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Geheime Mächte und Strippenzieher

In der Pandemie nimmt der Glaube an geheime Mächte zu. Neu ist er nicht.

Verschwörungstheorien erleben in der Pandemie eine Blütezeit, aber sie sind kein neues Phänomen. Viele der Erzählungen bauen auf älteren Vorbildern auf und sind erstaunlich widerlegungsresistent. Dennoch führt kein Weg am Dialog mit ihren Anhängerinnen und Anhängern vorbei, denn Verschwörungsglaube ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Von Eva Schissler
 

Was früher womöglich als eher harmlose oder ausgefallene Marotte einiger Weniger galt, ist mit der Coronapandemie ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt: Verschwörungstheorien. Ein prominentes Beispiel in Deutschland ist aktuell die sogenannte Querdenker-Bewegung, der auch von Seiten der Wissenschaft eine Affinität zu verschwörungstheoretischem Denken attestiert wird. Einige ihrer Anhänger und Anhängerinnen halten das Coronavirus für eine Erfindung der Regierung mit dem Zweck, Grundrechte einzuschränken.

Verschwörungstheorien – Der Begriff ist in der Wissenschaft in die Kritik geraten, da »Theorie« eine rationale Fundierung der Überzeugungen suggeriere. Daher schlagen einige Forschende stattdessen die Bezeichnungen Verschwörungserzählungen, -mythen, -ideologien oder -mentalitäten vor. Andere plädieren jedoch weiterhin für den Gebrauch des gängigen Begriffs der Verschwörungstheorie.

Derartiger Verschwörungsglaube ist zunächst Privatangelegenheit. Doch wer das Coronavirus für eine Erfindung hält, wird sich womöglich auch nicht im Sinne der Pandemiebekämpfung verhalten. Zudem erwiesen sich Querdenker- Kreise als offen für antisemitische und staatsfeindliche rechte Ideologien. Auch die verbreitete Onlinesekte QAnon ist für derartige Ideologien anfällig. Ihre Anhänger glauben an einen vermeintlichen Geheimdienstler in höchsten amerikanischen Staatskreisen, der einen im Verborgenen agierenden Ring Kinder quälender US-Demokraten und Hollywoodstars »entlarvt « haben soll.

Verschwörungsglaube ist auch eine Frage der Persönlichkeit

Dass Verschwörungstheorien in einer Krisensituation wie einer Pandemie zunehmen, ist für den Sozial- und Medienpsychologen Professor Dr. Dr. Kai Kaspar nicht verwunderlich. Die aktuelle Pandemie ist komplex und hat plötzlich viele Bereiche des privaten und gesellschaftlichen Lebens in großem Ausmaß verändert. Damit einher können Kaspar zufolge Gefühle der Unsicherheit und der mangelnden Kontrollierbarkeit der Situation gehen. Zudem seien Zuschreibungen von Verantwortlichkeiten nicht immer leicht. »In einer solchen Situation sind Menschen für potentielle Gefahren sensibilisiert und suchen nach Mustern, die eine Zuschreibung von Ursache und Wirkung nahelegen. Verschwörungstheorien bieten hier eventuell einfache Erklärungen an«, sagt der Wissenschaftler. Außerdem zeige die Forschung Zusammenhänge zwischen individueller Verschwörungsmentalität einerseits sowie Selbstwertgefühl und narzisstischen Tendenzen andererseits. »Grundsätzlich können viele weitere Faktoren wie individuelle Motive und Denkstile einen bedeutsamen Einfluss darauf haben, wie offen Menschen für Verschwörungsvorstellungen sind«, fügt er hinzu.

In der Mitte der Gesellschaft angekommen

Dass Verschwörungsglaube keine gesellschaftliche Randerscheinung mehr ist, zeigt eine Umfrage der Universität Leipzig. Die alle zwei Jahre durchgeführte Autoritarismus- Studie untersucht die Entwicklung rechtsextremer Einstellungen in Deutschland. Dabei wird auch der Glaube an Verschwörungsmythen abgefragt. Für das Jahr 2020 kam die Studie zu dem Ergebnis, dass dieser Glaube zugenommen hat. Zwischen einem Viertel und einem Drittel der Menschen in Deutschland glauben demnach, dass es geheime Organisationen gibt, die großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben, und dass Politikerinnen und Politiker und andere Führungspersönlichkeiten nur Marionetten dahinterstehender Mächte sind. In Bezug auf die Pandemie sind die Zahlen noch eindeutiger: Fast die Hälfte der Bevölkerung glaubt, dass die tatsächlichen Hintergründe der Corona-Erkrankung nie ans Licht der Öffentlichkeit kommen werden.

