Wenn Blut fließt oder ein Mensch das Bewusstsein verliert, ist klar, was zu tun ist: unverzüglich die 112 wählen. Seelisches Leid ist weniger offensichtlich, bedarf aber genauso der Behandlung. Wie es gelingt, die Anzeichen zu erkennen und einfühlsam zu handeln, vermittelt ein neues Programm am Exzellenzcluster für Alternsforschung CECAD.
Von Anna Euteneuer
Stabile Seitenlage, Druckverband und Wiederbelebung. Das lernt jede und jeder das erste Mal in der Schule oder für die Führerscheinprüfung. Dieses Wissen muss selbstverständlich regelmäßig aufgefrischt werden, damit es in Gefahrensituationen schnell angewendet werden kann. Doch was ist mit psychischen Leiden?
Wie wichtig mentale Gesundheit ist, erfahren wir gerade in Zeiten von Pandemie, Kriegen und Klimakrise. Mehr als 40 Prozent der Menschen in Deutschland erleben mindestens einmal im Leben eine behandlungsbedürftige psychische Störung. Diese gilt es zu erkennen und die Menschen zu unterstützen. Doch es gibt viel zu wenige Therapieplätze. Zur Zeit warten Betroffene mindestens ein halbes Jahr. Das ist zu lange. Hier können Ersthelfer für mentale Gesundheit (oder Mental Health First Aiders, kurz MHFA) unterstützen.
Am Kölner Exzellenzcluster für Alternsforschung CECAD wurden 2022 sieben Mitarbeiter*innen zu MHFAs ausgebildet. »Wir hoffen, dass wir mit dem MHFA-Programm unser Miteinander im Forschungszentrum optimieren können. Ausgebildete MHFAs sind Anlaufstellen für Arbeitskolleg*innen und können auch aktiv auf diese zugehen und Unterstützung anbieten«, sagt Dr. Julia Zielinski, Leitende Koordinatorin Bildung, Berufliche Entwicklung & Vielfalt am CECAD. Doch dabei will sie es nicht belassen: »Unser Ziel ist es, jedes Jahr weitere MHFAs auszubilden, um das Netzwerk zu erweitern und zu verdichten.«
MHFA – Das australische Mental Health First Aid-Programm ist bereits in 26 Ländern verbreitet. Unterstützt wurde das Projekt in Deutschland anfangs von der Dietmar-Hopp-Stiftung. Mittlerweile wird es von der Otto-Beisheim-Stiftung und vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit ausgeführt.
Nicht sehr glücklich in den vergangenen Monaten
Das MHFA-Programm soll das Wissen über psychische Gesundheit verbessern, stigmatisierendes Verhalten vermindern und das Vertrauen in die eigenen Helferkompetenzen erhöhen. In diesem Zuge kann eine Teil nahme auch die eigene psychische Gesundheit stärken. »Im Kurs lernten wir die Red Flags, also die Warnsignale für für häufige psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angstzustände, Psychosen sowie Drogen- und Alkoholmissbrauch kennen. Diese müssen erkannt werden, um Menschen helfen zu können«, sagt Désirée Schatton, Labormanagerin und MHFA am CECAD.
Um Menschen bei Problemen mit ihrer mentalen Gesundheit helfen zu können, bedarf es nicht eines roten Plastikkoffers mit einem weißen Kreuz drauf, der an unsere Nachbarn im Süden erinnert. Es ist wohl eher der locker-flockige Spruch »Alles ROGER? «. Diese Frage tatsächlich zu stellen, könnte womöglich bei Betroffenen Befremden auslösen. Darum geht es auch nicht. ROGER ist vielmehr ein roter Faden für die Ersthelfer*innen.
