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Kampf um die Weltmacht

Professor Thomas Jäger, Experte für Außenpolitik, europäische Sicherheitsdefizite und hybride Kriegsführung Russlands.

Die Welt ringt um eine neue Sicherheitsordnung. Professor Dr. Thomas Jäger, Experte für Außenpolitik und internationale Beziehungen, über europäische Sicherheitsdefizite und die hybride Kriegsführung Russlands.

Das Gespräch führte Eva Schissler

Herr Professor Jäger, wann war die Welt sicherer: vor 1990, also während des Kalten Krieges, oder heute?

Eindeutig damals. Infolge des Zweiten Weltkriegs haben sich in den 1950er und 60er Jahren zwei Weltmachte – oder Supermachte – herausgebildet. Abgesehen von einigen lokalen Konflikten in Afrika war die Situation ab Mitte der 1970er, nach den Kriegen in Korea und Vietnam, relativ stabil. Die USA und die Sowjetunion waren damals gewissermaßen saturiert, sie waren zufrieden mit dem, was sie hatten. Die Hauptkonfliktlinie in Europa, wo sich die Supermachte gegenüberstanden, blieb friedlich.
 

Was ist heute anders?

Heute gibt es zwei Machte, China und Russland, die nicht saturiert sind; die der Ansicht sind, ihnen gebührt ein Platz an der Sonne, den sie momentan noch nicht einnehmen. Sie erheben Anspruch auf mehr Einfluss in internationalen Fragen. Beide Lander probieren im Moment in unterschiedlichem Mase, diesen Anspruch mit Gewalt durchzusetzen. Insofern ist die Lage viel volatiler. Wenn man so will, befinden wir uns momentan in einer Phase des Übergangs: die stabile Zweierordnung des Ost-West-Konflikts ist aufgelöst, der unipolare Moment der Vereinigten Staaten geht zu Ende. Eine neue Ordnung wird aber nicht geschaffen, indem man sich an den Tisch setzt und sagt: »Lasst uns mal überlegen, worauf wir uns einigen konnen.« Sie wird dadurch geschaffen, dass man gegenseitig die Kräfte misst. Das machen Staaten mit militärischen, ökonomischen und politischen Mitteln.

Der Politikwissenschaftler und Sicherheitsexperte Thomas Jäger ist überzeugt: Ohne die USA gibt es keine Sicherheit für ein demokratisches Europa.

Zwischenzeitlich gab es den Traum von einer multipolaren Welt ohne Supermächte, mit mehreren Machtzentren. War das eine Illusion?

Es ist jedenfalls eine Illusion zu glauben, dass so eine Konstellation die Welt sicherer macht. Wenn wir in der Geschichte zurückblicken, sind bipolare Konstellationen eigentlich am stabilsten. Verhandlungen sind einfacher, weil sich nur zwei einigen müssen. Je mehr es werden, desto schwieriger wird es. Europa im 18. und 19. Jahrhundert war eine multipolare Ordnung. Das war überhaupt nicht stabil. Wenn nur einer die Allianz gewechselt hat, kam das Gleichgewicht ins Wanken.

Ich sehe zudem viel Verwirrung um den Begriff »multipolar«. Der wissenschaftliche Begriff der Multipolarität besagt, dass drei oder mehr Mächte deutlich mächtiger sind als alle anderen. Das wird gemessen in militärischer und ökonomischer Starke, in politischer Allianzbildung, in kultureller Attraktivität. Dann gibt es den Begriff der Multipolarität, wie ihn Russland und China benutzen. Da bedeutet er: keine amerikanische Vorherrschaft. Er beschreibt ein Konzept, in dem große Staaten um sich herum eine exklusive Einflusszone haben. Die USA sollen sich demnach aus Europa und dem Pazifik raushalten. Zum dritten gibt es den Begriff der Multipolarität, wie er in Europa benutzt wird. Da bedeutet er: Jeder darf mal mitreden und wir lassen uns nichts vorschreiben. Es ist aber Selbsttäuschung zu glauben, dass sich Staaten dem Kraftfeld der Weltmachte entziehen können. In jedem Fall haben die beiden letzten Bedeutungen rein gar nichts mit einer analytischen Beschreibung der internationalen Weltordnung zu tun.

Welches Konzept wird sich durchsetzen?

Die Frage ist, wer die künftigen Weltmächte sein werden. Hier gibt es Stimmen, die sagen, die neue Ordnung wird tatsächlich multipolar, zum Beispiel über die Organisation der BRICS-Staaten. Sie sehen in dieser Allianz ein neu entstehendes Kraftfeld. Andere – zu denen ich gehöre – sehen eher eine nationalstaatlich orientierte Ordnung mit den USA und China als dominante Kräfte. Internationale Organisationen werden keine eigenen Kraftfelder sein.