Autoritarismus-Studie – Oliver Decker und Elmar Brähler vom Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung an der Universität Leipzig führen mithilfe von regelmäßigen repräsentativen Umfragen eine Langzeituntersuchung zu rechtsextremen und antidemokratischen Einstellung in Deutschland durch.

Professorin Dr. Gudrun Hentges forscht zur populistischen und extremen Rechten und zu Möglichkeiten der Prävention durch politische Bildung. Am 29. August 2020 war die Politikwissenschaftlerin bei der Demonstration gegen die Coronamaßnahmen in Berlin dabei, um mehr über diesen erstaunlich weit verbreiteten Glauben zu erfahren.

In den Gesprächen, die sie mit Demonstrierenden führte, stellte sie trotz ihrer viel kommentieren Vielfalt – Impfgegner, Anthroposophen und Homöopathen mit Regenbogenflagge an der Seite von Rechtsextremen mit Reichskriegsflagge – eine große Übereinstimmung in der Grundüberzeugung fest: »Es soll eine kleine Gruppe von Menschen geben, die weltweit im Verborgenen die Weichen stellen. In diesem Fall waren es immer der Finanzinvestor George Soros, der Unternehmer Bill Gates und Bundeskanzlerin Angela Merkel.« Frei aus der Luft gegriffen sind diese Erzählungen selten. Sie beruhen auf älteren Mythen, denen zumeist ein illiberaler, antisemitischer Kern zugrunde liegt.

Historische Wurzeln von Verschwörungstheorien

Die Vorstellung von einer geheimen Elite, die das Weltgeschehen lenkt, geht auf einen zentralen Text zurück: Die Protokolle der Weisen von Zion. Der Text tauchte 1903 erstmals im Russischen Reich auf, wurde nach dem Ersten Weltkrieg in viele Sprachen übersetzt und verbreitete sich weltweit. Die »Protokolle« sollen ein vermeintliches Treffen von Rabbinern (der »Weisen von Zion«) auf einem Friedhof in Prag dokumentieren, bei dem sie unter anderem durch Kontrolle über das Finanzwesen und die Presse sowie Angriffe auf Kirche und Christentum die Übernahme der Weltherrschaft planen. Obwohl das Schriftstück als Fälschung entlarvt wurde, waren seine Rezeption und Wirkung weltweit enorm.

Die Protokolle der Weisen von Zion – Die Autorenschaft dieses Schlüsseltextes des Antisemitismus ist umstritten. Der Autor oder die Autoren stammen wohl aus rechtsideologischen Kreisen in Russland oder der Ukraine. Eine Beteiligung der zaristischen Geheimpolizei Ochrana gilt als möglich, ist aber nicht zweifelsfrei erwiesen. Der Text ist in weiten Teilen erfunden, einige Passagen beruhen auf einem Plagiat. Die Aufklärung dieses Umstandes durch die Londoner »Times« 1921 steigerte paradoxerweise nur noch die Bekanntheit und Rezeption der »Protokolle «. In Nazideutschland dienten sie als Schulstoff, noch heute propagieren prominente rechte Ideologen die vermeintliche Echtheit des Dokuments.

Die Erzählung der QAnon-Anhänger knüpft Gudrun Hentges zufolge an noch ältere antisemitische und antijudaistische Muster an: »Dass es eine Welt geben soll, in der Politiker und Prominente Kinder foltern und opfern, um aus ihrem Blut eine Verjüngungsdroge zu gewinnen, ist nichts anderes als eine Wiederauflage der Erzählung vom jüdischen Ritualmord.«

Ab dem 12. Jahrhundert verbreitete sich in Europa der Mythos, Juden würden zum Pessachfest das Blut christlicher Kinder für magische Riten verwenden. Neben der Erzählung von Brunnenvergiftungen durch Juden besonders während der Pestepidemien des Mittelalters war dies eine der langlebigsten antisemitischen Erzählungen und diente als Rechtfertigung für Pogrome und Hetzkampagnen.

