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„Ihr seid nicht allein"

Der Verein „Erste Generation Promotion“ unterstützt Promovierende aus Nicht-Akademiker-Familien

Collage mit zwei jungen Frauen

Angefangen hat alles mit einer Art gegenseitigem Erkennen. Sandra Vacca, Stefanie Coché und Frauke Scheffler haben als Stipendiatinnen am Promotionsprogramm der a.r.t.e.s. Graduate School teilgenommen. Schnell merkten sie, dass sie ganz unabhängig von ihren Fächern eine Gemeinsamkeit teilen. 

„Zu Beginn unserer Promotionen haderten wir ganz offenbar mit sehr ähnlichen Problemen. Bald haben wir festgestellt, dass diese mit einem ähnlichen Hintergrund zusammenhängen: Wir alle kommen aus nichtakademischen Elternhäusern“, so Vacca. In ihren Familien sind sie die ersten, die an einer Uni waren, die ersten, die sich mit einem anschließenden Dissertationsprojekt auf das Wagnis eines akademischen Werdegangs eingelassen haben. 

Akademikerkinder sind ganz von selbst vernetzt

Die drei Doktorandinnen ahnten, dass sie nicht die einzigen mit Gesprächsbedarf sind. 2013 gründeten sie deshalb kurzerhand den Verein „Erste Generation Promotion“. Die mittlerweile auf fünf Mitstreiterinnen angewachsene Gruppe berät Personen, die sich in ähnlichen Situationen befinden. „Die ganz unterschiedlichen Themen auf uns zu. Vieles davon kennen wir aus eigener Erfahrung“, erklärt Ann-Kristin Kolwes, die ebenfalls zum Team gehört. 

Manche wollen sich grundsätzlich darüber informieren, was mit einer Promotion auf sie zukommt, andere erwarten sich einfach ein bisschen moralische Unterstützung. „Wir bemühen uns in unseren Beratungen, unterschiedliche Möglichkeiten aufzuzeigen. Uns geht es darum, Menschen zu ermutigen und ihnen zu helfen, auf der Grundlage von so vielen Informationen wie möglich selbst eine Entscheidung zu treffen. Vor allem aber zeigen wir ihnen, dass sie mit ihren Fragen nicht alleine sind“, so Kolwes. 

Doch auch sehr konkrete Fragen, zum Beispiel zur Finanzierung oder zur strategischen Entwicklung von Karrieren, werden mitunter an den Verein gerichtet. Wo sie nicht weiterhelfen können, leiten die Beraterinnen dann ans Albertus Magnus Graduate Center oder an die Prüfungsämter weiter. Eines der häufigsten Anliegen ist das Fehlen von gewachsenen Netzwerken: „Durch ihre Familien- und Bekannten sind Kinder aus Akademikerfamilien häufig ganz von selbst viel besser vernetzt und wissen, wen sie in Bezug auf ihre Projekte um Rat fragen oder von welchen Institutionen sie finanzielle Unterstützung bekommen können. Hat man diesen Rückhalt nicht, ist gerade am Anfang vieles schwieriger“, erklärt Vacca. 

Durch eigene Erfahrungen gezielt unterstützen

Was als eine Art Selbsthilfegruppe anfing, hat sich binnen kürzester Zeit zu einem etablierten Verein gemausert. „Wir haben ursprünglich als Projekt an der Philosophischen Fakultät angefangen. Dort liegt auch unsere Expertise. Allerdings bekommen wir immer wieder Anfragen aus ganz anderen Fachrichtungen und sogar von anderen Hochschulen“, so Kolwes. Für die Zielgruppe der Promovierenden und Promotionsinteressierten ist der Verein „Erste Generation Promotion“ nämlich bislang deutschlandweit die einzige Einrichtung, die Unterstützung anbietet. 

Neben persönlichen Beratungen umfasst er auch Vernetzungsangebote, zum Beispiel durch Stammtische und Gesprächsrunden und die Betreuung eines Mentoringprogramms. „Personen mit Beratungsbedarf treffen hier auf Mentorinnen und Mentoren, die ihren Hintergrund teilen“, erklärt Kolwes. „Innerhalb eines Jahres treffen sich die Tandems regelmäßig und sprechen über verschiedene selbst gewählte Themen. 

Dabei nutzen die Mentorinnen und Mentoren ihre inzwischen entstandenen persönlichen Netzwerke und können so zweifelnde Promovierende ganz gezielt unterstützen.“ Der Gruppe ist bewusst, dass nicht alle Personen, die als erste in ihren Familien studieren und promovieren, ihre Situation als problematisch empfinden. „Wenn das keine Schwierigkeiten mit sich bringt, umso besser", sagt Vacca. „Unsere eigenen Erfahrungen zeigen jedoch, dass sich dieser Hintergrund durchaus bemerkbar machen kann. Den Austausch in der Gruppe haben wir deshalb als enorm hilfreich wahrgenommen – ein echtes Empowerment.“ 

Der Begriff "bildungsfern" ist problematisch

„Erste Generation Promotion“ versteht sich nicht nur als Unterstützung. Mit dem Verein ist auch der Anspruch verbunden, eine möglichst breite Öffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren. Das Team ist davon überzeugt, dass zwar immer mehr Menschen aus nicht-akademischen Haushalten eine Universität besuchen, Chancenungleichheit deshalb jedoch nicht einfach verschwindet. Nicht zuletzt ist damit auch die Gefahr der Diskriminierung durch eine problematische Verwendung von Begrifflichkeiten verbunden. 

Immer wieder taucht zum Beispiel im Zusammenhang mit jungen Wissenschaftlerinnen wie Kolwes und Vacca die Bezeichnung „Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern“ auf – eine Verwendung, die die Gruppe für extrem problematisch hält. „Nicht nur für Hintergründe wie die unseren, sondern auch ganz grundsätzlich ist der Begriff ‚bildungsfern‘ nicht passend, da er Bildung lediglich über die Ausbildung definiert. 

Bildung sollte jedoch gerade im wissenschaftlichen System wesentlich differenzierter und komplexer gedacht werden", betont Kolwes. „Darüber hinaus ist der Begriff mit einer Menge Vorurteilen belastet. Wenn jemand keinen oder einen niedrigeren Schulabschluss hat, bedeutet dies ja nicht automatisch, dass er ungebildet ist. ‚Bildungsfern‘ legt jedoch genau das nahe. So entstehen viele Missverständnisse und Stigmatisierungen, die sich vermeiden ließen.“ 

Durch bundesweite Vernetzungen mit verschiedenen Diversity-Initiativen will der Verein „Erste Generation Promotion“ diesen Zustand nachhaltig ändern. Aus den zahlreichen Gesprächen, die die Beraterinnen in den letzten Jahren geführt haben, wissen sie: Wenn der Rückhalt fehlt, gibt manch einer den Wunsch zu promovieren bereits auf, bevor der Gedanke überhaupt zu Ende gedacht ist. Doch wie der Verein zeigt, kann man sich auch gegenseitig Unterstützung geben. 

Dass das Projekt damit auf dem richtigen Weg ist, dafür sind Vacca, Scheffler und Coché selbst die besten Beispiele. Die drei Gründungsmitglieder haben ihre Promotion inzwischen entweder bereits erfolgreich beendet oder stehen kurz davor. Sie sind nun couragiert genug, sich auf eine weiterführende Karriere einzulassen – auch in der Wissenschaft.