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Helferinnen beim Start ins Leben

An der Uni Köln werden seit dem Wintersemester 2021/22 Hebammen einer neuen Generation ausgebildet.

Die erste Person, der die meisten von uns auf dieser Welt begegnen, ist eine Hebamme – auch, wenn wir uns später nicht mehr an sie erinnern. An der Universität zu Köln werden seit dem Wintersemester 2021/22 Hebammen einer neuen Generation ausgebildet. Der erste Jahrgang ist jetzt fertig. Die Absolventinnen haben von Anfang an das besondere
Einfühlungsvermögen erlernt, auf das es in ihrem Job ankommt, und sind auch wissenschaftlich top ausgebildet. 

Anna Euteneuer und Hannah Reiter

 

Der Kopf des Babys ist schon zu sehen. Plötzlich geht es nicht mehr weiter. »Noch einmal kräftig pressen, Frau Lucina«, sagt Maria Rivera, Studentin der Hebammenwissenschaft im vierten Semester, zur Gebärenden. Aber nichts passiert. Nach einem weiteren erfolglosen Pressversuch tastet Rivera noch einmal nach. Sie vermutet, dass es etwas mit der Schulter des Kindes zu tun haben könnte. Antonia Henninghaus, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Hebammenwissenschaft, löst daraufhin die Bauchdecke von Frau Lucina, einer lebensgroßen, 80,000 Euro teuren Geburtssimulator- Puppe, ab. Nun können die Studentinnen sehen, was los ist. Tatsache: Die vordere Schulter des Babys klemmt im Becken der Mutter fest – eine so genannte Schulterdystokie. 

Julia Carl untersucht die Geburtspuppe ›Frau Lucina‹. Danach bespricht sie ihre Ergebnisse mit Kommilitonin Maria Rivera und Studiengangsleiterin Nicola Bauer

Bei dieser Komplikation im Geburtsverlauf kann die Schulter des Babys der Rotation des Kopfes durch den schraubenförmigen Geburtsweg nicht folgen. Dystokie heißt übersetzt schwere Geburt. Wäre die gleiche Situation in einem Kreißsaal passiert, hätte Rivera sofort Unterstützung angefordert, um wieder Bewegung in den Vorgang zu bringen. Sie weiß: »Das Wichtigste ist, die Nerven zu behalten.« Auch wenn die Schulterdystokie zu den am meisten gefürchteten Notfällen bei einer Geburt zählt, kann eine unaufgeregte Reaktion des Personals die Situation schnell entschärfen.

»In der Simulation lernen die angehenden Hebammen den Geburtsvorgang mit all seinen Eventualitäten kennen. Sie trainieren, um gut auf die Realität vorbereitet zu sein. Die stetige Übung ist für die angehenden Hebammen Gold wert«, sagt Professorin Dr. Nicola Bauer. Sie ist seit April 2022 die erste Professorin für Hebammenwissenschaft an der Medizinischen Fakultät in Köln.

Mit Bauers Berufung wurde an der Universität zu Köln als erster Volluniversität in NRW der Duale Studiengang ›Bachelor of Science Angewandte Hebammenwissenschaft‹ eingerichtet. Das Hebammenreformgesetz von 2020 sieht eine Akademisierung des Hebammenberufs vor, daher ersetzt das Duale Studium deutschlandweit die Ausbildung an Hebammenschulen. So entsteht ein enger Austausch mit der Forschung und neueste Erkenntnisse fließen schon in die Ausbildung der Hebammen ein. Die Studierenden lernen unter wissenschaftlicher Begleitung alles rund um die Geburt – in der Theorie, in lebensechten Simulationen, im VR-Labor und in der Praxis. Dreiundzwanzig angehende Hebammen verlassen dieses Jahr die Universität zu Köln mit einem Bachelorabschluss und nehmen ihre Arbeit auf.

Die Situation in Kreißsälen wird komplexer 

Frauen in Deutschland erleben eine Geburt im Schnitt ein bis zwei Mal in ihrem Leben. Es sind Ausnahmesituationen, in denen die werdenden Mütter und ihre Kinder auf professionelle Hilfe angewiesen sind. Doch die Qualität der geburtshilflichen Versorgung in Deutschland ist auch nach den zuletzt 2022 erhobenen Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im internationalen Vergleich nur mittelmäßig. Die Säuglingssterblichkeit liegt im Vergleich zu anderen europäischen Ländern im Mittelfeld. Besonders niedrig ist der Wert der Säuglingssterblichkeit in den skandinavischen Ländern, aber auch in Slowenien und Spanien. Deutschland erreicht bei der Niedrigrate von Todgeburten lediglich Platz 28 von 45 Ländern mit hohem Einkommen.