Hentges ist nicht überrascht, dass solche Vorstellungen in Pandemiezeiten auch in Deutschland in neue Erzählungen gegossen werden: »Ein Land, das eine lange Tradition des Antisemitismus und Antijudaismus hat, ist anfällig für Erzählungen, in denen chiffriert auf Antisemitismus rekurriert wird.«

Rechtsextremes Gedankengut salonfähig machen

Kaspar sieht mit Blick auf die Pandemiebekämpfung wichtige Gründe, Verschwörungsglauben nicht zu ignorieren. »Je stärker Menschen an Verschwörungstheorien bezüglich des Coronavirus glauben, desto weniger sind sie gewillt, Schutzmaßnahmen wie das Tragen von Masken, das Einhalten von Abstandsregeln und Impfungen durchzuführen. Das haben Untersuchungen gezeigt«, sagt der Psychologe.

Hentges hingegen ist überzeugt, dass das gemeinsame Marschieren von Reichsbürgern oder Anhängerinnen der Identitären Bewegung und Gruppen aus der Mitte der Gesellschaft dazu dient, rechtsextremes Gedankengut salonfähig zu machen. Dass diese Gruppen vorgeben, das Grundgesetz und die Demokratie zu verteidigen, lässt sie nicht gelten: »Wenn man eine ›verfassungsgebende Versammlung‹ einberuft, was bei den Querdenken-Demonstrationen passiert ist, heißt das, dass man das Grundgesetz und die Existenz der Bundesrepublik nicht akzeptiert.« Damit nehme jeder und jede Teilnehmende an diesen Demonstrationen in Kauf, Antisemitismus, Rassismus, Autoritarismus und Nationalismus stark zu machen.

Das Auseinanderdriften der Realitäten stoppen

Die Politikwissenschaftlerin und der Medienpsychologe sind jedoch hoffnungsvoll, dass man Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungstheorien erreichen kann. Auch aus pragmatischen Gründen: »Wir können ja nicht einfach sagen, dass wir mit einem Drittel unserer Bevölkerung nicht mehr reden«, sagt Hentges.

Kaspar betont die besondere Bedeutung von verlässlichen Informationen in den Medien: »Ebenso schnell und extensiv wie sich das Virus ausbreitet, breiten sich auch pandemiebezogene Informationen – richtige wie falsche – über Medien aus. Für dieses Phänomen hat sich neuerdings das Kunstwort ›Infodemie‹ etabliert.« Um dabei nicht den Überblick zu verlieren, brauche es vertrauensvolle Informationsquellen, die als solche erkannt werden können. Gleichzeitig müsse kritischer und vielperspektivischer Diskurs ermöglicht werden, um verschiedene Lebensrealitäten abzugleichen und gegenseitiges Verständnis zu erreichen.

Eine weitere wichtige Strategie liege darin, die sozialen Medien in die Verantwortung zu nehmen, da sind sich Hentges und Kaspar einig. Unwahre Inhalte sollten als solche identifiziert und auf Hetze und Beleidigendes (Hassrede) angemessen reagiert werden. Kaspar erklärt: »Der Umgang mit Hassrede im Internet ist jedoch eine vielschichtige und gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Evidenzbasierte Gegenargumente und ›Netiquette‹ sind wichtig, aber auch rechtlich einwandfreie Verfahren zur Prüfung und Beurteilung zahlloser Beiträge und Kommentare.«

Doch Hentges zufolge sind nicht nur die Verbreitungswege für Verschwörungstheorien verantwortlich zu machen. Polarisierungen und ein gesellschaftliches Auseinanderdriften können ihr zufolge auch dadurch verhindert werden, dass man Menschen erst gar nicht ausschließt – durch Armut, soziale Ungleichheiten und ungleiche Bildungschancen. »Kinder und Jugendliche dürfen sich nicht nur als Objekte von Politik betrachten, sondern müssen einbezogen werden in politische Prozesse.« Überwindung der sozialen Ungleichheit, Stärkung der politischen Bildung und der politischen Teilhabe könnten Verschwörungsmentalitäten zurückdrängen und ihnen langfristig entgegenwirken.