Kein Frauengedöns, sondern harte Fakten
Frauen waren viele Jahrzehnte in klinischen Studien unterrepräsentiert, doch ihre Lebenserwartung übertrifft die von Männern. Wie passt das zusammen? Kölner Forschende zeigen, dass bei allen Geschlechtern Wissenslücken klaffen. In Zukunft kann die gendersensible Medizin dazu beitragen, jeden Menschen präzise zu behandeln.
Von Eva Schissler
Es ist das klassische Beispiel, das beim Thema Gendermedizin meist herangezogen wird: Wenn Frauen einen Herzinfarkt erleiden, zeigen sie oft nicht die »typischen« Symptome, sondern können Übelkeit und Schmerzen im Bauchbereich erleben. »Das ist auch meiner Großmutter passiert«, sagt Professor Dr. Alexander Quaas. Die Hausärztin der Großmutter schickte sie mit ihren Unterleibsschmerzen wieder nach Hause: Verdacht auf einen Magen-Darm-Infekt. Zwei Tage später starb sie infolge eines unentdeckten Herzinfarktes. »Ich war damals Medizinstudent vor dem Physikum und es dauerte noch Jahre, bis ich verstand, was passiert war«, sagt Quaas. Heute ist er stellvertretender Institutsdirektor der Pathologie der Uniklinik Köln und Leiter der Abteilung Erkrankungen des Magen-Darm- Trakts. Geschlechterunterschiede bei Krankheit und Gesundheit interessieren ihn nach wie vor.
Gemeinsam mit Professorin Dr. Elke Kalbe, Leiterin des Bereichs Medizinische Psychologie – Neuropsychologie & Gender Studies, hat er eine Arbeitsgruppe zum Thema »Sex, Gender and Diversity in Medical Research« gegründet. Die AG reagiert einerseits auf das große Interesse von Studierenden und Nachwuchswissenschaftler*innen an Geschlechterfragen, andererseits leistet sie Lobbyarbeit, damit das Thema in der Forschung besser berücksichtigt wird. Auch die Landesregierung sieht hier ein wichtiges Forschungsfeld: Sie hat im April 2023 den Leuchtturm »Gendermedizin.NRW« gegründet, in dessen Steuerungsgremium auch Professor Quaas und Professorin Kalbe aus Köln vertreten sind.
Elke Kalbe ist darüber hinaus Prodekanin für Akademische Entwicklung und Chancengerechtigkeit der Medizinischen Fakultät. Doch Geschlechterfragen in der medizinischen Forschung sind für sie kein politisches, sondern ein wissenschaftliches Thema. »Gleichstellung in der Wissenschaft ist ein wichtiges und legitimes Anliegen, aber hier geht es um Präzisionsmedizin«, sagt die Neurowissenschaftlerin. Schon das Wort »Gender« emotionalisiere und werde noch allzu oft als »irgendwelches Frauengedöns« abgetan. »Leider führen Ressentiments beim einen Thema in vielen Fällen zu Skepsis oder Desinteresse beim anderen.«
Kalbe sieht Geschlecht, ähnlich wie Alter, als wichtige Determinante im Gesundheits- und Krankheitsgeschehen an. Es werde bislang jedoch noch unzureichend – und viel weniger als das Alter – in den medizinischen Fachbereichen berücksichtigt. Auf ihrem Gebiet, den neurodegenerativen Erkrankungen, bestehen Unterschiede, die zwar beschrieben, aber noch wenig verstanden sind. Beispielsweise betrifft die Parkinson- Krankheit etwa anderthalb Mal so viele Männer wie Frauen. Bei dieser Krankheit führt ein Untergang der Zellen, die den Botenstoff Dopamin produzieren, zu den typischen Bewegungssymptomen und weiteren nicht motorischen Symptomen. Doch obwohl sie häufiger Männer betrifft, greift die Erkrankung die kognitiven Stärken von Frauen – das verbale Gedächtnis – besonders stark an. Auch an anderen Erkrankungen wie der Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADHS), die mit Störungen des dopaminergen Systems einhergehen, leiden mehr Jungen und Männer. Depression wiederum betrifft statistisch gesehen mehr Frauen. »Zugrundeliegende Mechanismen dieser geschlechtsspezifischen Unterschiede, die Grundlage passgenauer Therapien sind, müssen zukünftig viel stärker in den Blick genommen werden«, sagt Elke Kalbe.
