Entwicklung im Zeitraffer
Sedimente aus einem Paläosee im Süden Äthiopiens zeigen, unter welchen Umweltbedingungen Homo sapiens über Hunderttausende von Jahren gelebt hat – und wann ihm Klimastress zu schaffen machte. War der frühe moderne Mensch ein Klimaflüchtling?
Von Eva Schissler
Für die Mosquitos war es ein Fest, als die Forschenden und Ingenieur*innen aus aller Welt in der Region des Chew Bahir Sees im Süden Äthiopiens einfielen. In dieser kargen Landschaft ist solch fette Beute sonst rar. Hin und wieder ziehen Menschen vom Viehzucht treibenden Volk der Hamar durch die Gegend. Doch ansonsten gleicht der ausgetrocknete See, der in früheren Zeiten fünf Mal so groß wie der Bodenseen war, einer Mondlandschaft. Bis auf die Moskitos, die in Erdritzen lauern und sich bei Anbruch der Nacht auf Neuankömmlinge stürzen. »Wir haben unsere Hosenbeine und Ärmel mit Klebeband zugeklebt, aber wir waren trotzdem völlig zerstochen«, sagt Dr. Verena Förster vom Institut für Geographiedidaktik.
Das internationale Team verbrachte im November 2014 sechs Wochen vor Ort und bohrte rund um die Uhr mit schwerem Gerät zwei nebeneinander liegende Löcher in den Seeboden. Sie entnahmen dabei in circa hundert einzelnen Bohrdurchläufen pro Bohrloch bis zu drei Meter lange, mit Sediment gefüllte Liner bis zu einer Gesamttiefe von 280 Metern. Nun liegen die Ergebnisse vor. Der Sedimentkörper unter dem heute trockenen, mit einer Salzkruste überzogenen Seeboden ist ein optimales Klimaarchiv, denn in diesem tiefen Becken haben sich über Jahrtausende kontinuierlich Materialien wie Sedimente, Pollen und die Überreste von Pflanzen und Tieren gesammelt. So gelang es, die Klimageschichte der vergangenen 620.000 Jahre zu rekonstruieren.
Löcher – Beim wissenschaftlichen Bohren geht es um die Gewinnung eines möglichst kontinuierlichen Bohrkerns. Um zu verhindern, dass an den Schnittstellen wichtige Informationen verloren gehen, werden mindestens zwei parallele Bohrkerne entnommen, in denen diese Übergänge zwischen den einzelnen Bohrdurchläufen überlappen. Bei einer entsprechend hohen Sedimentationsrate liefert die Kombination beider Kerne eine extrem hohe Auflösung, in der kontinuierlich durch die Jahrtausende sogar einzelne Jahrzehnte sichtbar werden.
Der Paläosee liegt zudem in unmittelbarer Nähe einer bekannten fossilen Fundstätte: Omo Kibish, wo einige der weltweit frühesten Überreste von Homo sapiens gefunden wurden. Mithilfe dieser Bohrkerne entstand ein präzises Bild der Trocken- und Feuchtphasen in der Region über den gesamten Untersuchungszeitraum. Denn trotz zahlreicher Fossilfunde von Hominiden – modernen Menschen und älteren Menschenarten – in Ostafrika waren die regionalen Umweltbedingungen während des Pleistozäns, der letzten Eiszeit, noch nicht ausreichend geklärt.
Pollen, Sedimente und alte DNA
Förster war die meiste Zeit für die Nachtschicht eingeteilt. Es ist Forschung mit echtem Körpereinsatz: nachts die Moskitos, tagsüber bei sengender Hitze in Zelten schlafen. Dennoch steht ihr die Begeisterung ins Gesicht geschrieben, wenn sie von ihrer Arbeit berichtet: »Eigentlich hatte ich auf Lehramt studiert, aber schon bei meiner ersten Bohrung als Studentin in Patagonien hat es mich gepackt und ich wusste, ich muss in der Wissenschaft bleiben.«
Die Expedition förderte insgesamt dreieinhalb Tonnen Seesedimente an die Oberfläche. Die Bohrkerne wurden danach licht- und luftdicht verpackt in das LacCore/CSDCO Institute in Minneapolis gebracht, das auf Sedimentkerne aus Paläoseen spezialisiert ist. 2015 reisten die Expert*innen aus aller Welt zur sogenannten »core opening party« an. »Das war aber alles andere als eine Party, sondern eine Menge Arbeit«, sagt Förster. Um das Material nicht zu verunreinigen, wurden die Bohrkerne unter streng sterilen Bedingungen und teilweise sogar in Dunkelheit geöffnet und beprobt. Die einzelnen Proben gingen dann in spezialisierte Labore: An der Universität Potsdam beispielsweise untersuchte ein Team im Sediment erhaltene DNA, an anderen Einrichtungen wurden fossile Überreste von Kieselalgen ausgewertet. Als Geographin interessiert Förster das Sediment – seine Korngrößen sowie die geochemische und mineralogische Zusammensetzung. Diese sogenannten Proxys können als zuverlässige Indikatoren für Klimabedingungen wie Trockenheit oder Temperatur dienen.