BRICS – Zu den Gründungsländern gehörten 2006 Brasilien, Russland, Indien und China. 2010 kam Südafrika dazu, 2024 als neueste Partner Ägypten, Äthiopien, Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate.


Die BRICS-Staaten haben sich von einer ökonomischen Allianz sogenannter »Schwellenländer« hin zu einem Bündnis mit politischen Ansprüchen gewandelt, zuweilen wird ein Vergleich mit den G7 gezogen. Welche Funktion erfüllt dieses Bündnis?

Im Moment umfasst BRICS etwa ein Viertel der globalen Wirtschaftsleistung. Das ist nicht unwesentlich, konzentriert sich aber hauptsächlich auf China. Als mit Abstand stärkste Wirtschaftskraft dieses Bündnisses will China sich aus den amerikanisch dominierten internationalen Organisationen emanzipieren und zeigen: Wir können das auch. Das zentrale Vorhaben ist, über Wirtschaftsleistung eine alternative Weltordnung zu etablieren. Der US-Dollar soll als Leitwährung abgelöst werden. Der Dollar dominiert den Yuan aber immer noch entscheidend. Die anderen Währungen der BRICS-Staaten spielen international überhaupt keine Rolle.

Worin besteht für die anderen Staaten der Anreiz, dort mitzumachen?

 

Für sie ist die Allianz eine Arena. Sie kommen zu Wort und können sich mit den Mächtigen dieser Welt treffen. Besonders, wenn sie Gastgeber eines Treffens sind, können Sie ihren Agenden auf der internationalen Bühne Ausdruck verleihen.

Aber das Bündnis ist in sich nicht sehr kohärent. Mit Blick auf die nächsten Jahrzehnte wird Indien der interessanteste Staat aus diesem Kreis sein. Die chinesische Wirtschaft bleibt groß, wird aber nicht mehr in dem Maß wachsen, wie sie das in den vergangenen Jahrzehnten getan hat. Nach allen Prognosen wird in fünfzig Jahren die indische gemeinsam mit der chinesischen und der amerikanischen weit stärker sein als alle anderen Volkwirtschaften der Welt. Warum sollte sich Indien also in so ein Bündnis einbinden lassen?


Europa will sicherheitspolitisch von den USA unabhängiger werden. Ist das realistisch?

Nein


Das dachte ich mir fast.

Die EU ist ein postimperiales Konstrukt, das sich vorgenommen hat, Grenzen nicht mehr zu verschieben – außer friedlich. Als Sicherheitsgemeinschaft bedroht man sich nicht gegenseitig und plant auch nicht die Verteidigung gegeneinander. Unterhalb dieser Grundsätze kann man sich streiten, wie man will. Wenn wir allein diesen Sicherheitsaspekt betrachten, vertritt Russland eine andere Vorstellung von der Ordnung in Europa. Russland versucht, den europäischen Kontinent politisch zu bearbeiten, um eine imperialistische Einflusszone zu schaffen.

Die EU hätte sich wappnen können gegen diese Bedrohung, die im Prinzip seit dem Jahr 2000 bekannt ist. Sie hat es aber nicht getan, sondern nur davon gesprochen. Deswegen sind wir jetzt in einer Situation, dass keiner der EU-Staaten dazu in der Lage ist, sein Territorium zu verteidigen, und die EU insgesamt ist es auch nicht. Sie ist nicht mal in der Lage, einen Konflikt wie den im Kosovo zu lösen! Das ist der Dimensions unterschied, von der wir sprechen: Kosovo – Russland.

Die fehlgeschlagene Offensive zur Entmachtung der ukrainischen Regierung zeigte, dass Russland in Gefechten nicht so gut ist wie erwartet. Doch ein erneuter Schlag gegen Kiew könnte anders ausgehen.

Gehen die Bemühungen um Europas Sicherheit seit Beginn des Ukraine-Krieges nicht in die richtige Richtung?

Es hieß immer, Europa bräuchte einen Pearl Harbour-Moment, um endlich aufzuwachen. Der 24. Februar 2022 war dieser Pearl Harbour-Moment, aber es geschieht immer noch viel zu wenig – auch in Deutschland, bei aller Rede von der »Zeitenwende«. Um militärische Kapazitäten zu schaffen, die andere Länder abschrecken könnten, braucht die EU fünf bis zehn Jahre. Noch ist sie aus eigenem Unvermögen darauf angewiesen, diese Abschreckungsleistung durch die Amerikaner abzusichern.
 

