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Geklaute Gene

Evolution ohne Sex: Wie Milben seit Millionen Jahren überleben

Holzmilbe

Zuweilen erreichen uns eigentümliche Themen, die in der Redaktion so manches »Aah« oder »Ooh« auslösen. Wir sind Fans von Forschung in ihren farbenfrohen Formen. 

Die Hornmilbe ist wieder da. Erinnern Sie sich noch? Vor vier Jahren war sie schon einmal der Star dieser damals noch jungen Rubrik. Vorgestellt wurde Ihnen das sich asexuell fortpflanzende Krabbeltierchen als selbstgenügsame »femme totale«. Ohne jeglichen Beziehungsstress waldbadet sie täglich und wird dafür mit einem für ihre Verhältnisse langen Leben belohnt. 

Die Forschungsgruppe des Kölner »Sex Lab« um Dr. Jens Bast am Zoologischen Institut beschäftigt sich schon seit Jahren mit den Besonderheiten dieser »uralten Asexuellen« – immerhin existiert sie schon seit 380 Millionen Jahren. Nun hat die Biologin Dr. Hüsna Öztoprak neue Erkenntnisse dazu gewonnen, wie sich die Hornmilbe schon so lange erfolgreich als alleinerziehende Mädchenmutti durchboxt. Zunächst zur sexuellen Fortpflanzung: 99 Prozent der tierischen Erdbewohner nutzen sie. Ihr entscheidender Vorteil: Das wilde Zusammenwerfen des männlichen und weiblichen Genoms sorgt für genetische Vielfalt. Dadurch können sich Mensch und Tier schneller an Umweltveränderungen anpassen. Punktsieg für den Sex. 

Doch die sexuelle Fortpflanzung ist auch mit Risiken verbunden: Während des Geschlechtsakts sind wir – theoretisch – wehrlos Raubtieren ausgesetzt. Und sexuell übertragbare Krankheiten sind ein Problem, mit dem sich unsere asexuellen Genossinnen nicht rumschlagen müssen. Außerdem verursachen Männchen hohe demographische Kosten. Nach dem Geschlechtsakt haben sie – zumindest evolutionsbiologisch gesehen – ihre Funktion erfüllt und verbrauchen danach nur noch unnötig Ressourcen. Bei der Gattung Mensch kommen zusätzlich noch einige übermäßig reiche und mächtige Männchen hinzu, die ohne sachliche Grundlage von der eigenen Fähigkeit zur Weltgestaltung überzeugt sind. Die Kosten, die vermieden werden könnten… 

Trotz dieser Risiken gibt es neben der Hornmilbe nur einige wenige Tierarten, die es in dieser Welt ausschließlich mit den Pronomen sie/ihr gibt: eine Handvoll Fische, Haie, Muschelkrebse und Stabheuschreckenarten. Tiere wie der weibliche Komodowaran sind flexibel und greifen nur im Notfall ausschließlich auf die eigenen genetischen Ressourcen zurück. Man muss sich zu helfen wissen bei akutem Männchenmangel. Allerdings ist keine dieser Arten schon so lange dabei wie die Hornmilbe, die unbeirrt von evolutionären Trends aus sich heraus Leben wachsen lässt.

Die weiblichen Nachkommen der Hornmilbe sind Klone ihrer Selbst – bis auf vereinzelte Männchen, die hin und wieder »aus Versehen« entstehen, sich aber nicht fortpflanzen. Doch wie löst die Hornmilbe das Problem der dringend benötigten genetischen Varianz? Zunächst braucht es einen doppelten Chromosomensatz. Den besitzt die Hornmilbe auch ohne Partner. Ihr besonderer Trick besteht darin, dass sich die zwei Kopien unabhängig voneinander entwickeln. So entstehen neue genetische Varianten und Unterschiede in der Genexpression. Sie ermöglichen es ihr, auf Umweltveränderungen zu reagieren. 

Doch das schlaue Spinnentier hat noch ganz andere Tricks im metaphorischen Ärmel: Sie kann das Erbgut anderer Organismen in ihr eigenes integrieren, also quasi von anderen Tieren klauen. Dieser sogenannte horizontale Gentransfer kann der Hornmilbe zum Beispiel dabei helfen, Zellwände zu verdauen und so ihr Nahrungsspektrum zu erweitern. Ob dieser Transfer konsensual geschieht?

Dann gibt es noch sogenannte transponierbare Elemente, oder »springende Gene«. Hüsna Öztoprak beschreibt sie wie Buchkapitel, die an eine andere Stelle verschoben werden und so die Geschichte – also die genetische Information – verändern können. 

Die vielen Hornmilbentöchter sind also doch nicht vollständige Klone ihrer Mütter. Und das ist sicherlich auch im Tierreich gut so: Wer will schon später genauso werden wie die eigene Mutter.