rückmeldung bekommen – zumindest, ob das zuständige Amt aktiv geworden ist oder nicht.« Doch die Jugendämter sind nicht verpflichtet, eine solche Rückmeldung zu geben. Es ginge Banaschak auch nicht darum, genaue Maßnahmen zu erfahren – das unterliegt dem Datenschutz. Aber es wäre beruhigend zu wissen, ob jemand an dem Fall dran ist. Das würde Sorgen reduzieren und Ärzten eine Qualitätskontrolle ihrer eigenen Arbeit ermöglichen.
Tagaus, tagein schlimme Geschichten und Bilder – das ist der Arbeitsalltag von Sibylle Banaschak und ihrem Team. »Mir persönlich würde es viel schwerer fallen, Eltern ernste Diagnosen zu überbringen oder misshandelnde Eltern zu konfrontieren. So habe ich zwar viele schlimme Fälle, aber immer auch eine gewisse Distanz. Und ich beherrsche das, was ich mache.« Es sind viele Einzelschicksale, viele junge Patientinnen und Patienten. Bei all der Tragik hinter den Schicksalen ist das das Gute an dem Job: Banaschak und ihre Kolleginnen leisten in der Kinderschutzambulanz wichtige Hilfe für die Kinder.
Professorin Dr. med. Sibylle Banaschak ist eine deutschlandweite Spezialistin für körperliche Misshandlungen und Missbrauch an Kindern. Die Rechtsmedizinerin mit dem thematischen Schwerpunkt klinische Rechtsmedizin diagnostiziert seit zwanzig Jahren Spuren und die typischen Merkmale von Misshandlungen an Kindern und hat mit drei weiteren Kolleginnen und Kollegen ein medizinisches Standardwerk zu dem Thema verfasst
Das Kompetenzzentrum Kinderschutz im Gesundheitswesen (KKG)
NRW wird seit April 2019 am Institut für Rechtsmedizin der Uniklinik Köln vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW mit rund zwei Millionen Euro gefördert. Es ist ein Kooperationsprojekt mit den Vestischen Kinderund Jugendkliniken Datteln, dort in der Abteilung Medizinischer Kinderschutz unter Leitung von Dr. med. Tanja Brüning. Die Förderung läuft zunächst noch bis März 2022. Die Aufgabe des Kompetenzzentrums besteht darin, Ärztinnen, Ärzte und alle weiteren Akteurinnen und Akteure im Gesundheitswesen in Nordrhein-Westfalen bei Fragen rund um die Thematik des medizinischen Kinderschutzes zu beraten. Der Standort in Datteln konzentriert sich stärker auf chronische Verläufe sowie Folgen von Vernachlässigung oder der Zeugenschaft von Gewalt, der Standort in Köln stärker auf körperlichen Missbrauch und Misshandlung. Neben der Leiterin Professorin Dr. med. Sibylle Banaschak gehören Dr. Judith Froch-Cortis, Dr. Katharina Feld und Dr. Svenja Binder zum Kölner Team.