Frankreich, die einzige Atommacht in der EU, hat schon vor Jahren angeboten, bei dem Aufbau eines europäischen Schutzschildes mitzuwirken. Könnte das die Lösung sein?

Eine atomare Abschreckungskraft sehe ich langfristig für Europa gar nicht. Wer sollte dann die Kontrolle haben: die Kommissionspräsidentin? Oder würde der Kontrollkoffer von Land zu Land wandern? Nuklearwaffen sind politische Waffen und die Unfähigkeit, einen konstanten politischen Willen auszubilden, versperrt der EU den Weg, glaubwürdige Abschreckung leisten zu können. Trotzdem ist gut, dass die Diskussion geführt wird, weil damit auch die Fallgruben untauglicher Alternativen offenbar werden.


Was ist mit der NATO? Ist sie im Fall der Fälle willens und in der Lage, Europa zu verteidigen?

Die NATO ist heute stärker, als sie in den vergangenen Jahrzehnten war. Sie hat mehr Mitglieder, die Verteidigungshaushalte vieler Staaten wachsen. Aber sie krankt an demselben Problem: die Vereinigten Staaten sind die einzige handlungsfähige Militärmacht in der NATO. Daher ist wichtig, wer dort an der Macht ist. Der amerikanische Präsident garantiert mit seinem Wort für die Abschreckung. Dass die USA die Fähigkeit haben, weiß jeder. Sie müssen aber immer wieder deutlich machen, dass sie auch die Intention haben. Wir sehen in letzter Zeit wiederholt, dass das keine Selbstverständlichkeit mehr ist.

Zuletzt hat uns das Donald Trump sehr drastisch vor Augen geführt mit seinen Äußerungen, zahlungssäumige NATO-Partner nicht mehr verteidigen zu wollen, sollte er erneut Präsident werden.

Europa hat Angst vor Russland, aber dessen Angriff auf die Ukraine hat auch deutliche Schwächen offengelegt. Schätzen wir Russland als zu stark oder zu schwach ein?

Russland wird überschätzt, wenn wir nur auf die militärischen Potentiale und die Bewaffnung schauen. Es hat sich erwiesen, dass sie in Gefechten nicht gut sind. Sie haben die Offensive in der Ukraine schlecht angelegt und die Truppen sind schlecht ausgerüstet. Das heißt jedoch nicht, dass sie unfähig sind, aus diesen Fehlern zu lernen. Ein erneuter Angriff auf Kiew mit dem Ziel, die Regierung zu entmachten, würde womöglich ganz anders durchgeführt werden.

Worin sie stark sind: Die Russen setzen als einziger Staat der Welt die Drohung mit Nuklearwaffen politisch offensiv ein. Außerdem beherrscht Russland Desinformation und dominiert Diskursräume sehr effektiv. Es hat Stellvertreter in allen europäischen Staaten. In Deutschland bekommen diese Parteien fast 30 Prozent der Stimmen. Wenn solche Kräfte es schaffen, die Regierung zu übernehmen, muss man gar nicht mit militärischer Macht einmarschieren. Wenn zwei bis drei Schlüsselstaaten in Europa gewonnen sind, dann fallen die anderen auch. Insofern trifft die Vorstellung nicht zu, Russland müsse Europa mit Panzern überrollen, um »am Rhein zu stehen«. Es gibt mittlerweile andere Instrumente, deren Funktion weite Teile der deutschen Öffentlichkeit noch gar nicht verstehen.


Was ist das beste und was ist das schlechteste Szenario für eine neue Sicherheitsordnung?

Es kommt darauf an, für wen. Sagen wir mal, für ein demokratisches Deutschland in einem demokratischen Europa. Das beste Szenario wäre: stabile transatlantische Beziehungen und die Fähigkeit, Russland von weiteren militärischen Angriffen abzuschrecken. Wenn das verbunden wird mit einer erfolgreichen Allianzbildung im Pazifik, die China davon abhält, Taiwan anzugreifen, hätten wir wieder eine stabile Situation. Nicht ungefährlich, weil sie immer wieder infrage gestellt wird, aber es gäbe doch eine gewisse Erwartungssicherheit.

Gefährlich wäre, wenn die Vereinigten Staaten zu dem Schluss kommen, dass sie Europa nicht mehr brauchen. Das wäre die Situation, auf die Putin hofft: Die Europäer wären wehrlos und zersplittert und es ginge ein Wettlauf los, wer sich am schnellsten wieder mit Moskau gut stellt. Doch auch diese Situation würde nicht so ausgehen, wie sie sich Putin erhofft. China würde schnell klarmachen, wer auch in Europa das Ruder in der Hand hält. Es liegt auch an uns Europäern, dass dieses Szenario nicht eintritt.