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Digitales Gericht

Wie kann Künstliche Intelligenz Strafprozesse unterstützen?

In den Gerichtssälen wird nach wie vor mit Papierakten und handschriftlichen Notizen gearbeitet. Jurist*innen der Uni Köln erforschen gemeinsam mit weiteren Partnern, wie Künstliche Intelligenz Strafprozesse unterstützen und digitaler machen kann.

Von Eva Schissler

Die wohl digitalisierteste Justiz der Welt hat der Stadtstaat Singapur. Herzstück ist dabei das einheitliche und lückenlose Online-Fallverwaltungssystem für alle Gerichtsbarkeiten und alle Beteiligten. Parteien, Anwält*innen, Behörden, Richter*innen und Sachverständige nutzen eine gemeinsame Plattform, auf der sie in Echtzeit miteinander kommunizieren und arbeiten können. Die Verteidigung kann jederzeit auf ihre Akten zugreifen, Termine für Anhörungen festlegen und an virtuellen Anhörungen teilnehmen.

Im Bereich der Erfassung und Nutzung von Daten diene das Vereinigte Königreich als Vorbild, sagt die Studie »The Future of Digital Justice« der Boston Consulting Group aus diesem Jahr. Die Einführung eines digitalen Fallmanagementsystems zur Erfassung von Leistungsdaten der Gerichte (zum Beispiel Fallzahlen und ‑dauer) führe zu einem besseren Verständnis der Bedürfnisse aller Beteiligten sowie einer Effizienzsteigerung in der Verwaltung. Das verkürzt inzwischen sogar die durchschnittliche Verfahrensdauer.
 

Die Justiz darf nicht abgehängt werden

Im Vergleich dazu steckt Deutschland noch im Papierzeitalter. In vielen Gerichten und Staatsanwaltschaften werden noch große Aktenberge durch die Flure geschoben. Doch der Gesetzgeber hat vorgegeben, dass bis zum Jahr 2026 die Akten in Rechtssachen elektronisch zu führen sind. Rechtsanwälte müssen ihre Schriftsätze bereits ab dem 1. Januar 2022 elektronisch einreichen.

Die Diskussion um »Cyberjustice« ist nicht auf Deutschland beschränkt. Auch in anderen EU-Ländern wird über Möglichkeiten diskutiert, wie die Justiz mithilfe digitaler Mittel leistungsfähiger werden kann. Die Europäische Kommission für die Effizienz der Justiz (CEPEJ) befasst sich etwa mit ethischen Fragen beim Einsatz Künstlicher Intelligenz im Gerichtssaal, mit der Einführung von Videokonferenzen bei Verfahren und mit der elektronischen Verfahrensakte in den Mitgliedsstaaten.

Cyberjustice – Cyberjustiz bezeichnet keine »Automatisierung« von Verfahren und Urteilen, sondern verschiedene Bemühungen, Technologie in das Justizsystem zu integrieren. Das soll das System einfacher zugänglich machen, die Kosten der Rechtspflege senken und die Belastung des Gerichtssystems verringern. Neben Aufzeichnung und Dokumentation kann Cyberjustiz auch virtuelle Zeugenaussagen oder sogar die holographische Präsentation von Beweismitteln umfassen.

Um die Potentiale digitaler Technik in Strafprozessen zu erforschen, eröffnete im September 2021 das Kölner Gerichtslabor. Ein Jahr lang erforschten Mitarbeiter*innen am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung von Professorin Dr. Dr. Frauke Rostalski sowie Studierende der Juristischen Fakultät eine audiovisuelle Aufzeichnungstechnik, die Strafprozesse in Zukunft effizienter und gerechter machen soll. Neben der Universität zu Köln ist der Deutsche EDV-Gerichtstag, der Kölner Anwaltverein e.V., das Landgericht und die von Markus Hartmann geleitete Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime NRW beteiligt. Die technische Infrastruktur wird von der Firma Fujitsu bereitgestellt. In Anbetracht einer Kriminalität, die immer mehr in den digitalen Raum abwandert, darf die Justiz nicht abgehängt werde, da sind sich Rostalski und Hartmann einig.