Das Problem des Normkörpers
In vielen Fällen ist sich die Wissenschaft noch uneinig, ob die Unterschiede auf biologische, physiologische oder gesellschaftlich bedingte Faktoren zurückzuführen sind. »Krankheit und Gesundheit sind immer auch in einen psychosozialen Kontext eingebettet«, sagt Kalbe. Zu diesem Kontext gehört, dass Frauen sich in der Regel gesünder ernähren und medizinische Versorgungsangebote eher wahrnehmen. Bei Beschwerden suchen sie früher medizinische Hilfe auf. Ihre Lebenserwartung übersteigt in fast allen Ländern der Welt die von Männern. Doch solche Lebensstilfaktoren reichen nicht als Erklärung aus.
Dass viele der Geschlechterunterschiede noch nicht gut verstanden sind, liegt auch an einer unzureichenden Datenlage: In der Vergangenheit wurden die meisten klinischen Studien ausschließlich an jungen männlichen Probanden durchgeführt. Dieser »Gender-Knowledge-Gap« ist neben dem Beispiel des Herzinfarktes einer der häufigsten Kritikpunkte an der medizinischen Forschung. Der Umstand ist nicht auf eine bewusste Diskriminierung zurückzuführen, sondern hatte vermeintlich praktische Gründe: Bei Frauen wirken Medikamente je nach Hormonspiegel während des Menstruationszyklus unterschiedlich – eine Variable, die man bei der Durchführung einer Studie kontrollieren müsste. Zudem müsste bei Frauen eine Schwangerschaft ausgeschlossen werden.
Diese unvollständige Wissenslage hat Auswirkungen auf die Krankheitsbehandlung. Als Krebsforscher interessieren Alexander Quaas Unterschiede im Immunsystem von Männern und Frauen: »Frauen leiden häufiger an Autoimmunerkrankungen. Und bei Frauen hat der Zeitpunkt des Zyklus einen Einfluss auf die Immunabwehr, sodass zum Beispiel Impfungen unterschiedlich wirken können.« Auch bei Krebsmedikamenten vermuten er und andere Forschende, dass sich die Wirkweise bei Männern und Frauen unterscheidet. »Heute zeigt sich, dass ein Standardchemotherapeutikum, das 5-FU, das bereits in den 1960er Jahren zugelassen wurde, eine genderabhängige Verstoffwechslung aufweist«, sagt Quaas. »Männer eliminieren 5-FU über die Nieren verstärkt. Das führt dazu, dass Frauen einer erhöhten Toxizität mit mehr Nebenwirkungen ausgesetzt sind, ihre Krebserkrankung aber nicht besser behandelt ist. « Auch bei dem relativ neuen Therapieansatz der sogenannten Checkpoint-Inhibitoren, bei dem die T-Zellen unseres Immunsystems gegen den Krebs aktiviert werden, ergeben sich erste Hinweise auf genderabhängige Unterschiede. Quaas: »Es gibt Beobachtungen, dass diese Medikamente bei Frauen anders wirken als bei Männern und dass Frauen von einer zusätzlichen Chemotherapie profitieren könnten. «
Ähnliche Risiken, andere Vorsorge
Der viel kritisierte »Gender-Knowledge-Gap« kann sich jedoch auch zum Nachteil von Männern auswirken. Das zeigt ein weiteres Beispiel aus der Krebsforschung. Die Gynäkologin Professorin Dr. Rita Schmutzler leitet das Zentrum Familiärer Brust- und Eierstockkrebs an der Uniklinik und forscht seit Jahrzehnten zu diesen Krebsarten.