In der Realität ist jede Geburt anders, weiß die angehende Hebamme Julia Carl. Mit der lebensechten Puppe ›Frau Lucina‹ üben sie und ihre Kommilitoninnen schon mal alle Eventualitäten

Warum die Versorgung in Deutschland so abschneidet, liegt laut einer Stellungnahme der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung vom November 2024 in fehlenden personellen Ressourcen, regionalen Versorgungsstrukturen und demografischen Entwicklungen begründet.

Gleichzeitig wird die Situation in den Kreißsälen komplexer. Das liegt jedoch – davon ist Nicola Bauer überzeugt – nicht allein an den Bedingungen im Gesundheitswesen, sondern auch am Wandel der Lebensumstände: Familien werden später gegründet, Frauen werden in höherem Alter Mütter. Aufgrund von verbesserten Medikamenten sind chronische Erkrankungen wie ein Herzfehler heute kein Ausschlusskriterium für den Kinderwunsch. Auch die Reproduktionsmedizin eröffnet Paaren immer mehr Möglichkeiten, auch in fortgeschrittenem Alter oder mit Vorerkrankungen noch Kinder zu kriegen.

Diese Ausgangslage fordere sowohl von den Ärzt*innen als auch den Hebammen und anderen medizinischen Fachkräften im Kreißsaal ein hohes Maß an Flexibilität, Professionalität und Reflexion. Das neue Duale Studium wird daran nichts verändern, doch die Aufwertung durch die Akademisierung des Berufs könne Hebammen neue Handlungsspielräume eröffnen.

Professionell handeln, einfühlsam reagieren

Neben den medizinischen Kompetenzen erlernen die angehenden Hebammen an der Uni Köln alles rund um eine wertschätzende Kommunikation auf Augenhöhe – sei es mit den werdenden Eltern oder auch mit Kolleg*innen. »Das Einbeziehen in Entscheidungen der werdenden Eltern hat große Auswirkungen auf das Geburtserleben und somit für die weitere Entwicklung der Paarbeziehung, der Eltern-Kind-Beziehung sowie der Selbstwahrnehmung und Eigenkompetenz der werdenden Eltern«, sagt Bauer. Im Gegensatz zu großen internationalen Erhebungen, wie zum Beispiel der ursprünglich in Australien entwickelten und in dreizehn Ländern wiederholten ›Birth Experience Study‹ (BESt), gibt es in Deutschland bis her nur wenige Untersuchungen, die das Geburtserleben untersuchen. 

Im Juli 2024 erschien unter Beteiligung des Instituts für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationsforschung (IMVR) der Universität zu Köln eine Studie, die untersuchte, wie sich geburtshilfliche Interventionen auf das individuelle Wahrnehmen der Geburt auswirken. Sie wertete das Erleben der Geburt bei rund 1.000 Frauen aus. Die Studie zeigt, dass die Frauen insgesamt die Geburt mit 3,09 von 4 Punkten als eher positiv bewerten – vor allem, wenn keine geburtshilflichen Interventionen wie der manuelle Druck auf den Bauch (Fundusdruck), ein ungeplanter Kaiserschnitt, ein Dammschnitt oder eine vaginal-operative Geburt (Saugglocke/Zange) nötig waren.

Abgefragt wurde eine Bewertung der Erfahrungen zu den ›eigenen Fähigkeiten‹, der ›professionellen Unterstützung‹, der ›wahrgenommenen Sicherheit‹ und der ›Beteiligung‹ während der Geburt. Nach geburtshilflichen Interventionen waren Frauen insgesamt unzufriedener. Es zeigte sich jedoch, dass diese Unzufriedenheit aufgefangen und sogar ausgeglichen werden konnte, wenn die Selbstwirksamkeit der werdenden Mutter – ihre innere Überzeugung, diese schwierige Situation aus eigener Kraft gut meistern zu können – durch beispielsweise eine positive Kommunikation gestärkt wurde.

»Dass wir solche empirischen Ergebnisse nun für Deutschland haben, ist ein Schritt in die richtige Richtung«, sagt Bauer. Auch am Kölner Institut für Hebammenwissenschaft sowie an weiteren Instituten der Universität und der Uniklinik werden aktuell Studien zur Geburtshilfe durchgeführt oder sind in Planung. Die Daten erlauben Bauer zufolge einen Blickwechsel: Neben der biomedizinischen Sicht auf Krankheit und Gesundheit bei der Geburt komme stärker ein Bewusstsein dafür auf, werdende Mütter, Familien und Kinder gut und sicher durch die Geburt zu begleiten. Dieser Ansatz wird auch als ›frauenzentrierte Geburtshilfe‹ bezeichnet. Er ist Kern der 2018 veröffentlichten Handlungsempfehlung der Weltgesundheitsorganisation für die Geburtshilfe und spiegelt sich in den Inhalten des Dualen Studiengangs wider.