Nach diesem Programm ausgebildete Ersthelfer*innen für mentale Gesundheit können eine besondere Rolle innerhalb einer Gruppe spielen – etwa am Arbeitsplatz wie bei CECAD. Sie sind aufmerksam und vertrauenswürdig. »Mich hat die Ausbildung angesprochen, weil ich in meiner Position als Labormanagerin mit vielen Menschen Kontakt habe und hier oft die Vermittlerrolle übernehme. Das führte auch schon zu Situationen, in denen Menschen mentale Unterstützung bei mir suchten«, sagt Schatton. Generell kann sie die Ausbildung für jede und jeden nur empfehlen, denn man lerne, unvoreingenommen auf Menschen zuzugehen und ihnen zu helfen. Das ist dringend nötig in unserer Gesellschaft: Eine Befragung einer deutschen Versicherung zeigt, dass mehr als die Hälfte der Deutschen zurzeit nicht sagen können, dass sie in den letzten Monaten sehr glücklich waren.
Wissenschaft – Traumjob mit Abstrichen
Eine Motivation von Julia Zielinski, das MHFA-Programm an einer wissenschaftlichen Einrichtung wie dem CECAD anzubieten, liegt auch in einigen Aspekten der Arbeit dort begründet. Sicherlich ist es bereichernd, sich in der Forschung voll und ganz auf das zu konzentrieren, was einen interessiert. Doch der Wissenschaftsbetrieb geht mit Risiken und Nebenwirkungen einher: Neben der allgemein hohen Inzidenz von psychischen Problemen, die zusätzlich durch die Pandemie verstärkt wurde, zeigte bereits 2017 eine belgische Studie, dass jede*r zweite Promovierende unter psychischen Problemen leidet. Bei jedem dritten bestehe das Risiko einer psychiatrischen Störung.
Belgische Studie – »Work organization and mental health problems in PhD students«
Zudem sei die Prävalenz, also das Vorkommen von psychischen Problemen, bei Doktorand*innen höher als in der hochqualifizierten Allgemeinbevölkerung, bei hochqualifizierten Arbeitnehmern oder bei Studierenden.
Der Hauptgrund dafür: Promovierende stehen unter enormem Druck. Ihre wissenschaftliche Arbeit soll in hochkarätigen Fachzeitschriften veröffentlicht werden. Auch wenn dies selten Voraussetzung für die Promotion ist, beeinflusst es die Arbeitsweise, denn für die weitere akademische Karriere ist wichtig, wieviel und wie renommiert publiziert wurde. Und sie stehen unter Zeitdruck – Promovierende werden immer nur für eine begrenzte Anzahl an Jahren eingestellt. Während dieser Zeit besteht zudem ein Abhängigkeitsverhältnis zu dem Lehrstuhlinhaber oder der Lehrstuhlinhaberin, was es erschweren kann, für die eigenen Rechte als Arbeitnehmer*in einzustehen. Das führt nicht selten dazu, dass Promovierende zusätzlich Lehrtätigkeiten oder Aufgaben in anderen Projekten wahrnehmen, die nicht direkt etwas mit ihrer Promotion zu tun haben.
Auf die Promotion folgt die Postdoc-Phase. Auch hier lässt der Druck in der Wissenschaft nicht nach. Um überhaupt eine Chance zu haben, sich im späteren Verlauf der Karriere auf die wenigen vorhandenen Stellen als Arbeitsgruppenleitung oder gar auf eine Professur zu bewerben, müssen Postdocs erneut ihre Arbeit in renommierten Fachzeitschriften veröffentlichen – am besten innerhalb der ersten drei Jahre der Postdoc-Phase. Die daraus resultierenden Zukunftsängste können die seelische Belastung noch verstärken.
Für Zielinski ist die Schlussfolgerung klar: »Auch unabhängig vom akademischen Grad kennt fast jeder in seinem Umfeld jemanden, der unter psychischen Problemen leidet oder gelitten hat. Je früher Betroffene Unterstützung erhalten, desto höher sind ihre Heilungschancen.« Gut möglich, dass die Initiative des CECAD hier Schule macht.