Brustkrebs ist die mit Abstand häufigste Krebsart bei Frauen. Nicht immer sind die Risikofaktoren erblich, doch Trägerinnen von Mutationen in bestimmten Genen wie BRCA1 und BRCA2 haben ein erheblich erhöhtes Risiko zu erkranken. Präventionsund Screening-Programme, an deren Entwicklung Schmutzler maßgeblich beteiligt war, testen also besonders auf diese Genvarianten. Den großen Erfolg dieser Programme schreibt Schmutzler aber nicht nur den Fortschritten in der Forschung zu: »Prävention hängt auch von der Initiative der Betroffenen ab, und bei Brustkrebs sind die Selbsthilfe- und Interessengruppen sehr engagiert und haben sich früh für eine Enttabuisierung der Krankheit eingesetzt.« Das Beispiel zeige, dass frauenspezifische Erkrankungen in der Erforschung, Versorgung und Prävention sogar eine Vorreiterrolle einnehmen können. Denn was für Frauen der Brustkrebs ist, ist für Männer der Prostatakrebs. Er ist ähnlich weit verbreitet und in ähnlich vielen Fällen durch eine genetische Vorbelastung bedingt. Doch bei der Prävention und Versorgung sei diese Krebsart nicht annähernd auf dem Stand des Brustkrebses. »Wir Gynäkologinnen beraten mittlerweile die Urologen, und die Brustkrebs-Hilfegruppen unterstützen Prostatakrebs-Betroffene. Sie leisten gemeinsam Lobbyarbeit, damit ähnliche Präventions- und Versorgungskonzepte auch für die Männer etabliert werden.«
Neue Ausbildungsstandards
Im kommenden Jahr soll eine neue Approbationsordnung für Mediziner*innen in Kraft treten, die erstmalig den Bereich geschlechtersensible Medizin berücksichtigt. Das Interesse für das Thema unter angehenden Ärzt*innen ist Elke Kalbe zufolge bereits heute hoch: »Studierende und Promovierende fordern ein, dass Geschlechterfragen stärker berücksichtigt werden.« Dabei gehe es zudem nicht nur um Unterschiede zwischen Männern und Frauen, sondern um das gesamte Geschlechterspektrum und Fragen von Diversität. Die Datenlage zu geschlechtlich diversen Menschen sei besonders dünn – auch, weil verbindliche Erhebungsstandards in klinischen Studien fehlen. Eine Gruppe innerhalb der AG »Sex, Gender and Diversity in Medical Research« befasst sich mit dieser Frage und sichtet, welche Standards und Methoden es schon gibt. »Um geschlechtliche Minderheiten müssen wir uns besonders kümmern«, ist auch Rita Schmutzler überzeugt, »denn oft sind wegen der dürftigen Datenlage Einzelfallentscheidungen nötig, die einer besonders eingehenden Beratung bedürfen.«
Fragen rund um Geschlecht, Gender und Diversität drängen in viele Bereiche der medizinischen Versorgung und Forschung in Deutschland vor. Immer mehr Lehrstühle und Institute werden eingerichtet, Förderinstitutionen fordern eine stärkere Berücksichtigung dieser Fragen in medizinischen Studien ein. Doch so richtig angekommen sehen Quaas und Kalbe das Thema noch nicht. Es seien immer noch eher die jüngeren Mediziner*innen und eher Frauen, die sich dafür interessieren. »Die neue Approbationsordnung wird vieles ändern, denn es ist entscheidend, ob Gendermedizin strukturell ins Studium integriert ist«, sagt Kalbe. Schon jetzt sei die Ringvorlesung »Gendermedizin « an der Fakultät jedes Semester überlaufen – beste Voraussetzungen, auch in der medizinischen Versorgung der Zukunft Gleichstand zu schaffen.
AG Sex, Gender and Diversity in Medical Research
Die Arbeitsgruppe an der Medizinischen Fakultät befasst sich mit Geschlechtsunterschieden im Gesundheits- und Krankheitsgeschehen sowie mit der Versorgungssituation von Minderheiten, die aufgrund von Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion, körperlicher Beeinträchtigung oder sexueller Orientierung diskriminiert werden. Durch Forschung auf diesem Gebiet will die AG einen Beitrag zur Präzisionsmedizin der Zukunft leisten. Außerdem fördert sie die Zusammenarbeit von Wissenschaftler*innen auf dem Campus, entwickelt gemeinsame Drittmittelprojekte und bietet Studierenden einen Überblick über mögliche Ansprechpersonen für Promotionen und andere wissenschaftliche Arbeiten.
GENDERMEDIZIN.NRW
Der Leuchtturm bringt Expert*innen aus verschiedenen Disziplinen und Organisationen (Forschungsinstitute, Universitätskliniken, Hochschulen, Netzwerke) in NRW zusammen, um sich auszutauschen und zu vernetzen. Weitere Leuchttürme befassen sich mit klinischer Forschung und klinischen Studien, digitaler Medizin und künstlicher Intelligenz, Alternsmedizin, biohybrider Medizin sowie Klima und Gesundheit.