Von der Simulation in die Realität

Die angehenden Hebammen lernen bereits früh, theoretisch erlerntes Wissen anzuwenden. Während des Semesters belegen sie praktische Übungen im KISS, dem Kölner interprofessionellen Skills Lab und Simulationszentrum. Dort finden die Studentinnen eine praxisnahe Lernumgebung vor, in der sie mit medizintechnischem Equipment, Modellen und Simulationspersonen den Alltag oder Notfall üben können – wie etwa die Schulterdystokie bei ›Frau Lucina‹. 

Im Center for Medical Innovation and Technlogy erleben die angehenden Hebammen den Geburtsvorgang in einer Virtual Reality-Umgebung

Um die Geburtsmechanik in all ihren Details genau zu verstehen, können die angehenden Hebammen seit dem Wintersemester 24/25 zusätzlich im neuen Center for Medical Innovation and Technology der Medizinischen Fakultät und der Uniklinik, kurz CeMIT, den Geburtsprozess in einer Virtual Reality-Welt erleben. Im Projekt ›Virtual training for obstetric birth simulations‹ (V.T.O.B.S.) setzen sich Studierende der Humanmedizin und der Hebammenwissenschaft eine VR-Brille auf und können in einem 360-Grad-Video den Geburtsvorgang verfolgen. Eine Gebärende wird in verschiedenen Positionen dargestellt, und zusätzlich ermöglicht der Blick ins Innere des Körpers eine detaillierte Visualisierung des Fetus während des Geburtsvorgangs. Verschiedene Perspektiven zeigen den Prozess vom Beckeneingang bis zur Schultergeburt in einer 3D-Animation.

Auch, wenn sie mit Modellen oder in einer virtuellen Welt erlebt werden, fühlen sich die Geburtssimulationen für die Teilnehmerinnen sehr echt an. »Bis ins letzte Detail kann einen nichts und niemand darauf vorbereiten, weil jede Frau und jede Geburt individuell sind«, sagt Julia Carl, Studentin im siebten Semester. »Was man hier jedoch üben kann, ist die Logistik: Welche Hilfsmittel stehen mir zur Verfügung, was brauche ich alles für eine Geburt? Was auch schön ist – Fehler dürfen passieren. Man kann alles danach besprechen, noch einmal in die Situation reingehen und üben.« 

Ein 360-Grad-Video des ›Virtual Training for Obstetric Birth Simulations‹ zeigt alle Aspekte des Geburtsvorgangs

In der realen Geburtssituation sind Hebammen immer wieder auch mit Situationen konfrontiert, in denen Entscheidungen schnell getroffen werden müssen und wenig Diskussion möglich ist. Eine solche Situation wäre zum Beispiel ein ungeplanter Kaiserschnitt, der eilig durchgeführt werden muss. »Viele Frauen berichten hinterher, dass niemand in der Notfallsituation mit ihnen gesprochen hat. Das kann traumatisierend wirken«, so Bauer. Die Frauen hätten schreckliche Ängste, sogar Todesängste um sich selbst und um das Kind. Im Studiengang wird geübt, wie die werdenden Eltern in einer solchen Notsituation beruhigt und informiert werden können. Auch bei einem Notkaiserschnitt bleiben ein paar Sekunden Zeit, um die Notwendigkeit verständlich zu machen. Manchmal reiche auch einfach ein »Achtung, es muss jetzt schnell gehen« aus, um die Familien kommunikativ mitzunehmen, und nach der Geburt in Ruhe über das Geschehene zu sprechen.

Auf ganz viele Geburtstage

Mit der Akademisierung des Hebammenberufs wächst eine neue Generation von Hebammen heran. »Wir haben reflektierende Praktikerinnen, die kritisch nachfragen und evidenzbasiert und interprofessionell arbeiten möchten«, sagt Nicola Bauer. Viele Studentinnen fragen auch nach einer Fortführung der akademischen Ausbildung. »Wir brauchen Masterprogramme und Promotionsprogramme, denn wir haben noch zu wenige akademisierte Hebammen, die zum Beispiel auch Professorinnen werden können oder als Postdocs in die Forschung gehen «, fügt die Studiengangsleiterin hinzu. Das wird sich bald ändern: Zum Wintersemester 25/26 startet an der Medizinischen Fakultät der neue Master of Science-Studiengang ›Advanced Midwifery Practice‹.

Die frisch ausgebildeten Absolventinnen des Dualen Studiengangs gehen meist zunächst in die Praxis und können dort eine entscheidende Rolle in der Gesundheitsversorgung von Müttern, ihren Neugeborenen und Familien spielen. Nicht zuletzt, was die Wertschätzung für diesen medizinischen Fachberuf in der Gesundheitsversorgung anbelangt. Bauer sieht die frisch gebackenen Absolventinnen als ›Hebammen 2.0‹, als Change Agents, die nicht nur medizinisch top ausgebildet sind, sondern auch wichtige Themen rund um sexuelle und reproduktive Gesundheit sowie Rechte einbringen.

Studiengangsvideo