Inhaltsprotokoll – Fehlanzeige

In Deutschland laufen Strafprozesse nicht so ab, wie wir es aus amerikanischen Gerichtsdramen kennen: mit einem Protokollanten in der Ecke, der jedes Wort stenographiert und bei Bedarf noch einmal vorliest, was gerade gesagt wurde. Zwar gibt es ein Gerichtsprotokoll, doch darin werden regelmäßig keine Aussagen festgehalten. »Im Protokoll heißt es lediglich: Zeuge X bekundet zum Sachverhalt«, sagt Markus Hartmann. Es fällt den Prozessbeteiligten – Richter*innen, Staatsanwaltschaft und Verteidigung – zu, sich Notizen zum Inhalt einer Aussage zu machen.

»Die handschriftliche Dokumentation der Zeugenaussagen macht Urteile fehleranfälliger. Notizen können lückenhaft sein oder nach Monaten anders interpretiert werden«, sagt Maren Einnatz. Die Doktorandin ist im Team von Professorin Rostalski für das Gerichtslabor-Projekt verantwortlich und forscht auch im Rahmen ihrer Doktorarbeit zur Digitalisierung von Strafprozessen.

Zudem sei das System ungerecht: Wohlhabende Angeklagte können sich bei Straf- oder Wirtschaftsprozessen einen privaten Gerichtsprotokollanten leisten, um für sich und ihre Verteidigung alles festzuhalten – ein Luxus, den sich weniger Betuchte kaum leisten können.

Neben der Video- und Audioaufzeichnung erstellt die Gerichtslabor-Technik mithilfe einer Künstlichen Intelligenz (KI) ein schriftliches Protokoll mit genauer Uhrzeitangabe am Rand. So können Nutzer*innen im Nachhinein von einer bestimmten Textstelle direkt in die Aufzeichnung springen. Die Prozessbeteiligen können sich so voll und ganz auf die Vorgänge im Gerichtssaal konzentrieren, statt sich nebenbei noch Notizen zu machen. Mit dem Dokument, zu dem am Ende alle Beteiligten Zugang haben, könnten Urteile noch objektiver gefällt und begründet werden, so die Hoffnung.

Die ursprünglich genutzte Technik der Firma Fujitsu zieht nun an das Kölner Landgericht um. Nachdem sie Kölner Studierende auf Herz und Nieren geprüft haben, wird nun erprobt, ob sie sich auch bei echten Verhandlungen bewährt. Die Forschungsphase des Projekts ist damit abgeschlossen und wird zusätzlich in einer studentischen Masterarbeit evaluiert. Doch Jura-Studierenden wird das Gerichtslabor an der Uni auch in Zukunft mit einer anderen Technik zur Verfügung stehen.

Einwände ernst nehmen

Um flächendeckend eine audiovisuelle Aufzeichnung samt Schriftprotokoll in Deutschland einzuführen, müsste zunächst die Strafprozessordnung geändert werden. Einnatz und Hartmann sehen hier politischen Willen, denn das Potential der Prozessaufzeichnung ist kaum zu übersehen: die Beteiligten würden erheblich entlastet und die Arbeitseffizienz gesteigert. Dabei betont Hartmann: »Effizienz allein ist kein Kriterium für einen Strafprozess, sondern Gerechtigkeit.« Es gehe nicht darum, Prozesse abzukürzen, sondern mit geringerem Aufwand eine höhere Qualität zu erreichen.

Strafprozessordnung – Die StPO regelt alle Vorschriften für die Durchführung des Strafverfahrens in Deutschland. Neuerungen, besonders erhebliche Änderungen wie eine audiovisuelle Dokumentation, bedürfen einer Gesetzesänderung. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung ist vereinbart, eine Bild- und Tonaufzeichnung in Strafprozessen einzuführen. Das Bundesjustizministerium prüft bereits verschiedene Aufzeichnungsoptionen.

Hartmann hatte die Idee des Gerichtslabors schon früh mit Kolleg*innen aus unterschiedlichen juristischen Arbeitsbereichen diskutiert. »Besonders bei Anwälten war das Interesse aufgrund des zu erwartenden Beitrags zur Chancengleichheit und sozialen Gerechtigkeit hoch«, sagt er.

Doch es gibt auch Bedenken: etwa, wie man den Datenschutz garantiert. Hier sehen sowohl Hartmann als auch Einnatz keine Gefahr, wenn man ihn bei der Konzeption des Systems von Anfang an mitdenkt. Nur ein enger Kreis an Prozessbeteiligten hätte Zugriff auf das audiovisuelle Protokoll. In Spanien, wo die Technik bereits im Einsatz ist, ist sie nur an das justizinterne Netzwerk angebunden und kann daher nicht durch Cyberangriffe von außen angegriffen werden.

