Ist Deutschland politisch gespalten?
Ein immer rauerer Ton, gezielte Desinformation und eine wachsende Wohlstandsschere scheinen das politische Klima in Deutschland zu vergiften. Daten aus politischen Befragungen zeichnen jedoch ein anderes Bild: Die Anhänger*innen der großen Parteien lehnen die politische Konkurrenz nicht grundsätzlich ab – bis auf eine Partei.
Von Ansgar Hudde
In einigen Ländern ist Parteipolitik zur zentralen gesellschaftlichen Spaltungslinie geworden. Zu den USA hören wir beispielsweise oft, dass es dort zwei Lager gibt, die sich feindselig gegenüberstehen. Auch wenn dieses Bild etwas vereinfachend oder übertreibend sein mag, so legen Daten doch nahe, dass sich Demokraten und Republikaner mit zunehmend negativen Gefühlen gegenüberstehen. Es handelt sich also nicht nur um eine inhaltliche Polarisierung, sondern eine Polarisierung auf der Gefühlsebene, also eine affektive Polarisierung.
Zahlreiche Studien zeigen, welche Konsequenzen solch affektive Polarisierung haben kann: Wer sehr negative Gefühle gegenüber bestimmten Parteien hat, neigt auch dazu, deren Anhänger*innen im Privaten zu meiden, sie teilweise sogar zu diskriminieren – etwa in Bezug auf Jobs oder die Auswahl für Stipendien. Wenn sich die Anhänger*innen der unterschiedlichen Parteien stark ablehnen, dann gefährdet das also den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Wie ist das bei uns, wie stehen sich Anhänger unterschiedlicher Parteien in Deutschland gegenüber? Gibt es auch hier eine bestehende oder zunehmende Polarisierung? Um das herauszufinden, habe ich analysiert, welche Gefühle die Anhänger*innen aller größeren Parteien gegenüber ihrer eigenen Partei sowie den anderen Parteien haben. Die Datenbasis bildet das Politbarometer von 1977 bis 2020 mit insgesamt über 700.000 Befragten.
Betrachten wir die Parteipolitik, dann ist Deutschland nicht stark polarisiert oder gespalten. Es gibt keinen Riss, keine Spaltungslinie quer durch die Mitte. Es gibt jedoch eine starke Spaltung zwischen Anhänger*innen der AfD und den Anhänger*innen aller anderen Parteien. Das ist aber keine Spaltung durch die Mitte, sondern – wenn man die Ergebnisse der Bundestagswahl 2021 als Referenz nimmt – eine 90:10-Spaltung. Dieses Bild einer Spaltung in zwei Lager, welches in den Medien zuweilen gezeichnet wird, wäre für die USA vermutlich eine Übertreibung mit wahrem Kern. Für Deutschland im 21. Jahrhundert wäre dieses Bild aber vollkommen unpassend.
Unser Land besteht nicht aus zwei, sondern aus vielen politischen Lagern. Das Land ist in den letzten Jahrzehnten parteipolitisch sehr viel vielfältiger und fragmentierter geworden. Hierzu ein kleines Gedankenexperiment: Stellen wir uns vor, wir wählen zufällig zwei Wähler*innen in Deutschland aus. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie unterschiedliche Parteien wählen? In den 1970er und frühen 1980er Jahren lag diese Wahrscheinlichkeit noch bei circa 60 Prozent, bei den beiden letzten beiden Bundestagswahlen dann bei über 80 Prozent. Wer sich nicht aktiv abgrenzt, dem begegnen im Alltag also immer häufiger Menschen, die ihr Kreuz an einer anderen Stelle machen. Diese Zunahme der parteipolitischen Vielfalt beobachten wir in den meisten westlichen Demokratien, in Deutschland ist sie aber besonders stark ausgeprägt.
Von neutral bis positiv
Wie viel Sympathie Menschen für eine Partei aufbringen, hängt stark von der Distanz auf der Links-Rechts-Skala ab. Menschen haben tendenziell wärmere Gefühle für »benachbarte« Parteien als für Parteien, die auf dieser Skala weiter entfernt sind. In den meisten Partei-Paarungen, die nicht die AfD beinhalten, gibt es keine massive Ablehnung. Die Gefühle der Wähler*innen von CDU, CSU, SPD, den Grünen oder FDP für die anderen Parteien bewegen sich meist zwischen relativ neutral und positiv.
Auffällig ist aber: Die Anhänger*innen aller anderen Parteien empfinden eine sehr starke Ablehnung gegenüber der AfD. In dieser Ablehnung sind sich von der Linken bis zur CSU alle relativ einig. Bemerkenswert ist dabei, dass diese Ablehnung nicht im gleichen Ausmaß erwidert wird. Diese Asymmetrie bei radikalen rechten Parteien ist ein Muster, das vorherige Studien auch für einige weitere westliche Demokratien gezeigt haben.
Ist parteipolitische Ablehnung heute weiter verbreitet als noch vor Jahrzehnten? Die Ablehnung, die Anhänger*innen der anderen Parteien gegenüber der AfD haben, hat in den letzten Jahren noch deutlich zugenommen. Aber: In fast allen Partei-Paaren, die nicht die AfD beinhalten, bleiben die Gefühle konstant oder werden positiver. Eine deutliche Annäherung gab es etwa zwischen den Grünen und der SPD auf der einen und den Unionsparteien auf der anderen Seite. Auch das Verhältnis zwischen der Linkspartei und den Unionsparteien ist heute entspannter als es noch vor Jahrzehnten war.
In einer vielfältigen Gesellschaft zu leben bedeutet, dass man häufig auf Menschen trifft, die anders sind als man selbst, also zum Beispiel andere politische Vorstellungen haben und eine andere politische Partei unterstützen. Gesellschaftlicher Zusammenhalt kann dann nur funktionieren, wenn Menschen auch über Unterschiede hinweg miteinander umgehen und zusammenarbeiten können, sich also positiv oder zumindest einigermaßen neutral begegnen. Die Daten des Politbarometers zeigen: Wenn es um parteipolitische Anhängerschaft geht, dann ist das in Deutschland heute weitgehend gegeben.