Nach jahrelanger akribischer Arbeit in den verschiedensten Disziplinen setzte sich aus den Einzelbefunden ein Gesamtbild zusammen. Im Oktober 2022 erschien die Hauptveröffentlichung zu der Forschungsexpedition.
Der moderne Mensch tritt auf den Plan
Die Forschenden identifizierten drei große Phasen, in denen jeweils unterschiedliche Klimaerscheinung die Bevölkerungsdynamiken der Menschen beeinflussten. In der ältesten Phase von vor 620.000 bis 275.000 Jahren herrschte ein relativ stabiles Klima mit wahrscheinlich günstigen Lebensbedingungen für die Hominiden-Gruppen, unterbrochen von einer Reihe kurzer, abrupter und extremer Trockenheitsschübe. In diesen Phasen verschwanden Landschaften mit großen, tiefen Seen und es war noch trockener als heute.
Zu dieser Zeit zeigte sich eine große Diversität in den frühen Populationen. Archaische Arten wie Homo erectus waren noch da, doch es entwickelten sich auch neue. Die Phasen des Klimastresses führten dazu, dass viele Populationen stark ausgedünnt und möglicherweise voneinander getrennt wurden. Später konnten sie jedoch dank sich wieder vergrößernder potentieller Habitate zusammenfinden.
Der biologische aber auch kulturelle Austausch, der nun einsetzte, könnte ein entscheidender Motor für Fortschritt gewesen sein. »Wir müssen bedenken, dass eine biologische Anpassung an neue Verhältnisse viele Tausende von Jahre benötigt. Einer Klimaveränderung über Jahrzehnte oder Jahrhunderte kann man nur durch Entscheidungen begegnen: die Lebensweise muss sich anpassen oder die Menschen wandern an einen wirtlicheren Ort ab«, sagt Förster. In der zweiten Phase von vor 275.000 bis 60.000 Jahren traten erhebliche Klimaschwankungen auf, die periodisch immer wieder zu Veränderungen der Lebensräume führten: von üppiger Vegetation mit tiefen Süßwasserseen zu sehr trockenen Landschaften, in denen Seen zu kleinen salzhaltigen Pfützen vertrockneten. Außerdem nahmen Klimaschwankungen zu.
Klimaschwankungen – Neben Klimaereignissen wie Vulkanausbrüchen, die Variabilität von Treibhausgasen oder möglichen Rückkopplungen mit der Vegetation beeinflusst die Position der Erde zur Sonne das Klima. Wichtig sind der Verlauf der Rotation, die Neigung der Erdachse sowie die sogenannte Präzession, eine Art Schlingern der Erdrotationsachse. Diese drei Parameter, die den Einfallswinkel und die Intensität der Sonneneinstrahlung – und damit das Klima – beeinflussen, kehren in festen Zyklen wieder. Diese spiegeln sich deutlich in den Befunden des Forschungsprojekts wider.
In dieser Phase tritt auch Homo sapiens auf den Plan, und während des Übergangs von der ersten zur zweiten Phase entwickelten die Menschen neue Technologien und spezialisierte Werkzeuge, etwa leichtere und filigranere Steinkeile. Funde belegen zudem, dass besonderes Material für Werkzeuge über lange Strecken transportiert wurde, was bedeutet, dass sich die Menschen wahrscheinlich über größere geographische Distanzen hinweg austauschten.
»Diese sozialen und technologischen Fortschritte deuten darauf hin, dass die Menschen ihre Handlungen besser planten und Probleme besser lösten«, sagt die Wissenschaftlerin. Ob das Klima zu diesen neuen Entwicklungen geführt hat oder sie eine Reaktion darauf waren, ist ein klassisches Henne-Ei-Problem. Förster: »Wir können keine Kausalitäten herstellen, aber durch unsere Daten konnten wir die menschlichen Entwicklungen in der Region erstmals mit den klimatischen Bedingungen direkt vergleichen.«
In der dritten Phase von etwa 60.000 bis 10.000 Jahren vor heute traten die extremsten Klimaschwankungen auf, darunter die trockenste Phase der gesamten Aufzeichnung. Diese Phase könnte den kulturellen Wandel der Bevölkerung beschleunigt haben. Ob sie ihre Abwanderung aus der immer unwirtlicheren Gegend nach Europa ausgelöst hat oder die kurzen Pulse von Feuchtphasen die Wanderung des Menschen entlang eines Korridors nach Europa überhaupt erst ermöglicht hat, ist nicht final geklärt.