Professorin Rostalski und ihr Team erforschen im Rahmen der »Forschungsstelle Ethik und Recht der digitalen Transformation« die Auswirkungen einer zunehmend digitalisierten Arbeits- und Lebenswelt. Rostalski ist zudem Mitglied der Kompetenzplattform KI.NRW der Landesregierung. Dort leitet sie ein Forschungsprojekt zur Entwicklung eines Prüfkatalogs zur rechtlichen und ethischen Bewertung von Künstlicher Intelligenz.

Schwerer wiegt der Forscherin und dem Leitenden Oberstaatsanwalt zufolge der Einwand, dass sich das Verfahren selbst durch die Technik verändern könne. Zum Beispiel, dass Zeug*innen eingeschüchtert sind und sich zurückhaltender vor Gericht äußern. »Es ist auf jeden Fall ein Eingriff in das Persönlichkeitsrecht der Angeklagten und Zeug*innen«, sagt die Doktorandin. Sie vermutet dennoch, dass die meisten Menschen recht schnell ausblenden, dass da eine Aufzeichnung mitläuft. Mikrofone seien eh schon im Gerichtssaal vorhanden, nun kämen lediglich kleine Kameras an der Decke hinzu. »Der Stressfaktor ist die Gerichtssituation selbst. Daher bezweifle ich, dass die zusätzliche Technik das Aussageverhalten signifikant beeinflusst. Aber genau können wir das wohl erst nach weiteren Erfahrungen beurteilen.«

Der Mensch soll nicht ersetzt werden

Hartmann zufolge horchen auch Richter*innen bei der Aussicht auf, dass das lästige Protokollieren in Zukunft wegfallen könnte. Doch sie befürchteten, dass die höher stehenden Instanzen unter Druck geraten könnten. Was als Entlastung der Gerichte gedacht ist, könnte dann zu einer neuen Belastung werden: »Das Revisionsverfahren ist eine reine Rechtsfehlerüberprüfung. Das heißt, es wird lediglich noch einmal auf die Urteilsgründe geschaut«, sagt Einnatz. Zeugenaussagen dürfen hier nicht noch einmal überprüft werden.

Doch die Existenz eines vollständigen Protokolls könnte den Druck auf die Gerichte erhöhen, sich noch einmal mit den Zeugenaussagen aus der vorherigen Instanz zu beschäftigen. »Manche Richter befürchten, dass sich dann der Charakter des Revisionsverfahrens verändert«, sagt Hartmann. Er sieht hier eine Lösung in der klaren Regelung, in welcher Instanz welche Beweismittel betrachtet werden dürfen. So müssten nicht alle Sachverhalte immer wieder aufgerollt werden.

So sehr er eine Entlastung der Gerichte und eine Qualitätssteigerung ihrer Arbeit erwartet  –  Hartmann ist überzeugt, dass digitale Mittel und Künstliche Intelligenz immer nur ein Hilfsmittel sein können: »Wir wollen den Menschen auf keinen Fall ersetzen. In Deutschland gibt es weder einen ›Roboprosecutor‹ noch einen ›Robojudge‹ –  und das wird auch nicht so kommen.«

 

DAS KÖLNER GERICHTSLABOR trägt Erfahrungen zur audiovisuellen Dokumentation von Strafprozessen zusammen, um die Potentiale dieser Technik zur Unterstützung von Gerichtsverfahren zu erkunden. Die Idee geht auf einen Workshop im Rahmen des EDV-Gerichtstages 2019 zurück, der Ideen sammelte, wie die Justiz in Deutschland digitaler werden kann.

Studierende haben mit dem Gerichtslabor seit September 2021 die Möglichkeit, sich realitätsnah auf ihre spätere Berufspraxis vorzubereiten. Das begleitende Forschungsprojekt »Elektronischer (Straf-) Gerichtssaal der Zukunft« untersucht parallel die Chancen und Grenzen der dort erprobten neuen Methoden und identifiziert möglichen Reformbedarf in der Strafprozessordnung.

Die technische Lösung, Fujitsu ARCONTE, ist ein vor Ort eingerichtetes System zur Aufzeichnung, Speicherung, Verwaltung und Verteilung aller audiovisuellen Protokolle, die im Gerichtslabor entstehen.

Die am Gerichtslabor beteiligten Einrichtungen kommen für ihren jeweiligen Kostenbeitrag selbst auf. Die Kölner Universitätsstiftung unterstützt den Anteil der Universität mit 80.000 Euro im Rahmen der Förderung moderner Hochschullehre