Das Puzzle fügt sich zusammen
Vergleichbare Untersuchungen gibt es auch für Westafrika, etwa aus dem Bosumtwi-See in Ghana oder für Europa aus dem Ohrid- See zwischen Nord-Mazedonien und Albanien – dem ältesten See unseres Kontinents. Ein Vergleich der ostafrikanischen Daten mit den Befunden aus anderen Klimaarchiven und aus weiteren Studien ergibt ein größeres Bild für bestimmte Zeitabschnitte. Jeder Bohrkern ist wie ein weiteres Stück in einem Puzzle. »Eine Feuchtphase aus unseren Daten überlappt sich mit einer Feuchtphase in der Klimageschichte des östlichen Mittelmeerraums, die die Ausbreitung des Menschen nach Europa begünstigt haben könnte«, erklärt Förster. Denn nur während einer solchen Phase wäre es überhaupt möglich gewesen, die Sahara zu durchqueren.
Die Beziehung zwischen Klima und menschlicher Entwicklung zu verstehen – das ist für Förster auch angesichts der aktuellen Bedrohungen durch den Klimawandel wichtig. Gleichzeitig betont sie, dass das Klima ein komplexes System ist, das sich nicht nach einfachen Kausalitäten vorhersagen lässt. Es unterliegt kosmischen Zyklen ebenso wie unvorhergesehen Ereignissen. »Wenn am Nordpol ein großer Eisbrocken ins Meer stürzt, hat das auch Auswirkungen in den Tropen. Wir können diese Auswirkungen aber nicht genau vorhersagen.«
Dennoch werden die Daten aus dem Forschungsprojekt auch in Klimamodelle einfließen. »Wir haben vor einem Kipppunkt im Klimasystem häufig eine starke Beschleunigung des Klimaflackerns gesehen. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass ein solches Ereignis bevorsteht«, sagt die Geografin. In zukünftiger Forschung will sie sich deshalb einerseits mit extremer Trockenheit, andererseits mit Phasen befassen, in denen das Klima kippte, wie etwa am Ende der afrikanischen Feuchtphase. Gemeinsam mit Kolleg*innen will sie nach Hinweisen suchen, ob sich das System vorher noch einfangen und den Kipppunkt abwenden kann.
Bis sich Förster jedoch wieder in Kenia oder Äthiopien ins Feld stürzen kann, werden zunächst die Lehramtsstudierenden in Köln von der Forschungsexpedition profitieren. Einige waren in Äthiopien mit dabei, andere können nun in ihren Seminaren die gesammelten Materialien unter dem Mikroskop bestaunen oder erarbeiten, wie sich hochkomplexe Forschungsergebnisse auch didaktisch zugänglich machen lassen. Dabei erfahren sie, was ein Klimaproxy ist oder wie die Erdrotation das Klima beeinflusst. Förster ist überzeugt: »Es kann eine lebensverändernde Erfahrung sein, bei so einem Großprojekt mit dabei zu sein. Und ein spannenderes Thema als das Klima kann ich mir dabei kaum vorstellen.«
Die Forschung ist Teil des HOMININ SITES AND PALEOLAKES DRILLING PROJECT (HSPDP). Um die Auswirkungen unterschiedlicher Zeitskalen und Größenordnungen von Klimaveränderungen auf die Lebensbedingungen der frühen Menschen zu bewerten, wurden im Rahmen dieses Projekts aus fünf Seearchiven der Klimaveränderungen der letzten 3,5 Millionen Jahre Bohrkerne entnommen. Alle fünf Bohrlokationen in Kenia und Äthiopien befinden sich in unmittelbarer Nähe zu wichtigen paläoanthropologischen Fundstellen aus verschiedenen Stufen der menschlichen Evolution. Im Rahmen des HSPDP wurde das Projekt von dem International Continental Scientific Drilling Program (ICDP), der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), dem Natural Environment Research Council (NERC), der National Science Foundation (NSF) und dem DFG-Sonderforschungsbereich 806 »Our Way to Europe« gefördert. Der SFB 806 war von 2009 bis 2021 an den Universitäten Köln, Bonn und Aachen angesiedelt.